Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Urt. v. 08.12.2011, Az.: 5 Sa 982/11
Überstundenzuschlag bei streikbedingtem Arbeitsausfall im öffentlichen Dienst
Bibliographie
- Gericht
- LAG Niedersachsen
- Datum
- 08.12.2011
- Aktenzeichen
- 5 Sa 982/11
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2011, 35412
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LAGNI:2011:1208.5SA982.11.0A
Verfahrensgang
- nachfolgend
- BAG - 14.05.2013 - AZ: 1 AZR 179/12
Rechtsgrundlagen
- Art. 9 Abs. 3 GG
- § 7 Abs. 7 TVöD
- § 8 Abs. 1a TVöD
Fundstelle
- ZTR 2012, 285-286
Amtlicher Leitsatz
Fällt die Arbeit aufgrund eines rechtmäßigen Streikes aus, dann werden für die Überstundenzuschläge nur die tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden jenseits der 39 Stundenwoche berücksichtigt. Dies folgt aus der Auslegung des § 7 Abs. 7 TVöD.
Tenor:
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Nienburg vom 19.05.2011 - 1 Ca 49/11 Ö - wird auf seine Kosten zurückgewiesen.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten um die Verpflichtung der Beklagten zur Zahlung eines Überstundenzuschlages nach § 8 Abs. 1 a TVöD.
Wegen des gesamten erstinstanzlichen Sach- und Streitstandes wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils, Bl. 2 - 4 desselben, Bl. 42 - 43 der Gerichtsakte, verwiesen.
Mit Urteil vom 19.05.2011 hat das Arbeitsgericht Nienburg die Klage abgewiesen und einen Anspruch des Klägers auf Zahlung eines Überstundenzuschlages für 8,5 Stunden verneint. Es hat gemäß § 64 Abs. 3 Nr. 2 b ArbGG die Berufung zugelassen. Wegen der genauen Einzelheiten der rechtlichen Würdigung wird auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils, Bl. 4 - 9 desselben, Bl. 43 - 46 der Gerichtsakte, verwiesen.
Dieses Urteil ist dem Kläger am 07.06.2011 zugestellt worden. Mit einem am 06.07.2011 eingegangenen Schriftsatz hat er hiergegen Berufung eingelegt und diese mit einem am 08.09.2011 eingegangenen Schriftsatz begründet, nachdem zuvor das Landesarbeitsgericht mit Beschluss vom 19.07.2011 die Rechtsmittelbegründungsfrist entsprechend verlängert hatte.
Mit seiner Berufung verfolgt er sein erstinstanzliches Klageziel weiter. Er wiederholt und vertieft sein erstinstanzliches Vorbringen. Er meint, das angefochtene Urteil habe die Tragweite und die Folgen der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zu dem Problemkreis der Teilnahme an einem rechtmäßigen Warnstreik verkannt. Aus dieser Rechtsprechung folge, dass die gegenseitigen Hauptpflichten aus dem Arbeitsverhältnis aufgehoben seien und für die Erbringung von Arbeitsleistungen im geschuldeten wöchentlichen/monatlichen Umfang als Hauptleistungspflicht des Arbeitnehmers zur Folge habe, dass sie sich um die Zeit der Streikteilnahme verkürze. Deshalb sei die wöchentliche Arbeitszeit im Sinne des§ 6 Abs. 1 TVöD um die Dauer einer rechtmäßigen Streikteilnahme zu reduzieren und die Leistung von Überstunden nach diesem reduzierten Arbeitssoll zu ermitteln.
Den in der Berufungserwiderung geltend gemachten Einwand zur Höhe der Klagforderung akzeptiert er als richtig.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Arbeitsgerichts Nienburg vom 19.05.2011 - Az: 1 CA 49/11 Ö - abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, an ihn 32,22€ brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01. März 2011 zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält weiterhin an ihrer Rechtsauffassung fest, nach der eine Reduzierung der wöchentlichen Sollarbeitszeit wegen Streiks nicht im TVöD vorgesehen sei und Überstunden nur dann vorlägen, wenn die wöchentliche Arbeitszeit von 39 Stunden überschritten werde.
Wegen weiterer Einzelheiten des Vorbringens der Parteien in der Berufung wird auf ihre Schriftsätze vom 08.09. und 09.11.2011 sowie auf das Sitzungsprotokoll vom 08.12.2011 verwiesen.
Entscheidungsgründe
A. Die Berufung ist zulässig. Sie ist statthaft sowie form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 64, 66 ArbGG und 519, 520 ZPO). Wegen der gewährten Fristverlängerung hat der Kläger die Berufungsbegründungsfrist eingehalten. An die Zulassung der Berufung durch das Arbeitsgericht ist das Landesarbeitsgericht gemäß § 64 Abs. 4 ArbGG gebunden.
B. Die Berufung ist nicht begründet. Zu Recht und mit zutreffender Begründung hat das Arbeitsgericht Nienburg die Klage auf Zahlung eines Überstundenzuschlages nach § 8 Abs. 1 a TVöD für 8,5 Arbeitsstunden abgewiesen. Die Voraussetzungen der Zahlung eines Überstundenzuschlages sind nicht gegeben. Denn der Kläger hat im streitgegenständlich geltend gemachten Zeitraum keine Überstunde im Sinne des § 7 Abs. 7 TVöD geleistet. Seine wöchentliche Arbeitszeit hat in diesem Zeitraum die im Dienstplan des Baubetriebshofes vorgesehene wöchentliche Arbeitszeit von 39 Stunden nur geringfügig in einem Ausmaß überschritten, das die Beklagte ausgeglichen hat. Bei der Bemessung dieser Arbeitszeit kommt es allein auf die tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden an. Die am 08.02.2010 aufgrund des rechtmäßigen Warnstreikes ausgefallenen Arbeitsstunden zählen nicht hierzu.
Dies ist das Ergebnis der Auslegung des § 7 Abs. 7 TVöD.
1. Nach ständiger und allgemein anerkannter Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts folgt die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrages den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Danach ist zunächst vom Tarifwortlaut auszugehen, wobei der maßgebliche Sinn der Erklärung zu erforschen ist, ohne am Buchstaben zu haften. Bei nicht eindeutigem Wortlaut ist der wirkliche Wille der Tarifvertragspartei mitzuberücksichtigen, soweit er in den tariflichen Normen seinen Niederschlag gefunden hat. Abzustellen ist ferner auf den tariflichen Gesamtzusammenhang, weil dieser Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefert und nur so der Sinn und der Zweck der Tarifnorm zutreffend ermittelt werden kann. Lässt dies zweifelsfreie Auslegungsergebnis nicht zu, dann können die Gerichte für Arbeitssachen ohne Bindung an eine Reihenfolge weitere Kriterien, wie die Entstehungsgeschichte des Tarifvertrages, gegebenenfalls auch die praktische Tarifübung ergänzend heranziehen. Auch die Praktikabilität denkbarer Auslegungsergebnisse gilt es zu berücksichtigen; im Zweifel gebührt derjenigen Tarifauslegung der Vorzug, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung führt (BAG, Urteil vom 21.08.2003, Az.: 8 AZR 430/02 - AP Nr. 185 zu § 1 TVG Tarifverträge Metallindustrie; BAG, Urteil vom 22.10.2003, Az.: 10 AZR 152/03 - BAGE 108, 176 - 184; BAG, Urteil vom 24.10.2007, Az.: 10 AZR 878/06 - juris).
2. Unter Berücksichtigung vorstehender Rechtsgrundsätze werden nur Stunden, die tatsächlich geleistet worden sind, bei der Feststellung von Überstunden gemäß § 7 Abs. 7 TVöD berücksichtigt.
a) Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut der Tarifnorm. Ausdrücklich bestimmt § 7 Abs. 7 TVöD, dass Überstunden die auf Anordnung des Arbeitgebers geleisteten Arbeitsstunden sind. Der Begriff "Arbeit leisten" wird ebenso wie der Begriff "arbeiten" ausschließlich für das aktive Tun verwandt (BAG, Urteil vom 07.07.2004, Az: 4 AZR 433/03 - NZA-RR 2005, 34 - 37; BAG, Urteil vom 11.06.2008, Az: 5 AZR 389/07 - BB 2008, 1785; BAG, Urteil vom 27.08.2008, Az: 5 AZR 674/07 - NZA 2009, 280 [BAG 27.08.2008 - 5 AZR 647/07]). Die streikbedingten Ausfallzeiten zählen nicht hierzu. Wer streikt, der arbeitet nicht.
b) Diese Auslegung entspricht auch dem Zweck der Norm. Bereits im Allgemeinen sollen Mehrarbeitszuschläge in der Regel besondere Belastungen abdecken, die für Zeiten, in denen tatsächlich nicht geleistet wird, nicht auftreten. Eine grundsätzlich zu vermeidende besondere Arbeitsbelastung soll durch ein zusätzliches Entgelt ausgeglichen werden (BAG, Urteil vom 27.08.2008 aaO.).
Dieser allgemeine mit Mehrarbeitszuschlägen verbundende Zweck kommt auch in der Systematik der anzuwendenden tarifvertraglichen Regelung in besonderer Weise zum Ausdruck: § 7 Abs. 6 TVöD normiert den Begriff der Mehrarbeit als Arbeitsstunden, die Teilzeitbeschäftigte über die vereinbarte regelmäßige Arbeitszeit hinaus bis zur regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von Vollzeitbeschäftigten (§ 6 Abs. 1 Satz 1) leisten. Dem gegenüber definiert § 7 Abs. 7 den Begriff der Überstunden, welche allein gemäß § 8 Abs. 1 a TVöD mit Überstundenzuschlägen versehen werden. Wenn also Teilzeitbeschäftigte Mehrarbeit leisten, dabei nicht die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit für Vollzeitbeschäftigte überschreiten und dafür nach der klaren und eindeutigen Konzeption des Tarifvertrages keinen Zuschlag erhalten, sondern lediglich die reguläre Vergütung der geleisteten Mehrarbeit, dann greift die klare und eindeutige Systematik des Tarifvertrages den allgemein im Arbeitsrecht geltenden Sinn und Zweck von Mehrarbeits/Überstunden-zuschlägen in besonderer Weise auf. Der Tarifvertrag lässt an dieser Stelle eindeutig erkennen, dass zusätzliche Arbeitszeiten, die nicht über eine 39 Stundenwoche hinaus gehen, nicht mit Zuschlägen versehen werden sollten.
c) Für diese Auslegung spricht auch die Tarifgeschichte, insbesondere der Vergleich zu der Vorgängerregelung des § 17 BAT.
Diese Regelung lautet auszugsweise:
"...
§ 17 Überstunden
(1) Überstunden sind die auf Anordnung geleisteten Arbeitsstunden, die über die im Rahmen der regelmäßigen Arbeitszeit (§ 15 Abs. 1 - 4 und die entsprechenden Sonderregelungen hierzu) für die Woche dienstplanmäßig bzw. betriebsüblich festgesetzten Arbeitsstunden hinausgehen.
...
(3) Bei der Überstundenberechnung sind für jeden im Berechnungszeitraum liegenden Urlaubstag, Krankheitstag sowie für jeden sonstigen Tag einschließlich eines Wochenfeiertages, an dem der Angestellte von der Arbeit freigestellt war, die Stunden mitzuzählen, die der Angestellte ohne diese Ausfallgründe innerhalb der regelmäßigen Arbeitszeit dienstplanmäßig bzw. betriebsüblich geleistet hätte. Vor- oder nach geleistete Arbeitsstunden bleiben unberücksichtigt.
..."
Diese in § 17 Abs. 3 BAT enthaltene Sonderregel, wonach auch nicht tatsächlich geleistete Arbeitsstunden, die infolge bestimmter enumerativ aufgezählter Umstände nicht geleistet wurden und die zu einer Erweiterung des Anspruchs auf die Zahlung eines Überstundenzuschlages führte (BAG, Urteil vom 07.07.2004 aaO.), ist von den Tarifvertragsparteien bewusst nicht in den TVöD übernommen worden. Dies zeigt, dass Stunden ohne tatsächlich erbrachte Arbeitsleistung nicht als "geleistete" Arbeitsstunden im Sinne des § 7 Abs. 7 TVöD verstanden werden sollten. Dies gilt selbst in solchen Fällen, in denen besondere Gründe eine entsprechende Bewertung als geleistete Arbeitsstunden als gerecht und angemessen erscheinen ließen (beispielsweise bei krankheitsbedingtem Arbeitsausfall, so die Vorgängerregelung des § 17 Abs. 3 BAT).
d) In einer abschließenden Gesamtschau ist die Auslegung der streitgegenständlichen tarifvertraglichen Vorschrift eindeutig. Nur tatsächlich geleistete Arbeitszeiten innerhalb einer bestimmten Kalenderwoche, die die dienstplanmäßig angeordneten Arbeitszeiten eines vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmers übersteigen (regelmäßig 39 Wochenstunden) zählen als Überstunde und sind mithin im Sinne des § 8 Abs. 1 a TVöD zuschlagspflichtig.
3. Ein solches Auslegungsergebnis entspricht vollumfänglich der Rechtsordnung und verstößt nicht gegen höherrangiges Recht, insbesondere gegen den aus Art. 9 Abs. 3 GG abgeleiteten Grundsatz der Kampfparität. Denn die Kampfparität betrifft das Verhältnis der Tarifvertragsparteien zueinander. Sie dürfen als gleichberechtigte und von der Grundkonzeption her gleich mächtige Verhandlungspartner die Rechtsfolgen bestimmen, wie sich ausgefallene Arbeitstage auf das Gehalt der Arbeitnehmer auswirken sollen. Haben sich die Tarifvertragsvertragsparteien selbst auf eine bestimmte Lösung geeinigt, dann kann eine Disparität in Form eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Kampfparität nicht angenommen werden. Schließlich haben Tarifverträge eine Richtigkeitsgewähr für die in ihnen getroffenen materiellen Vereinbarungen (BAG, Urteil vom 02.11.1993, AZ: 1 AZR 472/93 - Juris).
4. Auch die vom Kläger herangezogene Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts (vom 26.07.2005, Az: 1 AZR 133/04 - NZA 2005, 1402, 1404) enthält zur Entscheidung des vorliegenden Falles keine relevanten Ausführungen. Denn diese Entscheidung befasst sich mit den Auswirkungen eines streikbedingten Arbeitsausfalls auf eine Gleitzeitregelung, die aufgrund eines innerbetrieblichen Zeiterfassungssystemes geführt und erfasst wird. Die in dieser Entscheidung enthaltenen Rechtssätze des BAG, denen zufolge die vertragliche Sollarbeitszeit des Arbeitnehmers vermindert wird, befassen sich erkennbar nicht mit der Problematik einer durch Auslegung ermittelten klaren Anordnung der Überstundenregelung eines Tarifvertrages. Erst recht ist dieser vom Kläger zitierten Entscheidung nicht zu entnehmen, von den Rechtsgrundsätzen der zuvor unter 3. zitierten BAG-Entscheidung abweichen zu wollen, denen zufolge die Tarifvertragsparteien die Rechtsfolgen eines streikbedingten Arbeitsausfalls regeln dürfen.
C. Der Kläger hat als unterlegene Partei gemäß § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten seiner erfolglosen Berufung zu tragen. Gemäß § 72 Abs. 2 ArbGG war die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung zum Bundesarbeitsgericht zuzulassen.