Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 10.03.2011, Az.: 5 TaBV 96/10
Listensprung als Folge des Schutzes des Minderheitengeschlechts ist bei Feststellung von dessen nachträglicher Entbehrlichkeit wegen Nichtannahme der Wahl eines Kandidaten zurückzunehmen; Rücknahme des Listensprungs als Folge des Schutzes des Minderheitengeschlechts bei Feststellung von dessen nachträglicher Entbehrlichkeit wegen Nichtannahme der Wahl eines Kandidaten; Schutz des Minderheitengeschlechts bei Betriebsratswahl; Abweichung von dem Grundsatz der formalen Wahlrechtsgleichheit
Bibliographie
- Gericht
- LAG Niedersachsen
- Datum
- 10.03.2011
- Aktenzeichen
- 5 TaBV 96/10
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2011, 15068
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LAGNI:2011:0310.5TABV96.10.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- ArbG Göttingen - 19.10.2010 - AZ: 2 BV 2/10
Rechtsgrundlagen
- § 15 Abs. 2 BetrVG
- § 15 Abs. 5 Nr. 2 S. 1 BetrVG
- Art. 3 Abs. 2 GG
- Art. 20 Abs. 3 GG
- Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG
- Art. 38 Abs. 1 GG
- § 19 Abs. 1 BetrVG
- § 15 Abs. 4 WO BetrVG
- § 17 Abs. 2 S. 2 WO BetrVG
- § 18 WO BetrVG
Fundstellen
- AiB 2011, 547-549
- AiB 2013, 651
- NZA 2012, 351
- NZA-RR 2011, 465-467
Amtlicher Leitsatz
Führt der Schutz des Minderheitengeschlechts zu einem sogenannten Listensprung, dann muss dieser rückgängig gemacht werden, wenn sich durch die Nichtannahme der Wahl eines Kandidaten herausstellt, dass es eines Listensprungs nicht bedurft hätte. Dies gebietet der auch bei einer Betriebsratswahl zu beachtende Grundsatz der Wahlgleichheit.
Redaktioneller Leitsatz
1. Die verfassungskonforme Auslegung des § 17 Abs. 2 Satz 2 WO BetrVG gebietet es, nicht nur erstmalig aufgrund der Nichtannahme der Wahl das Minderheitengeschlecht zu berücksichtigen sondern einen bereits zuvor erfolgten Schutz des Minderheitengeschlechts rückgängig zu machen, wenn sich einerseits durch die Nichtannahme der Wahl herausstellt, dass nunmehr dem Schutz des Minderheitengeschlechts genüge getan worden ist, und andererseits diese Konstellation zuvor einen "Listensprung" verursacht hat.
2. Die einen legitimen Zweck verfolgende Abweichung von dem Grundsatz der formalen Wahlrechtsgleichheit darf das zur Erreichung dieses Zwecks Erforderliche nicht überschreiten; ihr erlaubtes Ausmaß richtet sich insbesondere danach, auf welcher Stufe des Wahlverfahrens mit welcher Intensität in das Wahlrecht eingegriffen wird.
3. Der schwerwiegende Eingriff in den Grundsatz der Wahlgleichheit, der zu einem Listensprung führt, ist nur dann gerechtfertigt, wenn er tatsächlich zur Beseitigung der fehlenden Berücksichtigung eines Geschlechterproporzes führt; stellt sich vor Abschluss des Wahlverfahrens gemäß § 18 WO BetrVG heraus, dass aufgrund der Ablehnung einer Wahl eine Fallkonstellation eintritt, die im Nachhinein den Geschlechterproporz wahrt und einen Listensprung zur Erreichung des Geschlechterproporzes überflüssig macht, muss in verfassungskonformer Auslegung der Wahlordnung dieser Listensprung rückgängig gemacht werden.
Tenor:
Die Beschwerde des Beteiligten zu 6) gegen den Beschluss des Arbeitsgerichts Göttingen vom 19.10.2010 - 2 BV 2/10 - wird zurückgewiesen.
Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen.
Gründe
I. Die Beteiligten streiten darum, ob anstelle des Beteiligten zu 7) die Beteiligte zu 5) in den Betriebsrat gewählt worden ist.
Die Beteiligten zu 1) bis 5) und der Beteiligte zu 7) sind Arbeitnehmer im Betrieb der Beteiligten zu 8) in C-Stadt. Die Beteiligten zu 1) bis 4) sowie der Beteiligte zu 7) sind zu- dem Mitglieder des Betriebsrates, dem Beteiligten zu 6).
Am 20./21.04.2010 fand die Betriebsratswahl für das Jahr 2010 im Betrieb der Beteiligten zu 8) statt.
Bei dieser Wahl war ein aus 9 Personen bestehendes Betriebsratsgremium zu wählen. Es standen 3 Listen zur Abstimmung. Die Liste 1) (ver.di-Liste) erhielt 99 Stimmen. Auf ihr befanden sich auf den ersten 5 Listenplätzen Frauen. Auf dem 6. Listenplatz erschien der erste männliche Bewerber, der Beteiligte zu 7). Die Liste 2) erhielt 78 Stimmen. Die ersten 3 Kandidaten dieser Liste waren Frauen. Erst der 4. Kandidat war ein männlicher Bewerber. Die Liste 3) erhielt 41 Stimmen. Auf dem ersten Listenplatz kandidierte ein männlicher Bewerber. Der zweite Platz dieser Liste war mit einer Frau besetzt, der Beteiligten zu 5). Ohne Berücksichtigung des Minderheitengeschlechts wären von Liste 1) 4 Kandidaten, von der Liste 2) 3 Kandidaten und von der Liste 3) beide Kandidaten, also auch die Beteiligte zu 5), gewählt worden.
Da in dieser Konstellation nicht die erforderliche Mindestzahl von Angehörigen des - im vorliegenden Fall männlichen - Geschlechts in das Betriebsratsgremium gewählt worden war, stellte der Wahlvorstand einen sogenannten Listensprung fest. Die Mindestzahl der zu wählenden männlichen Kandidaten (des Minderheitengeschlechts) beträgt im vorliegenden Fall 2. Dies führte dazu, dass die Liste 1) in der Person des Beteiligten zu 7) von der Liste 3) ein weiteres Betriebsratsmandat zuerkannt bekam.
Auf die Benachrichtigung ihrer Wahl teilte die an 3. Stelle der Liste 2) kandidierende Frau B. mit Schreiben vom 26.04.2010 dem Wahlvorstand mit, dass sie die Wahl aus persönlichen Gründen nicht annehme.
Nach einer außerordentlichen Sitzung des Wahlvorstandes am 29.04.2010 gab dieser noch am selben Tag das Wahlergebnis bekannt. Hiernach waren von der Liste 1), der ver.di-Liste, 5 Personen (Frau B., Frau B., Frau S, Frau H. und der Beteiligte zu 7) gewählt. Die Liste 2) erhielt nach der Bekanntmachung 3 Sitze, nämlich die Beteiligte zu 1), die Beteiligte zu 3) und den Beteiligten zu 4) als männliches Betriebsratsmitglied an ursprünglich 4. Stelle der Liste 2). Die Liste 3) erhielt in der Person des Beteiligten zu 2) lediglich einen Betriebsratssitz.
Mit einem am 11.05.2010 beim Arbeitsgericht eingegangen Antrag haben die Beteiligten zu 1) bis 5) die Betriebsratswahl angefochten. Sie haben u. a. - soweit für das Beschwerdeverfahren von Bedeutung - die Auffassung vertreten, die Wahl sei deshalb anfechtbar, weil der Beteiligte zu 7) und nicht die Beteiligte zu 5) vom Wahlvorstand als Betriebsratsmitglied benannt worden sei. Der Wahlvorstand habe zu Unrecht einen Listensprung und die Wahl des Beteiligten zu 7) festgestellt.
Die Beteiligten zu 1) bis 5) haben beantragt,
1) Die Betriebsratswahl vom 20./21.04.2010 für unwirksam zu erklären,
2) hilfsweise festzustellen, dass anstelle des Beteiligten zu 7 die Beteiligte zu 5) in dem Betriebsrat gewählt worden ist.
Der Beteiligte zu 6) hat beantragt,
die Anträge zurückzuweisen.
Die Beteiligten zu 7) und 8) haben keine Anträge gestellt.
Mit Beschluss vom 19.10.2010 hat das Arbeitsgericht Göttingen den Hauptantrag zurückgewiesen und auf den Hilfsantrag festgestellt, dass anstelle des Beteiligten zu 7) die Beteiligte zu 5) in den Betriebsrat gewählt worden ist. Wegen der genauen Einzelheiten der rechtlichen Würdigung sowie des gesamten erstinstanzlichen Sach- und Streitstandes im Übrigen wird auf die Gründe des angefochtenen Beschlusses (Bl. 123 bis 129 der Gerichtsakte) verwiesen.
Dieser Beschluss ist dem Beteiligten zu 6) am 01.11.2010 zugestellt worden. Mit einem am 29.11.2010 beim Landesarbeitsgericht eingegangenen Schriftsatz hat er Beschwerde eingelegt und diese mit einem 22.12.2010 eingegangenen Schriftsatz begründet. Soweit die Beteiligten zu 1) bis 5) mit ihrem Hauptantrag vor dem Arbeitsgericht Göttingen in 1. Instanz unterlegen gewesen sind, richtet sich hiergegen seine Beschwerde nicht.
Er wendet sich mit seiner Beschwerde gegen die Stattgabe des Hilfsantrages und wiederholt und vertieft sein erstinstanzliches Vorbringen diesbezüglich. Der angefochtene Beschluss habe die verbindliche zeitliche Reihenfolge der vom Wahlvorstand durchzuführenden und zu beachtenden Schritte verkannt. Die Verteilung der Betriebsratssitze auf die Vorschlagsliste sowie die Entscheidung, wie zu verfahren sei, wenn eine gewählte Person die Wahl ablehnt und dies Bezug auf das Minderheitengeschlecht habe, sei in der Wahlordnung zur Durchführung des Betriebsverfassungsgesetzes vom 11. Dezember 2001 verbindlich geregelt. Der Wahlvorstand habe diese Wahlordnung wortgetreu angewendet. Insbesondere sei auch ein sogenannter Listensprung verfassungsgemäß, um die im Betriebsverfassungsgesetz und der Wahlordnung festgelegte Mindestquote zum Schutz des Geschlechts, das sich im Betrieb in der Minderheit befindet, durchzusetzen. Der Beteiligte zu 7) sei zu Recht in den Betriebsrat gewählt worden. Eine Korrektur dieses Wahlergebnisses in dem vom Arbeitsgericht gesehenen Sinne komme nicht in Betracht.
Er beantragt,
den Beschluss des Arbeitsgerichts vom 19.10.2010, AZ: 2 BV 2/10 abzuändern und die Anträge zurückzuweisen.
Die Beteiligten zu 1) bis 5) beantragen,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Sie vertreten die Auffassung, aufgrund der Nichtannahme der gewählten Kandidatin Frau B. sei der Geschlechterproporz auch gewahrt, ohne dass es eines Listensprunges bedurft hätte. Dieser Listensprung hätte als Eingriff in allgemeine Wahlrechtsgrundsätze rückgängig gemacht werden müssen.
Wegen weiterer Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten in der Beschwerde wird auf ihre Schriftsätze vom 21.12.2010 und 10.02.2011 verwiesen.
II. A. Die Beschwerde ist zulässig. Sie ist statthaft sowie form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 87 Abs. 2, 64, 66 ArbGG und 519, 520 ZPO).
Die Beteiligte zu 5) ist unproblematisch beteiligtenfähig. Es kommt nicht darauf an, ob sie erst aufgrund des Wahlanfechtungsverfahrens eine betriebsverfassungsrechtliche Stellung erhalten möchte, sie gehört jedenfalls zu dem anfechtungsberechtigten Personenkreis des § 19 Abs. 2 BetrVG (mindestens 3 Wahlberechtigte), wobei der im Beschwerdeverfahren angefallene Streitgegenstand der Zusammensetzung des Betriebsrats nur ein Ausschnitt und Unterfall der allgemeinen Wahlanfechtung ist und auf § 19 BetrVG beruht.
B. Die Beschwerde ist unbegründet. Zu Recht und mit zutreffender Begründung hat der angefochtene Beschluss dem Hilfsantrag stattgegeben.
1. Der Hilfsantrag ist zulässig. Nach § 19 Abs. 1 BetrVG ist nicht nur die Anfechtung der Betriebsratswahl insgesamt zulässig, sondern auch eine auf Berichtigung des Wahlergebnisses gerichtete Teilanfechtung, sofern der geltend gemachte Anfechtungsgrund auf den angefochtenen Teil beschränkt ist und das Wahlergebnis darüber hinaus nicht beeinflussen kann. Eine derartige Teilanfechtung kommt insbesondere dann in Betracht, wenn nur die fehlerhafte Verteilung der Sitze auf die Vorschlagslisten gerügt wird und somit durch die Korrektur lediglich der wahren Wählerentscheidung Geltung verschafft werden soll (BAG, Beschluss vom 16.03.2005, AZ: 7 ABR 40/04 - NZA 2005, 1252 ff.). Das Beschwerdegericht wiederholt insoweit die uneingeschränkt zutreffenden Rechtsausführungen des angefochtenen Beschlusses.
2. Der Hilfsantrag ist auch begründet. Das von dem Wahlvorstand in der Sitzung am 29.04.2010 ermittelte Wahlergebnis war fehlerhaft. Denn anstelle des Beteiligten zu 7) ist die Beteiligte zu 5) in den Betriebsrat gewählt worden. Aufgrund der Nichtannahme der Wahl durch die gewählte Kandidatin Frau B. hätte es eines Listensprunges nicht mehr bedurft. Aus verfassungsrechtlichen Gründen, dem Wahlgleichheitsgrundsatz, hätte dieser Listensprung durch den Wahlvorstand rückgängig gemacht und korrigiert werden müssen. Da dieses vor Ort durch den Wahlvorstand in C-Stadt unterblieben ist, wird dieses Versäumnis durch die Arbeitsgerichtsbarkeit ausgeglichen. Im Einzelnen:
2.1. Der Ausgangspunkt der Beschwerdebegründung ist unzweifelhaft zutreffend: Der Wahlvorstand hat entsprechend dem Wortlaut der verschiedenen Vorschriften der Wahlordnung gehandelt und diese buchstabengetreu nacheinander in der dort vorgesehenen Reihenfolge beachtet. Er hat zunächst die Verteilung der Betriebsratssitze auf die Vorschlagslisten gemäß § 15 Wahlordnung ermittelt, hierbei einen Listensprung festgestellt, so dann gemäß § 17 Wahlordnung die schriftliche Feststellung des Wahlergebnisses getätigt, anschließend gemäß § 17 Wahlordnung die gewählten Kandidaten benachrichtigt und die Ablehnung der Wahl gemäß § 17 Abs. 2 Wahlordnung umgesetzt.
2.2. Dieses so ermittelte Ergebnis ist mit dem geltenden Verfassungsrecht nicht in Einklang zu bringen. Die verfassungskonforme Auslegung des § 17 Abs. 2 Satz 2 der Wahlordnung gebietet es, nicht nur erstmalig aufgrund der Nichtannahme der Wahl das Minderheitengeschlecht zu berücksichtigen, sondern einen bereits zuvor erfolgten Schutz des Minderheitengeschlechts rückgängig zu machen, wenn einerseits sich durch die Nichtannahme der Wahl herausstellt, dass aufgrund dessen dem Schutz des Minderheitengeschlechts genüge getan worden ist und andererseits diese Konstellation zuvor einen sogenannten Listensprung verursacht hat.
a. Der Wahlgleichheitsgrundsatz gilt nicht nur für das Bundestagswahlrecht und für das Wahlrecht in den Ländern, Kreisen und Gemeinden (Artikel 28 Abs. 1 Satz 2, Artikel 38 Abs. 1 GG), sondern als ungeschriebenes Verfassungsrecht auch für sonstige politische Abstimmungen (Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 23.03.1982, AZ: 2 BVL 1/81 - BVErfGE 60, 126). Hierbei lässt sich die von der grundsätzlichen Gleichheit aller Staatsbürger geprägte formale Wahlrechtsgleichheit Differenzierungen nur zu, wenn sie durch einen besonders zwingenden Grund gerechtfertigt sind. Das erfordert allerdings nicht, dass sich die vorgenommenen Differenzierungen von Verfassungs wegen als zwangsläufig oder notwendig darstellen müssen. Es reicht vielmehr aus, dass die für die Differenzierung maßgeblichen Gründe durch die Verfassung legitimiert und von einem Gewicht sind, dass die Wahlrechtsgleichheit die Waage halten kann. Der Grundsatz der Wahlgleichheit findet auch auf Betriebsratswahlen Anwendung (BAG, Beschluss vom 16.03.2005, AZ: 7 ABR 40/04 - NZA 2005, 1252 ff.).
b. Nach dieser bereits zitierten Rechtsprechung ist der in § 15 Abs. 2 BetrVG vorgesehene Geschlechterproportz in der durch § 15 Abs. 5 Nr. 2 Satz 1 Wahlordnung festgehaltenen näheren Ausgestaltung wirksam. Er greift auch nicht unverhältnismäßig in den Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit ein. Dieser Grundsatz, der als ungeschriebenes Verfassungsrecht auch für Betriebsratswahlen gilt, zielt darauf ab, es jedem Wähler zu ermöglichen, sein aktives und passives Wahlrecht in formal gleicher Weise ausüben zu können. Ist Verhältniswahl angeordnet, führt die Formalisierung der Wahlrechtsgleichheit dazu, dass nicht nur der gleiche Zählwert, sondern grundsätzlich auch der gleiche Erfolgswert jeder Wählerstimme gewährleistet sein muss (BAG, Beschluss vom 16.03.2005, aaO. m.w.N.).
c. Die Einschränkungen des formalen Wahlrechtsgleichheitsgrundsatzes sind im Hinblick auf die Funktion und die Aufgaben des Betriebsrates gerechtfertigt, da sie der Verwirklichung des Gleichberechtigungsgebotes des Artikels 3 Abs. 2 GG dienen. §§ 15 Abs. 2 BetrVG, 15 Abs. 5 Nr. 2 Satz 1 Wahlordnung dienen der tatsächlichen Durchsetzung der Gleichstellung von Frauen und Männern im Hinblick darauf, dass Frauen im Betriebsrat regelmäßig unterrepräsentiert sind. Durch die Mindestquote soll eine stärkere Repräsentanz der Frauen dort gewährleistet werden, wo sie in den Betrieben in der Minderheit sind. Diese Regelung ist aus Sicht des Gesetzgebers geboten, weil der Betriebsrat mit den beruflichen Problemen von Frauen unmittelbar konfrontiert ist und er deshalb eine Schlüsselposition bei der Beseitigung von Nachteilen und der Durchsetzung der Gleichstellung von Frauen und Männern einnimmt. Diese zuvor genannten Gründe rechtfertigen auch einen Listensprung. Durch ihn wird nicht unverhältnismäßig in den Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit eingegriffen. Das in § 15 Abs. 5 Nr. 1 und 2 Wahlordnung geregelte Verfahren ist geeignet und erforderlich, um die durch Artikel 3 Abs. 2 GG legitimierte Zielvorstellung des Gesetzgebers zu verwirklichen, nach der die Mindestquote für das Geschlecht in der Minderheit in § 15 Abs. 2 BetrVG zur Förderung der Gleichstellung und von Männern und Frauen tatsächlich durchgesetzt werden soll. Es gibt kein milderes, gleich geeignetes Mittel zur tatsächlichen Durchsetzung der Mindestquote für das Geschlecht in der Minderheit (BAG Beschluss vom 16.03.2005 aaO.).
d. Die vorliegende Fallkonstellation unterscheidet sich von dem in § 15 Abs. 2 BetrVG und 15 Abs. 5 Nr. 4 Wahlordnung geregelten Normalfall dadurch, dass vor dem endgültigen Feststehen der Namen der Betriebsratsmitglieder gemäß § 18 der Wahlordnung eine Fallkonstellation eintritt, bei der im Nachhinein festgestellt werden kann, dass es eines Listensprunges nicht bedurft hätte. Die verfassungskonforme Auslegung des § 17 Abs. 2 Satz 2 der Wahlordnung gebietet es, einen derartigen Listensprung, der sich im Nachhinein als nicht erforderlich herausstellt, rückgängig zu machen. Denn eine legitimen Zweck folgende Abweichung von dem Grundsatz der formalen Wahlrechtsgleichheit darf das des zur Erreichung dieses Zwecks Erforderliche nicht überschreiten (BVerfG, Beschluss vom 22.10.1985, AZ: 1 BVL 44/83 - BVerfG E 71, 81). Ihr erlaubtes Ausmaß richtet sich insbesondere danach, auf welcher Stufe des Wahlverfahrens mit welcher Intensität in das Wahlrecht eingegriffen wird.
Der schwerwiegende Eingriff in den Grundsatz der Wahlgleichheit, der zu einem Listensprung führt, ist nur dann gerechtfertigt, wenn er tatsächlich zur Beseitigung der fehlenden Berücksichtigung eines Geschlechterproporz führt. Stellt sich vor Abschluss des Wahlverfahrens gemäß § 18 der Wahlordnung heraus, dass aufgrund der Ablehnung einer Wahl eines Fallkonstellation eintritt, die im Nachhinein den Geschlechterproporz wahrt und einen Listensprung zur Erreichung des Geschlechterproporzes überflüssig macht, dann muss in verfassungskonformer Auslegung der Wahlordnung dieser Listensprung rückgängig gemacht werden.
e. Die allgemeinen Grundsätze, nach denen eine verfassungskonforme Auslegung einer Form vorzunehmen ist, ermöglichen auch eine derartige Auslegung, ohne § 17 Abs. 2 der Wahlordnung für verfassungswidrig erklären zu müssen.
aa. Eine Norm ist nur dann für verfassungswidrig zu erklären, wenn keine nach anerkannten Auslegungsgrundsätzen zulässige und mit der Verfassung zu vereinbarende Auslegung möglich ist. Lassen der Wortlaut, die Entstehungsgeschichte, der Gesamtzusammenhang der einschlägigen Regelungen und deren Sinn und Zweck mehrere Deutungen zu, von denen eine zu einem verfassungsgemäßen Ergebnis führt, so ist diese geboten (Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 30.03.1993, AZ: 1 BVR 1045/89 BVerfG E 88 145 bis 186). Artikel 20 Abs. 3 GG verpflichtet die Gerichte, "nach Gesetz und Recht" zu entscheiden. Eine bestimmte Auslegungsmethode schreibt die Verfassung nicht vor. Eine Rechtsfortbildung des Gesetzes ist nicht von vornherein ausgeschlossen (Bundesverfassungsgericht aaO.). Lediglich dann, wenn die Auslegung nicht nur mit dem Wortlaut sondern auch dem klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers in Widerspruch treten würde, findet eine verfassungskonforme Auslegung ihre Grenze. Im Wege der Auslegung darf einem nach Wortlaut und Sinn eindeutigen Gesetz nicht ein entgegenstehender Sinn verliehen werden, der normative Gehalt der auszulegenden Norm nicht grundlegend neu bestimmt oder das gesetzgeberische Ziel nicht in einem wesentlichen Punkt verfehlt werden (Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 07.04.1997, AZ: 1 BVL 11/96 - NJW 1997 2230 2231).
bb. Gemessen an diesen Grundsätzen ist eine verfassungskonforme Auslegung des § 17 Abs. 2 der Wahlordnung möglich. Der Einwand der Beschwerdebegründung, der Wortlaut dieser Norm sei eindeutig und regele abschließend unverbindlich die Verfahrensweise, die eintrete, wenn eine gewählte Person die Wahl nicht annehme, erscheint vordergründig. Vielmehr ist davon auszugehen, dass der Verordnungsgeber (das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung), welcher die Wahlordnung aufgrund des § 126 BetrVG in der Fassung der Bekanntmachung vom 25.09.2001 verordnet hat, diese Problematik schlicht übersehen hat. Sie ist in dieser Verordnung nicht erfasst. Es entspricht nicht dem erkennbaren Sinn, den Eingriff in das Verfassungsprinzip der Wahlrechtsgleichheit aufrecht zu erhalten, ohne dass hierfür ein berechtigender Grund vorliegt. In Satz 3 dieser Vorschrift hat der Verordnungsgeber erkannt, dass die Nichtannahme einer gewählten Person im Extremfall zu einer Listenverschiebung führen muss. Aus verfassungsrechtlichen Gründen muss diese Listenverschiebung auch umgekehrt herum vorgenommen werden, wenn sich im Nachhinein herausstellt, dass eine Listenverschiebung (Listensprung) überflüssig gewesen ist, um den Geschlechterproporz gemäß §§ 15 Abs. 2 BetrVG, 15 Abs. 5 Wahlordnung gewahrt ist.
cc. Angesichts vorstehenden für das Beschwerdegericht klaren und eindeutigen Ergebnisses müssen die übrigen Bedenken des Beschwerdeführers, namentlich die Möglichkeit einer nachträglichen Beeinflussung sowie das Argument einer schweren Handhabbarkeit und Erkennbarkeit dieser Zusammenhänge für den Wahlvorstand zurücktreten.
III. Einer Kostenentscheidung bedarf es im Beschlussverfahren nicht.
IV. Gemäß §§ 92, 72 Abs. 2 ArbGG war wegen grundsätzlicher Bedeutung die Rechtsbeschwerde zum Bundesarbeitsgericht zuzulassen.
Mathes
Stein