Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Urt. v. 23.06.2011, Az.: 4 Sa 1859/10
Erstattungsanspruch im Zusammenhang mit der Gewährung von Arbeitslosengeld II wird auch auf an Mitglieder einer Bedarfsgemeinschaft geleisteten Grundsicherungsleistungen ausgedehnt; Ausdehnung des Erstattungsanspruchs im Zusammenhang mit der Gewährung von Arbeitslosengeld II auch auf an Mitglieder einer Bedarfsgemeinschaft geleisteten Grundsicherungsleistungen
Bibliographie
- Gericht
- LAG Niedersachsen
- Datum
- 23.06.2011
- Aktenzeichen
- 4 Sa 1859/10
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2011, 21967
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LAGNI:2011:0623.4SA1859.10.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- ArbG Hannover - 15.11.2010 - - AZ: 1 Ca 592/09
Rechtsgrundlagen
- § 115 Abs. 1 SGB X
- § 34a SGB II
Amtlicher Leitsatz
Erbringt das Jobcenter Sozialleistungen in Form der Zahlung von Arbeitslosengeld II, wird der Erstattungsanspruch auf die Aufwendungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ausgedehnt, die an den nicht getrennt lebenden Ehegatten sowie an dessen unverheiratete Kinder, die das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, erbracht wurden.
In dem Rechtsstreit
...
hat die 4. Kammer des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen
auf die mündliche Verhandlung vom 23. Juni 2011
durch
die Vorsitzende Richterin am Landesarbeitsgericht Krönig,
den ehrenamtlichen Richter Herrn Straden,
den ehrenamtlichen Richter Herrn Elges
für Recht erkannt:
Tenor:
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Hannover vom 15. November 2010 - 1 Ca 592/09 - teilweise abgeändert.
Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger weitere 797,57 EUR (= insgesamt 1.212,81 EUR) nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 3. Dezember 2008 zu zahlen.
Die Anschlussberufung des Beklagten wird zurückgewiesen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Das klagende A. (nachfolgend: Kläger) nimmt den Beklagten aus übergegangenem Recht auf Zahlung des Arbeitsentgelts für den Monat September 2007 in Anspruch.
Herr B. trat auf der Grundlage eines schriftlichen Arbeitsvertrages mit Wirkung vom 1. Juli 2007 als Kraftfahrzeugmechaniker-Meister mit einem monatlichen Bruttogrundgehalt in Höhe von 1.950,00 EUR in die Dienste des Beklagten. Gem. § 3 des Arbeitsvertrages war die Arbeitsvergütung jeweils zum 1. eines Monats, erstmalig zum 1. August 2007, auszuzahlen. Ausweislich der Lohnabrechnung für den Monat September 2007 erzielte der Arbeitnehmer B. einen Nettoverdienst (Auszahlungsbetrag) in Höhe von 1.522,81 EUR. Der Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis mit dem Arbeitnehmer B. zum 1. Oktober 2007. Eine Zahlung der Vergütung für September 2007 erfolgte nicht.
Mit Bescheid vom 9. Oktober 2007 bewilligte der Kläger Herrn B. und seiner mit ihm in der Bedarfsgemeinschaft lebenden Ehefrau sowie den 2 minderjährigen Kindern für den Monat Oktober 2007 Leistungen nach dem SGB II in Höhe von insgesamt 1.395,95 EUR. Mit Schreiben vom selben Tag teilte der Kläger dem Beklagten mit, dass Herr B. seit dem 1. Oktober 2007 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts beziehe. Die Zahlung habe zur Folge, dass evtl. Ansprüche des Herrn B. an den Beklagten, die aus dem Arbeitsverhältnis noch bestehen sollten, mit der Anzeige auf den Kläger bis zur Höhe der von dort gezahlten Leistungen übergehen. Der Beklagte könne damit nur noch an den Kläger mit befreiender Wirkung zahlen. Das Schreiben ging dem Beklagten am 12. Oktober 2007 zu.
Im Juli 2009 nahm Herr B. den Beklagten vor dem Arbeitsgericht Hannover auf Zahlung der Vergütung für den Monat September 2007 in Anspruch (1 Ca 420/09). Im Gütetermin vom 26. August 2009 schlossen die Parteien des Vorprozesses einen Vergleich, in dem sich der Beklagte zur Zahlung eines Betrages in Höhe von 800,00 EUR netto an den Kläger verpflichtete.
Mit der vorliegenden Klage beansprucht der Kläger von dem Beklagten Zahlung eines Betrages in Höhe von 1.212,81 EUR. Diesen Betrag ermittelt er aus dem mit der Vergütungsabrechnung für September 2007 ausgewiesenen Nettoeinkommen abzüglich der Freibeträge gem. §§ 11, 30 SGB II in Höhe von 100,00 EUR bzw. 210,00 EUR (1.522,81 - 100,00 - 210,00)
Der Kläger hat beantragt,
den Beklagten zu verurteilen, an das klagende A. 1.212,81 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 3.Dezember 2008 zu zahlen.
Der Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Beklagte hat gemeint, ein Anspruchsübergang gem. § 115 SGB X hinsichtlich der Vergütung für September 2007 liege nicht vor. Zwischen dem Anspruch auf Vergütung und dem Zeitraum der Hilfeleistung müsse eine zeitliche Deckungsgleichheit bestehen. Entscheidend sei nicht der tatsächliche Empfang der Leistung, sondern der Zeitraum, für den die Grundsicherung bestimmt gewesen sei.
Das Arbeitsgericht hat den Beklagten unter Abweisung der Klage im Übrigen verurteilt, an den Kläger 415,24 EUR zu zahlen. Gegen das ihm am 29. November 2010 zugestellte Urteil hat der Kläger am 14. Dezember 2010 Berufung eingelegt und sie am 31. Januar 2011 (29. = Samstag) begründet.
Der Kläger macht geltend, das Arbeitsgericht habe darauf abgestellt, dass ein Anspruchsübergang lediglich insoweit habe erfolgen können, als auch Personenidentität bestehe. Es habe die Vorschrift des § 34a SGB II übersehen und diese Vorschrift demgemäß rechtsfehlerhaft nicht angewandt.
Der Kläger beantragt,
- 1.
den Beklagten unter teilweiser Abänderung des am 15. November 2010 verkündeten Urteils des Arbeitsgerichts Hannover (1 Ca 592/09) zu verurteilen, an das klagende A. 1.212,81 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 3. Dezember 2008 zu zahlen,
- 2.
die Anschlussberufung des Beklagten zurückzuweisen.
Der Beklagte beantragt,
- 1.
die Berufung des Klägers zurückzuweisen,
- 2.
das Urteil des Arbeitsgerichts Hannover vom 15. November 2010 - 1 Ca 592/09 - abzuändern und die Klage insgesamt abzuweisen.
Der Beklagte führt aus, das Arbeitsgericht sei fehlerhaft davon ausgegangen, dass die Vergütung für den Monat September 2007 gemäß der Regelung im Arbeitsvertrag zum 1.des Folgemonats, also zum 1. Oktober 2007, zur Zahlung fällig gewesen sei. Diese Annahme sei indes unzutreffend.
Er bestreitet zudem mit Nichtwissen, dass die mit Herrn B. im Oktober 2007 in Bedarfsgemeinschaft zusammenlebenden minderjährigen Kinder die leiblichen bzw. die gesetzlichen Kinder des Herrn B. seien.
Wegen der weiteren Einzelheiten des beiderseitigen Parteivorbringens wird auf den vorgetragenen Inhalt der zu den Akten gereichten Schriftsätze und deren Anlagen verwiesen.
Entscheidungsgründe
I.
Die Berufung des Klägers ist zulässig. Sie ist statthaft sowie form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden.
II.
Die Berufung des Klägers ist begründet. Der Vergütungsanspruch des ehemaligen Mitarbeiters B. gegen den Beklagten für den Monat September 2007 ist auf Grund der Erbringung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für Oktober 2007 in Höhe von 1.202,87 EUR auf den Kläger übergegangen
1.
Dem ehemaligen Mitarbeiter des Beklagten B. stand für den Monat September 2007 gegen den Beklagten ein Vergütungsanspruch zu, der der Höhe nach mit 1.522,81 EUR zwischen den Parteien unstreitig ist.
Der Vergütungsanspruch war gem. § 3 Ziff. 2 des schriftlichen Arbeitsvertrages vom 20.06.2007 zum 01. Oktober 2007 fällig. Der Anspruch ist nicht - teilweise - durch Erfüllung erloschen, § 362 BGB. Gem. §§ 412, 407 BGB muss der Kläger die Leistung des Beklagten in Höhe von 800,00 EUR an den Arbeitnehmer B. als bisherigem Gläubiger nicht gegen sich gelten lassen. Zum Zeitpunkt der Zahlung war die Forderung bereits auf den Kläger übergegangen und der Beklagte hatte unstreitig Kenntnis von dem Forderungsübergang.
2.
Nach § 115 Abs. 1 SGB X geht der Anspruch des Arbeitnehmers auf Arbeitsentgelt bis zur Höhe der erbrachten Sozialleistungen auf den Leistungsträger über, soweit ihn der Arbeitgeber nicht erfüllt und deshalb ein Leistungsträger Sozialleistungen erbracht hat. Arbeitslosengeld II gehört zu den Sozialleistungen, die den Übergang von Entgeltansprüchen begründen können. § 115 SGB X ist vorliegend anwendbar. Die spezielle Vorschrift zum Anspruchsübergang in§ 33 SGB II räumt in Abs. 5 der Norm aus dem SGB X den Vorrang ein. In den unten aufgeführten Grenzen erfüllt die ALG II-Leistung wegen der Versäumung von Entgeltzahlungen die Voraussetzungen des§ 115 Abs. 1 SGB X, insbesondere das Kausalitätserfordernis. Der Entgeltausfall war ursächlich für die Hilfebedürftigkeit des ehemaligen Arbeitnehmers des Beklagten, die ihrerseits nach der Regelung in § 7 Abs. 1 Ziffer 3 SGB II Voraussetzung für Leistungen der Grundsicherung nach dem SGB II war. Nach Sinn und Zweck der Regelung ist der vorliegende Sachverhalt erfasst. Der Anspruchsübergang soll den Leistungsträger in den Fällen entlasten, in denen er in nur interimistischer Zuständigkeit Leistungen im Vorgriff auf das ausbleibende Entgelt erbringt. Hierher gehört die Gewährung von Arbeitslosengeld II wegen verweigerten Entgelts.
3.
Der Entgeltanspruch des ehemaligen Arbeitnehmers des Beklagten ist auch in Höhe der an die Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft erbrachten Grundsicherungsleistungen übergegangen. Das ergibt sich aus § 34a SGB X a.F. Danach gelten Leistungen an bestimmte andere Personen als den Hilfebedürftigen als Aufwendungen im Sinne aller dem§ 33 SGB II vorgehenden Ersatzansprüche. Hierhin gehört auch§ 115 SGB X. Im Einzelnen wird der Erstattungsanspruch auf die Aufwendungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ausgedehnt, die an den nicht getrennt lebenden Ehegatten sowie an dessen unverheiratete Kinder, die das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, erbracht wurden. Gem. § 34a SGB II wird fingiert, dass es sich insoweit um Aufwendungen desjenigen Hilfebedürftigen handelt, der gegen einen Dritten einen Anspruch auf eine vorrangige Leistung hat. Indem § 34a SGB II die gesetzliche Grundlage schafft, um abweichend vom Grundsatz der Personenidentität Erstattungsansprüche geltend zu machen, dient die Norm dem Zweck, den Nachrang der staatlichen Fürsorgeleistung nach dem SGB II umfassend zu gewährleisten.
Der ehemalige Arbeitnehmer B. lebte im Oktober 2007 ausweislich des Bescheids des Klägers vom 09.10.2007 in einer Bedarfsgemeinschaft mit seiner Ehefrau, dem an 23.12.2003 geborenen Sohn C. sowie der am 16.05.2006 geborenen Tochter D.. Das Bestreiten des Beklagten mit Nichtwissen, dass es sich bei den minderjährigen Kindern um die "die leiblichen bzw. gesetzlichen Kinder" seines ehemaligen Mitarbeiters handele, ist nicht erheblich. Zwar erfolgt der Anspruchsübergang nach zutreffender Auffassung nur, soweit die materiell-rechtlichen Voraussetzungen der Sozialleistung gegeben sind. Die Sozialleistung muss grundsätzlich rechtmäßig erfolgt sein (Breitkreuz in: LPK-SGB X § 115 Rn. 13; KassKomm-Kater, § 115 SGB X, Rn. 14). Zu beachten ist allerdings die Bindung der über den Übergang entscheidenden Gerichte an unanfechtbare Entscheidungen bezüglich der Leistungspflicht des Leistungsträgers und ihres Umfangs, wie sie aus dem analog auch auf§ 115 SGB X anzuwendenden § 118 SGB X folgt. Nicht rechtzeitig angefochtene Bewilligungs- oder Widerspruchsbescheide bezüglich ALG II stellen für das mit der Entgeltstreitigkeit befasste Gericht die Grundsicherungsleistungen bindend fest (Eichenhofer in: Wannagat § 115 SGB X, Rn. 23; KassKomm-Kater, § 115 SGB X, Rn. 6; Maul-Sartori, BB 2010, 3021).
4.
Der übergehende Entgeltanteil ist unter Absetzung aller bei der Berücksichtigung von Arbeitseinkommen im Rahmen des ALG II-Bezug zu beachtenden Posten, insbesondere des Freibetrags bei Erwerbstätigkeit, zu ermitteln. Nach § 11 Abs. 2 SGB II sind zunächst die auf das Einkommen zu entrichtenden Steuern und Pflichtbeiträge zur Sozialversicherung abzuziehen. Für den Anspruchsübergang kommt nur das Nettoentgelt in Betracht, das vorliegend unstreitig 1.522,81 EUR betrug. Nach § 11 Abs. 2 Satz 2 SGB II sind Versicherungs- und Altersvorsorgebeiträge sowie Werbungskosten regelmäßig mit einer Pauschale von 100,00 EUR zu berücksichtigen. Nach § 11 Abs. 2 Ziff. 6 i.V.m.§ 30 SGB II a.F. war zudem vom Einkommen aus Erwerbstätigkeit ein Freibetrag abzusetzen, den der Kläger aufstockend auf den Grundfreibetrag in Höhe der bereits erwähnten Pauschale von 110,00 EUR in der Klageschrift zutreffend mit 210,00 EUR ermittelt hat.
IIIl.
Die Anschlussberufung des Beklagten ist zulässig. Sie ist innerhalb der Berufungsbegründungsfrist begründet worden und entspricht auch dem Begründungserfordernis des § 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 ZPO. Anhand der Begründung dieses Rechtsmittels kann das Rechtsmittelgericht erkennen, aus welchem Grund der Beklagte das angefochtene Urteil für rechtsfehlerhaft hält. Auf die Schlüssigkeit ihrer Ausführungen kommt es diesbezüglich nicht an.
Die zulässige Anschlussberufung des Beklagten ist nicht begründet. Zur Begründung wird auf die Ausführungen unter II. verwiesen.
IV.
Die Kostenentscheidung folgt aus§ 91 ZPO.
Die Zulassung der Revision beruht auf § 72 Abs. 2 Nr. 2 ArbGG. Die Kammer ist von den Entscheidungen des LAG Hamburg vom 18.12.2010 (5 Sa 54/10; Revision eingelegt unter dem Aktenzeichen 5 AZR 61/11) und LAG Köln vom 16.09.2010 (7 Sa 385/09; Revision eingelegt unter 5 AZR 332/11) abgewichen.
R e c h t s m i t t e l b e l e h r u n g
Gegen dieses Urteil findet, wie sich aus der Urteilsformel ergibt, die Revision statt.
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Straden
Elges