Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Urt. v. 18.11.2011, Az.: 12 Sa 379/11

Wahrung der doppelten Ausschlussfrist des § 17 Ziff. 2 MTV durch die Erhebung einer Änderungskündigungsschutzklage; Verfassungsmäßige einschränkende Auslegung der doppelten Ausschlussfrist des § 17 Ziff. 2 MTV

Bibliographie

Gericht
LAG Niedersachsen
Datum
18.11.2011
Aktenzeichen
12 Sa 379/11
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2011, 36825
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LAGNI:2011:1118.12SA379.11.0A

Fundstelle

  • EzA-SD 4/2012, 15-16

In dem Rechtsstreit
...
hat die 12. Kammer des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen auf die mündliche Verhandlung vom 18. November 2011 durch
den Vorsitzenden Richter am Landesarbeitsgericht Walkling,
den ehrenamtlichen Richter Herrn Clementsen,
den ehrenamtlichen Richter Herrn Klausing
für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts vom 15.02.2011 - 7 Ca 272/10 - teilweise abgeändert und die Beklagte zu folgenden weitergehenden Zahlungen verurteilt:

  1. 1.

    Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger weitere 65,30 EUR brutto nebst 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz 1iegenden Zinsen seit dem 01.12.2008 zu zahlen;

  2. 2.

    die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger weitere 3.030,75 EUR brutto nebst 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz 1iegenden Zinsen

    auf 208,85 EUR brutto seit dem 01.01.2009

    auf 208,85 EUR brutto seit dem 01.02.2009

    auf 208,85 EUR brutto seit dem 01.03.2009

    auf 208,85 EUR brutto seit dem 01.04.2009

    auf 208,85 EUR brutto seit dem 01.05.2009

    auf 208,85 EUR brutto seit dem 01.06.2009

    auf 208,85 EUR brutto seit dem 01.07.2009

    auf 208,85 EUR brutto seit dem 01.08.2009

    auf 208,85 EUR brutto seit dem 01.09.2009

    auf 208,85 EUR brutto seit dem 01.10.2009

    auf 208,85 EUR brutto seit dem 01.11.2009

    auf 208,85 EUR brutto seit dem 01.12.2009

    auf 208,85 EUR brutto seit dem 01.01.2010

    auf 208,85 EUR brutto seit dem 01.02.2010

    auf 208,85 EUR brutto seit dem 01.03.2010

    zu zahlen;

  3. 3.

    die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger weitere 64,27 EUR brutto nebst 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz 1iegenden Zinsen seit dem 01.12.2008 zu zahlen;

  4. 4.

    die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 2.020,00 EUR brutto nebst 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz 1iegenden Zinsen

    auf 202,00 EUR brutto, seit dem 01.01.2009

    auf 202,00 EUR brutto seit dem 01.02.2009

    auf 202,00 EUR brutto seit dem 01.03.2009

    auf 202,00 EUR brutto seit dem 01.04.2009

    auf 202,00 EUR brutto seit dem 01.05.2009

    auf 202,00 EUR brutto seit dem 01.06.2009

    auf 202,00 EUR brutto seit dem 01.07.2009

    auf 202,00 EUR brutto seit dem 01.08.2009

    auf 202,00 EUR brutto seit dem 01.09.2009

    auf 202,00 EUR brutto seit dem 01.10.2009

    zu zahlen;

  5. 5.

    die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger weitere 1.030,00 EUR brutto nebst 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz 1iegenden Zinsen

    auf 206,00 EUR brutto seit dem 01.11.2009

    auf 206,00 EUR brutto seit dem 01.12.2009

    auf 206,00 EUR brutto seit dem 01.01.2010

    auf 206,00 EUR brutto seit dem 01.02.2010

    auf 206,00 EUR brutto seit dem 01.03.2010

    zu zahlen.

Die Kosten des Rechtsstreits trägt insgesamt die Beklagte.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

1

Die Parteien streiten in der Berufungsinstanz noch darüber, ob vom Kläger unter dem Gesichtspunkt des Annahmeverzuges geltend gemachte Vergütungsdifferenzen für den Zeitraum von November 2008 bis einschließlich Februar 2010 nach der zweiten Stufe einer tariflichen Ausschlussfrist verfallen sind.

2

Der ...1975 geborene Kläger ist verheiratet und einem Kind gegenüber zum Unterhalt verpflichtet. Er ist bei der Beklagten, welche einen Großhandel betreibt, seit dem 01.06.2001 beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis findet der Manteltarifvertrag für den Groß- und Außenhandel Niedersachsen (im Folgenden: MTV) aufgrund beiderseitiger Tarifbindung Anwendung. In § 17 Ziff. 2 dieses MTV ist eine sogenannte zweistufige Ausschlussfrist enthalten, welche für den Fall der schriftlichen Ablehnung des Anspruchs verlangt, dass "innerhalb einer Frist von vier Monaten nach der Ablehnung Klage zu erheben" ist.

3

Der Kläger wurde bei der Beklagten zunächst als Staplerfahrer eingesetzt. Staplerfahrer erhielten bei der Beklagten eine Grundleistungszulage entsprechend der Differenz zwischen Lohngruppe 2 und 3 von 202,00 EUR pro Monat. Ab Oktober 2009 betrug diese Differenz 206,00 EUR pro Monat. Zusätzlich erhalten Staplerfahrer eine "Leistungsprämie" in Höhe von 208,85 EUR pro Monat. Die Tätigkeit als Staplerfahrer wurde dem Kläger Ende 2008 von der Beklagten entzogen. Die Beklagte setzt den Kläger seit dem nur noch als Einräumer ein. Zwei von der Beklagten in diesem Zusammenhang ausgesprochene außerordentliche Änderungskündigungen wurden von den Gerichten für Arbeitssachen als rechtsunwirksam erklärt. Letztmalig im November 2008 zahlte die Beklagte an den Kläger eine anteilige Leistungsprämie in Höhe von 143,55 EUR. Sodann stellte die Beklagte sowohl die Zahlung der Grundleistungszulage als auch der "Leistungsprämie" ein. Die sich daraus ergebenden Differenzlohnansprüche des Klägers für den Zeitraum von November 2008 bis einschließlich April 2010 sind Gegenstand der vorliegenden Klage.

4

Mit Schriftsatz vom 03.06.2009 hat die Beklagte in den Änderungskündigungsschutzverfahren die Abweisung der Klage beantragt. Die Zahlungsklage wurde am 31.05.2010 beim Arbeitsgericht ... eingereicht und am 04.06.2010 bei der Beklagten zugestellt.

5

Der Kläger hat behauptet, der Geschäftsführer der Beklagten habe im August 2009 im Rahmen eines Gerichtstermins vor dem Arbeitsgericht ... erklärt, dass an den Kläger weiterhin das volle Gehalt, insbesondere die Prämien weitergezahlt würden. Eine ordnungsgemäße Geltendmachung der Differenzbeträge sei durch die beiden Kündigungsschutzklagen erfolgt. Eine ausdrückliche schriftliche Ablehnung der Zahlungsansprüche seitens der Beklagten habe es nicht gegeben.

6

Der Kläger hat beantragt,

die Beklagte zu verurteilen an den Kläger 7.040,02 EUR brutto nebst 5 Prozentpunkte Zinsen über dem Basiszinssatz gestaffelt nach den jeweiligen Fälligkeitszeitpunkten zu zahlen.

7

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

8

Die Beklagte hat sich hinsichtlich der vom Kläger geltend gemachten Zahlungsansprüche auf die Ausschlussfristen des § 17 Ziff. 2 MTV berufen. Im Rahmen eines Gespräches in einem Gütetermin habe der Geschäftsführer der Beklagten lediglich erklärt, dass der Kläger zurzeit (nämlich vor Ablauf des vorgeschalteten Zustimmungsersetzungsverfahrens) das volle Gehalt erhalte. Der Lauf der zweiten Stufe der tariflichen Ausschlussfrist sei durch den Klagabweisungsantrag der Beklagten im Kündigungsschutzverfahren ausgelöst worden.

9

Mit Urteil vom 15.02.2011 hat das Arbeitsgericht ... dem Kläger die eingeklagte

10

Differenzvergütung lediglich für die Monate März und April 2010 in Höhe von zusammen 829,70 EUR brutto zuerkannt. Im Übrigen wurde die Klage abgewiesen. Dieses Urteil wurde am 11.03.2011 an die Prozessbevollmächtigten des Klägers zugestellt. Die hiergegen gerichtete Berufungsschrift ist am 22.03.2011 und die Berufungsbegründung am 11.05.2011, dem letzten Tag der Berufungsbegründungsfrist, beim Landesarbeitsgericht eingegangen.

11

Zur Begründung der Berufung macht der Kläger geltend, dass § 17 Ziff. 2 MTV verfassungskonform dahingehend auszulegen sei, dass bereits die fristgemäß erhobene Änderungskündigungsschutzklage zur Wahrung der zweiten Stufe der Ausschlussfrist ausreichend sei. Die vom Arbeitsgericht verlangte gerichtliche Geltendmachung im Rahmen eines bezifferten Zahlungsantrages bürde der Arbeitnehmerseite ein unnötiges Kostenrisiko auf, obwohl für den Arbeitgeber aus den anhängigen Änderungskündigungsschutzklagen klar erkennbar sei, was der Arbeitnehmer in materieller Hinsicht begehre.

12

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Arbeitsgerichts ... vom 15.02.2011 - 7 Ca 272/10 - teilweise abzuändern und die Beklagte zu folgenden weitergehenden Zahlungen zu verurteilen:

  1. 1.

    Die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger weitere 65,30 EUR brutto nebst 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz 1iegenden Zinsen seit dem 01.12.2008 zu zahlen;

  2. 2.

    die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger weitere 3.030,75 EUR brutto nebst 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz 1iegenden Zinsen

    auf 208,85 EUR brutto seit dem 01.01.2009

    auf 208,85 EUR brutto seit dem 01.02.2009

    auf 208,85 EUR brutto seit dem 01.03.2009

    auf 208,85 EUR brutto seit dem 01.04.2009

    auf 208,85 EUR brutto seit dem 01.05.2009

    auf 208,85 EUR brutto seit dem 01.06.2009

    auf 208,85 EUR brutto seit dem 01.07.2009

    auf 208,85 EUR brutto seit dem 01.08.2009

    auf 208,85 EUR brutto seit dem 01.09.2009

    auf 208,85 EUR brutto seit dem 01.10.2009

    auf 208,85 EUR brutto seit dem 01.11.2009

    auf 208,85 EUR brutto seit dem 01.12.2009

    auf 208,85 EUR brutto seit dem 01.01.2010

    auf 208,85 EUR brutto seit dem 01.02.2010

    auf 208,85 EUR brutto seit dem 01.03.2010

    zu zahlen;

  3. 3.

    die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger weitere 64,27 EUR brutto nebst 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz 1iegenden Zinsen seit dem 01.12.2008 zu zahlen;

  4. 4.

    die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 2.020,00 EUR brutto nebst 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz 1iegenden Zinsen

    auf 202,00 EUR brutto seit dem 01.01.2009

    auf 202,00 EUR brutto seit dem 01.02.2009

    auf 202,00 EUR brutto seit dem 01.03.2009

    auf 202,00 EUR brutto seit dem 01.04.2009

    auf 202,00 EUR brutto seit dem 01.05.2009

    auf 202,00 EUR brutto seit dem 01.06.2009

    auf 202,00 EUR brutto seit dem 01.07.2009

    auf 202,00 EUR brutto seit dem 01.08.2009

    auf 202,00 EUR brutto seit dem 01.09.2009

    auf 202,00 EUR brutto seit dem 01.10.2009

    zu zahlen;

  5. 5.

    die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger weitere 1.030,00 EUR brutto nebst 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz 1iegenden Zinsen

    auf 206,00 EUR brutto seit dem 01.11.2009

    auf 206,00 EUR brutto seit dem 01.12.2009

    auf 206,00 EUR brutto seit dem 01.01.2010

    auf 206,00 EUR brutto seit dem 01.02.2010

    auf 206,00 EUR brutto seit dem 01.03.2010

    zu zahlen.

13

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

14

Zur Begründung macht die Beklagte geltend, dass an der bisherigen Rechtsprechung zur zweistufigen Ausschlussfrist insbesondere in den Fällen festzuhalten sei, in denen der klagende Arbeitnehmer aufgrund gewährten gewerkschaftlichen Rechtsschutzes kein besonderes Kostenrisiko trage. Die fristgemäße Erhebung einer entsprechenden Zahlungsklage wäre dem Kläger ohne Weiteres möglich und zumutbar gewesen. Mangels fristgerechter Erhebung einer Zahlungsklage seien die Differenzansprüche von November 2008 bis einschließlich Februar 2010 nach § 17 Ziff. 2 MTV verfallen.

15

Ergänzend wird auf die zwischen den Parteien in der Berufungsinstanz gewechselten Schriftsätze verwiesen.

Entscheidungsgründe

16

Die statthafte und vom Kläger form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig und begründet.

17

1.

Dem Grunde und der Höhe nach ist das Entstehen der Differenzlohnansprüche des Klägers für den Zeitraum von November 2008 bis einschließlich Februar 2010 zwischen den Parteien unstreitig, seitdem die beiden außerordentlichen Änderungskündigungen vom 22.10.2008 und 09.03.2009 rechtskräftig für unwirksam erklärt worden sind. Der Anspruch des Klägers ergibt sich aus den§§ 615, 293 ff. BGB. Der Kläger ist in dem streitbefangenen Zeitraum hinsichtlich der ihm zu gewährenden Vergütung so zu stellen, als wäre er weiterhin als Staplerfahrer eingesetzt worden. Dem Kläger steht daher nicht nur die Grundleistungszulage entsprechend der Differenz zwischen L2 und L3, sondern auch die "Leistungsprämie" in Höhe von 208,85 EUR monatlich zu.

18

2.

Diese Ansprüche sind bei verfassungskonformer Auslegung des § 17 Ziff. 2 MTV nicht verfallen.

19

a)

Die erste Stufe der tariflichen Ausschlussfrist des § 17 Ziff. 2 MTV (schriftliche Geltendmachung innerhalb von drei Monaten seit Fälligkeit) ist durch die Erhebung der Änderungskündigungsschutzklagen Anfang November 2008 und im März 2009 gewahrt worden. Wie das Arbeitsgericht in seiner Entscheidung vom 15.02.2011 zutreffend ausgeführt hat, ist davon auszugehen, dass eine Kündigungsschutzklage regelmäßig geeignet ist, den Verfall solcher Entgeltansprüche zu verhindern, die vom Ausgang des Kündigungsschutzverfahrens abhängen. Dieser Rechtsprechung liegt die Erwägung zugrunde, dass über den prozessualen Inhalt des Kündigungsschutzbegehrens hinaus das vom Arbeitnehmer verfolgte Gesamtziel der Klage zu beachten ist. Dieses beschränkt sich in der Regel nicht auf die bloße Einhaltung des Arbeitsplatzes, sondern ist zugleich auch auf die Sicherung der Ansprüche gerichtet, die vom Fortbestehen des Arbeitsverhältnisses abhängen und die dann nicht bestehen, wenn die angegriffene Kündigung das Arbeitsverhältnis aufgelöst oder die angegriffene Änderungskündigung den Inhalt des Arbeitsverhältnisses entsprechend geändert hat. Mit der Erhebung einer Kündigungsschutzklage ist der Arbeitgeber ausreichend vom Willen des Arbeitnehmers unterrichtet, die durch die Kündigung bedrohten Einzelansprüche aus dem Arbeitsverhältnis aufrecht zu erhalten (BAG26.04.2006, 5 AZR 403/05, AP Nr. 188 zu § 4 TVG Ausschlussfristen).

20

b)

§ 17 Ziff. 2 MTV verlangt von den Arbeitsvertragsparteien zudem, binnen vier Monaten nach der schriftlichen Ablehnung des Anspruchs "Klage zu erheben". Nach dem Klagabweisungsantrag der Beklagten mit Schriftsatz vom 03.06.2009 hätte der Kläger - nach bisherigem Verständnis der zweistufigen Ausschlussfristen durch das Bundesarbeitsgericht - daher binnen vier Monaten eine explizite Zahlungsklage in Höhe der streitigen Entgeltdifferenzen erheben müssen. An dieser Rechtsprechung soll jedoch im Anschluss an den stattgebenden Kammerbeschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 01.12.2010 (1 BvR 1682/07, NZA 2011, 354 bis 356) nicht festgehalten werden.

21

aa)

Das Grundrecht des Klägers auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes auch in zivilrechtlichen Streitigkeiten wird durch Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip verbürgt. Es ist in diesem Zusammenhang zu prüfen, ob die Ausschlussfrist unter dem Gesichtspunkt der Gewährung effektiven Rechtsschutzes in der Art und Weise ausgelegt und angewandt werden muss, wie sie das Arbeitsgericht vorgenommen hat und ob das vom Arbeitsgericht erzielte Ergebnis in Ansehung des Grundrechts des Klägers auf effektiven Rechtsschutz vertretbar war. Dabei dürfen berechtigte Annahmeverzugslohnansprüche in ihrer Durchsetzung nicht durch übersteigerte Obliegenheiten zur gerichtlichen Geltendmachung zunichte gemacht werden.

22

bb)

Nach diesen Grundsätzen ist die Regelung des § 17 Ziff. 2 MTV im Wege der teleologischen Reduktion so einzuschränken, dass die Frist zur gerichtlichen Geltendmachung von Forderungen, die vom Ausgang eines Bestandsschutzrechtsstreits abhängen, gehemmt ist, solange der Bestandsschutzrechtsstreit noch nicht rechtskräftig abgeschlossen ist. Diese Auslegung ist mit dem bloßen Wortlaut des Tariftextes vereinbar. So wird in § 17 Ziff. 2 MTV von der anspruchsberechtigten Partei nicht ausdrücklich verlangt, eine "Zahlungsklage" zu erheben. Nach dem Tariftext ist es lediglich notwendig und ausreichend vier Monate nach der Ablehnung "Klage zu erheben". Die bisherige Rechtsprechung, wonach darunter im Wege einer systematischen Auslegung notwendig eine Zahlungsklage bezüglich der vom Ausgang eines Kündigungsschutzrechtsstreits abhängigen Differenzlohnansprüche zu verstehen ist, ist mit Blick auf die verfassungsrechtlichen Vorgaben seitens des Bundesverfassungsgerichts aufzugeben. Es ist auch nicht erkennbar, welche schutzwerten Interessen der anderen Vertragspartei (hier: des Arbeitgebers) entgegenstehen sollen. Im vorliegenden Fall war für die Beklagte aufgrund der gegen die außerordentlichen Änderungskündigungen vom 22.10.2008 und 09.03.2009 erhobenen Kündigungsschutzklagen klar erkennbar, dass der Kläger nicht nur seine tatsächliche Weiterbeschäftigung als Staplerfahrer, sondern auch die damit verbundene Weitergewährung der Grundleistungszulage und der "Leistungsprämie" als Staplerfahrer anstrebt.

23

cc)

Die hier vertretene Auffassung der Auslegung von § 17 Ziff. 2 MTV läuft darauf hinaus, die erste und zweite Stufe einheitlich so auszulegen, dass durch eine Kündigungsschutzklage diejenigen Ansprüche gewährt werden, welche vom Ausgang des Kündigungsschutzverfahrens unmittelbar abhängig sind. Lediglich hinsichtlich weiterer Zahlungsansprüche, welche sich nicht unmittelbar aus dem Streitgegenstand der anhängigen Kündigungsschutzklage ergeben, müsste ein Arbeitnehmer weiterhin eine bezifferte Zahlungsklage zur Fristwahrung anhängig machen. Dieses verfassungskonforme Verständnis der zweistufigen tariflichen Ausschlussfristen soll aus Gründen der Rechtsklarheit und Berechenbarkeit unabhängig davon gelten, ob das mit einer zusätzlichen Zahlungsklage erstinstanzlich verbundene Kostenrisiko den klagenden Arbeitnehmer tatsächlich persönlich trifft oder auf eine Rechtsschutzversicherung oder den gewerkschaftlichen Rechtsschutz abgewälzt werden kann. Maßgeblich ist die in § 12a Abs. 1 ArbGG normierte gesetzliche Ausgangslage, nach der im Urteilsverfahren des ersten Rechtszugs kein Anspruch der obsiegenden Partei auf Entschädigung wegen Zeitversäumnis und auf Erstattung der Kosten für die Zuziehung eines Prozessbevollmächtigten besteht. Nur durch eine generalisierende Betrachtungsweise kann der Ordnungsfunktion der Ausschlussfristen Rechnung getragen werden. Die Auslegung einer abstrakt generell formulierten Ausschlussfrist darf nicht von der Einzelfallfrage abhängig gemacht werden, welche Möglichkeiten ein konkreter Arbeitnehmer hat, die Prozesskosten auf Dritte abzuwälzen. Für die Gegenseite ist nämlich nicht erkennbar, ob im Einzellfall die Voraussetzungen für eine Kostenübernahme durch Dritte (Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft, Abschluss einer Rechtsschutzversicherung, Ablauf einer etwaigen Wartefrist) vorliegen.

24

dd)

Mit dieser Rechtsprechung schließt sich die 12. Kammer des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen sowohl einer im Vordringen befindlichen Meinung in der Literatur (Nägele/Gertler: Tarifliche Ausschlussfristen auf den Prüfstand des Verfassungsrechts, NZA 2011, 442 - 445 m.w.Nw. in Fußnote 11; Ganz: Ein Damoklesschwert wandert ins Museum - Betrachtungen zur Bedeutung zweistufiger Ausschlussfristen im Kündigungsschutzprozess, ArbRAktuell 2011, 557 - 559) als auch der Rechtsprechung der Landesarbeitsgerichte Hamm (Urteil vom 11.03.2011, 18 Sa 1170/10, zitiert nach [...]) Köln (Urteil vom 05.05.2011, 13 Sa 954/06, zitiert nach [...]) und Düsseldorf (Urteil vom 20.05.2011, 6 Sa 393/11, zitiert nach [...]) an.

25

3.

Die Kosten des Rechtsstreits erster und zweiter Instanz trägt gemäß § 91 Abs. 1 ZPO die insgesamt unterlegene Beklagte.

26

Die Revision war gemäß § 72 Abs. 2 Ziff. 2 ArbGG wegen der bislang entgegenstehenden Rechtsprechung des Bundesarbeitsgericht zuzulassen.

Walkling
Clementsen
Klausing