Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Urt. v. 14.02.2011, Az.: 12 Sa 1227/10
Vollstreckung vor Insolvenzeröffnung; Zeitliche Reichweite der insolvenzrechtlichen Rückschlagsperre bei mehreren Insolvenzanträgen; Drittschuldnerklage zur Pfändung von verschleiertem Arbeitseinkommen
Bibliographie
- Gericht
- LAG Niedersachsen
- Datum
- 14.02.2011
- Aktenzeichen
- 12 Sa 1227/10
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2011, 12520
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LAGNI:2011:0214.12SA1227.10.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- ArbG Wilhelmshaven - 16.06.2010 - AZ: 2 Ca 76/10
Rechtsgrundlagen
- § 850h ZPO
- § 88 InsO
- § 139 Abs. 2 InsO
- § 305 Abs. 3 S. 2 InsO
Fundstellen
- EzA-SD 8/2011, 10
- NZI 2011, 297-299
- ZInsO 2011, 1027-1029
Amtlicher Leitsatz
Zur Bestimmung der zeitlichen Reichweite des § 88 InsO ("Rückschlagsperre") ist bei mehreren Eröffnungsanträgen auch dann auf den ersten zulässigen und begründeten Insolvenzantrag abzustellen, wenn das Insolvenzverfahren erst aufgrund des späteren Antrags eröffnet wird. Voraussetzung dabei ist, dass 1. "dieselbe Insolvenz" vorliegt, der Schuldner sich also zwischen den Insolvenzanträgen nicht wirtschaftlich erholt hat, und dass 2. der frühere Antrag nicht rechtskräftig abgewiesen worden ist (§ 139 Abs. 2 InsO). Die Rücknahmefiktion des § 305 Abs. 3 Satz 2 InsO stellt dabei keine "rechtskräftige Abweisung" dar, solange nicht auch die materiellen Antragsvoraussetzungen für den ersten Antrag weggefallen sind.
In dem Rechtsstreit
klagendes und berufungsklagendes Land,
gegen
Beklagte und Berufungsbeklagte,
hat die 12. Kammer des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen auf die mündliche Verhandlung vom 14. Februar 2011 durch
den Vorsitzenden Richter am Landesarbeitsgericht Walkling,
die ehrenamtliche Richterin Frau Koch,
den ehrenamtlichen Richter Herrn Gaschler
für Recht erkannt:
Tenor:
Die Berufung des klagenden Landes gegen das Urteil des Arbeitsgerichts B-Stadt vom 16.06.2010 - 2 Ca 76/10 - wird auf seine Kosten zurückgewiesen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten im Rahmen einer Drittschuldnerklage über die wirksame Pfändung von verschleiertem Arbeitseinkommen.
Das klagende Land begehrt die Erfüllung von Steuerschulden durch den Streithelfer der Beklagten (im Folgenden: Schuldner). Der Schuldner gründete 1992 einen ambulanten Pflegedienst als Einzelunternehmen. Mit Schreiben vom 20.05.2005 zeigte der Schuldner dem Finanzamt B-Stadt an, in den Jahren 1993 bis 2003 Einnahmen aus selbständiger Arbeit in erheblichem Umfang nicht vollständig der Besteuerung unterworfen zu haben. Der Schuldner verkaufte seinen Betrieb zum 01.09.2005 an die Beklagte. Er selbst wurde als Arbeitnehmer bei der Beklagten mit der Aufgabe eines Pflegedienstleiters zu einer monatlichen Vergütung von 1.994,20 € bei einer 30-Stunden-Woche eingestellt.
Am 17.08.2006 beantragte der Schuldner beim Amtsgericht B-Stadt als Insolvenzgericht die Eröffnung des Regelinsolvenzverfahrens, hilfsweise die Eröffnung des Verbraucherinsolvenzverfahrens. Grund hierfür war die Zahlungsunfähigkeit des Schuldners, da Verbindlichkeiten in Höhe von ca. 425.000,00 € bestanden. Mit Verfügung vom 02.10.2006 wies das Amtsgericht darauf hin, dass es den Insolvenzantrag vom 17.08.2006 ausschließlich als Verbraucherinsolvenzantrag behandele und verlangte die Beibringung weiterer Unterlagen für ein Verbraucherinsolvenzverfahren. Mit Beschluss vom 08.11.2006 stellte das Amtsgericht mit Rücksicht auf § 305 Abs. 3 InsO durch Beschluss fest, dass der Antrag vom 17.08.2006 als zurückgenommen gelte (Bl. 162 f. d. A.). Über die Eröffnung des Regelinsolvenzverfahrens entschied das Amtsgericht B-Stadt nicht gesondert.
Mit Pfändungs- und Einziehungsverfügung vom 21.11.2008 (der Beklagten zugestellt am 24.11.2008) pfändete das Finanzamt A-Stadt wegen Steuerrückständen des Schuldners in Höhe von 446.106,08 € die Forderungen des Schuldners auf Zahlung von (fiktiven) Arbeitseinkommen und ließ sich die gepfändeten Ansprüche zur Einziehung überweisen.
Unter dem 19.03.2009 beantragte der Schuldner vorsorglich nochmals die Eröffnung des Regelinsolvenzverfahrens (Bl. 168 f. d. A.). In der Zeit zwischen dem ersten Insolvenzantrag aus August 2006 und dem weiteren Insolvenzantrag aus März 2009 erholte sich der Schuldner wirtschaftlich nicht mehr. Zum Zeitpunkt der weiteren Antragstellung bestanden Verbindlichkeiten in Höhe von ca. 500.000,00 €.
Mit der am 24.03.2009 beim Arbeitsgericht eingegangenen Klage verfolgt das klagende Land die Ansprüche auf die fiktive Arbeitsvergütung des Schuldners weiter.
Mit Beschluss vom 07.04.2009 wurde das Insolvenzverfahren über das Vermögen des Schuldners eröffnet. Die hiergegen gerichtete Beschwerde des Schuldners sowie die weitere Rechtsbeschwerde blieben erfolglos.
Das klagende Land hat behauptet, die vom Schuldner bezogene Bruttovergütung in Höhe von 1.994,20 € sei nicht angemessen. Als angemessene Vergütung sei von einem Betrag von 7.000,00 € pro Monat auszugehen. Der Schuldner sei faktischer Geschäftsführer der Beklagten und dort so tätig, wie er es als Inhaber des von ihm früher geführten Einzelunternehmens gewesen sei.
Das klagende Land hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin
1. 14.214,90 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz auf je 2.043,95 € seit dem 01.12.2008 und 01.01.2009 sowie auf jeweils 2.025,40 € seit dem 01.02., 01.03., 01.04., 01.05. und 01.06.2009 zu zahlen;
2. ab Juni 2009 jeweils am 01. des Folgemonats die sich aus den Freigrenzen ergebenen pfändbaren Beträge zu zahlen mit der Maßgabe, die Zahlung auf die Dauer des Beschäftigungsverhältnisses zu begrenzen, ausgehend von einem Bruttoeinkommen von 7.000,00 € monatlich sind dies derzeit 2.025,40 €.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte bestreitet, dass der Schuldner faktischer Geschäftsführer bei ihr sei. Die gesetzlichen Aufgaben eines Geschäftsführers nehme allein Herr G. wahr.
Mit Urteil vom 16.06.2010 hat das Arbeitsgericht B-Stadt die Klage insgesamt abgewiesen. Diese Entscheidung ist am 07.07.2010 an die Prozessbevollmächtigten des klagenden Landes zugestellt worden. Die hiergegen gerichtete Berufungsschrift ist am 04.08.2010, die Berufungsbegründung am 06.09.2010 beim Landesarbeitsgericht eingegangen.
Zur Begründung der Berufung macht das klagende Land geltend, bei Berechnung der Frist für die Rückschlagsperre gemäß § 88 InsO könne nur auf noch offene Antragsverfahren abgestellt werden. Der Insolvenz(eigen)antrag des Schuldners vom 17.08.2006 sei zum Zeitpunkt der Zustellung der Pfändungs- und Einziehungsverfügung am 24.11.2008 nicht mehr offen gewesen. Da das Amtsgericht B-Stadt mit Beschluss vom 08.11.2006 den Antrag als zurückgenommen behandelt habe, dürften an ihn auch keine weiteren Rechtsfolgen geknüpft werden. Nach§ 91 Abs. 1 InsO sei maßgeblich allein auf den Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens am 07.04.2009 abzustellen. Bis zu diesem Zeitpunkt seien zwischen November 2008 und einschließlich März 2009 10.164,10 € an pfändbarer Vergütung aufgelaufen.
Das klagende Land beantragt,
das Urteil des Arbeitsgerichts B-Stadt vom 16.06.2010 - 2 Ca 76/10 - abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, an das klagende Land 10.164,10 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz auf je 2.043,95 € seit dem 01.12.2008 und 01.01.2009 sowie auf je 2.025,40 € seit dem 01.02.2009, 01.03.2009 sowie 01.04.2009 zu zahlen.
Die Beklagte und ihr Streithelfer beantragen,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Beklagte und ihr Streithelfer verteidigen das erstinstanzliche Urteil und berufen sich darauf, dass die mit der Pfändungs- und Einziehungsverfügung vom 21.11.2008 angestrebte Sicherung gemäß § 88 InsO unwirksam sei. Anknüpfungspunkt für die dort geregelte Rückschlagsperre müsse der erste Insolvenzantrag vom 17.08.2006 sein. Insbesondere der vom Schuldner gestellte Antrag auf Eröffnung eines Regelinsolvenzverfahrens sei nach wie vor nicht beschieden worden.
Ergänzend wird auf die Berufungsbegründung vom 06.09.2010 sowie die weiter von den Parteien in der Berufungsinstanz gewechselten Schriftsätze verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die statthafte und frist- sowie formgerecht eingelegte Berufung des klagenden Landes ist unbegründet.
Zur Begründung wird vollumfänglich auf dieüberzeugenden und rechtlich zutreffenden Ausführungen des Arbeitsgerichts B-Stadt im Urteil vom 16.06.2010 Bezug genommen. Die Angriffe aus der Berufungsschrift erfordern lediglich folgende Ergänzungen:
1. Das vom klagenden Land mit der Pfändungs- und Einziehungsverfügung vom 21.11.2008 angestrebte Sicherungsrecht an den fiktiven Bezügen des Schuldners ist mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens gemäß § 88 InsO unwirksam geworden. Die Zustellung der Pfändungs- und Einziehungsverfügung am 24.11.2008 erfolgte nach dem Insolvenzantrag des Schuldners vom 17.08.2006, auf welchen hier abzustellen ist. Sind mehrere Eröffnungsanträge gestellt worden, so ist der erste zulässige und begründete Antrag maßgeblich, auch wenn das Verfahren aufgrund eines späteren Antrages eröffnet worden ist. Ein rechtskräftig abgewiesener Antrag wird nur berücksichtigt, wenn er mangels Masse abgewiesen worden ist (§ 139 Abs. 2 InsO). Im vorliegenden Fall war nach dem unstreitigen Vorbringen der Parteien der Antrag des Schuldners vom 17.08.2006 zulässig und begründet. Seine Zulässigkeit ergibt sich aus § 11 Abs. 1 InsO. Die Begründetheit ergibt sich aus den §§ 16 f. InsO. Es lag der Eröffnungsgrund der Zahlungsunfähigkeit vor.
2. Unschädlich für die Rechtswirkungen des § 88 InsO ist der seit dem Erstantrag vom 17.08.2006 vergangene Zeitraum von nahezu drei Jahren. Liegt eine einheitliche Insolvenz vor, ist der erste mangels Masse abgewiesene Antrag grundsätzlich auch dann maßgebend, wenn zwischen ihm und dem Antrag der zur Verfahrenseröffnung geführt hat, ein beträchtlicher Zeitraum liegt (BGH 15.11.2007, IX ZR 212/06 ZIP 2008, 235[BGH 15.11.2007 - IX ZR 212/06] bis 237: Im dort entschiedenen Fall betrug der Zeitraum drei Jahre).
3. Weiter verlangt der Bundesgerichtshof als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal, dass zwischen dem ersten Insolvenzantrag und dem später zur Eröffnung führenden Insolvenzantrag "dieselbe Insolvenz" des Schuldners als einheitlicher Lebenssachverhalt vorliegt. Ist nach Abweisung eines Antrages mangels zureichender Masse der Insolvenzgrund behoben worden und später erneut eingetreten, kann der erste Antrag nicht mehr ausschlaggebend sein. Im hier vorliegenden Streitfall ist von einer einheitlichen Insolvenz auszugehen. Das Arbeitsgericht hat zutreffend festgestellt, dass der Schuldner sich von der im August 2006 vorliegenden Verschuldung in der Größenordnung von mehr als 400.000,00 € bis zum Verschuldungsstand im April 2009 mit ca. 500.000,00 € nicht nennenswert wirtschaftlich erholt hat.
4. Der vom Schuldner am 17.08.2006 gestellte Insolvenzantrag ist auch nicht "rechtskräftig abgewiesen" im Sinne von § 139 Abs. 2 InsO. Die rechtskräftige Abweisung eines Antrages würde voraussetzen, dass das Insolvenzgericht das Vorliegen der Voraussetzungen für die Eröffnung einer Insolvenz materiell geprüft hätte. Dies ist hier jedoch unter zweierlei Gesichtspunkten nicht gegeben: Zum einen hat das Amtsgericht sich lediglich auf die Fiktionswirkung des § 305 Abs. 3 InsO berufen und die materiellen Voraussetzungen der Eröffnung eines Insolvenzverfahrens somit nicht geprüft. Zum anderen hat das Amtsgericht sich lediglich mit dem Hilfsantrag der Beklagten auf Eröffnung eines Verbraucherinsolvenzverfahrens auseinandergesetzt und den Antrag auf Eröffnung eines Regelinsolvenzverfahrens nicht beschieden. Schließlich lässt die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (so auch die vom klagenden Land herangezogene Entscheidung vom 02.04.2009, IX ZR 145/08, ZIP 2009, 921[BGH 02.04.2009 - IX ZR 145/08] bis 922) erkennen, dass die Rückwirkung des § 88 InsO nur gehindert werden soll, wenn materiell eine Änderung in der Insolvenzlage eingetreten ist. Rein formelle Erledigungs- oder Rücknahmegründe bleiben unberücksichtigt. So hat der BGH mit Urteil vom 02.04.2009 (aaO.) entschieden, dass ein zum Zeitpunkt des Eröffnungsbeschlusses zulässiger und begründeter Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens auch dann für die Berechnung der Anfechtungsfristen maßgeblich ist, wenn er nach der Eröffnung wegen prozessualer Überholung für erledigt erklärt worden ist. Zur Begründung hat der Bundesgerichtshof darauf abgestellt, dass der dortige Antrag sich lediglich wegen prozessualer Überholung, nicht wegen Wegfalls der Antragsvoraussetzungen [Hervorhebung durch das Landesarbeitsgericht] erledigt hat. Diese Voraussetzungen liegen auch im vorliegend zu entscheidenden Fall vor. Der Antrag vom 17.08.2006 gilt nach § 305 Abs. 3 InsO lediglich aus formellen Gründen als zurückgenommen nicht wegen des Wegfalls der materiellen Antragsvoraussetzungen.
5. Das klagende Land hat die Kosten der von ihm ohne Erfolg eingelegten Berufung nach
§ 97 ZPO zu tragen.
Gründe für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Koch
Gaschler