Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 06.08.2024, Az.: 9 TaBVHa 41/24
Selbstablehnung eines Richters wegen der Besorgnis der Befangenheit wegen Doppelfunktion
Bibliographie
- Gericht
- LAG Niedersachsen
- Datum
- 06.08.2024
- Aktenzeichen
- 9 TaBVHa 41/24
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2024, 21668
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LAGNI:2024:0806.9TaBVHa41.24.00
Verfahrensgang
- vorgehend
- ArbG Hameln - 07.06.2024 - AZ: 1 BV 5/24
Rechtsgrundlage
- § 49 Abs. 2 ArbGG
Amtlicher Leitsatz
- 1.
Die Tätigkeit eines ehrenamtlichen Richters in einem Spruchkörper kann zu einer berechtigten Selbstablehnung eines Vorsitzende einer Kammer des Arbeitsgerichts führen. Die Mitgliedschaft in einem Spruchkörper führt regelmäßig zu einer persönlichen Beziehung der Richterinnen und Richter in einem Kollegialgericht, die den Eindruck entstehen lassen kann, es werde nicht unbefangen entschieden. Unerheblich ist, ob und wie häufig das Kollegialgericht in der Zusammensetzung bereis verhandelt hat.
- 2.
Jedenfalls bei sehr kleinen gerichtlichen Einheiten gilt das auch, wenn die ehrenamtlichen Richterinnen und Richter keiner festen Kammer zugeordnet sind.
Tenor:
- 1.
Die Selbstanzeigen des Direktors des Arbeitsgerichts Hameln R. vom 07.06.2024 und des Richters am Arbeitsgerichts H. vom 11.06.2024 sind begründet.
- 2.
Als zuständiges Gericht wird das Arbeitsgericht Hannover bestimmt.
Gründe
I.
Gegenstand des Verfahrens sind die Selbstablehnungszeigen der beiden Richter des Arbeitsgerichts Hameln. Das Arbeitsgericht Hameln besteht aus drei Kammern, von denen die zweite Kammer seit vielen Jahren nicht besetzt ist. Bei dem Arbeitsgericht sind die ehrenamtlichen Richterinnen und Richter keiner bestimmten Kammer zugeordnet. Sie werden gemäß Geschäftsverteilungsplan alphabetisch von der Liste nacheinander geladen und können sowohl der ersten als auch der dritten Kammer zugeteilt werden.
Am 04.06.2024 ging beim Arbeitsgericht Hameln ein Antrag auf Einleitung eines Beschlussverfahrens ein. Gegenstand des Beschlussverfahrens ist ein Antrag auf Ausschließung des Beteiligten zu 2) und Betriebsratsmitglieds C. aus dem Betriebsrat der Antragstellerin. Das Betriebsratsmitglied C. ist seit 01.01.2024 in das Amt eines ehrenamtlichen Richters beim Arbeitsgericht Hameln berufen. Mit Verfügung vom 07.06.2024 zeigte der Vorsitzende der ersten Kammer, der Direktor des Arbeitsgerichts an, dass er sich wegen einem besonderen Näheverhältnis zwischen ihm und dem Beteiligten zu 2. ablehne. Gerade bei kleinen Gerichten bestehe zu den ehrenamtlichen Richtern ein engeres Kollegialitätsverhältnis, so dass zumindest der Anschein erweckt werden könnte, dass keine unabhängige Entscheidung getroffen werde. Zudem sei zu berücksichtigen, dass es in dem streitigen Verfahren um die persönliche kollektivrechtliche Stellung des betroffenen ehrenamtlichen Richters als Betriebsratsmitglied gehe. Mit Verfügung vom 11.06.2024 erstattete der Vorsitzende der 3. Kammer aus denselben Gründen Selbstanzeige wegen der Besorgnis der Befangenheit. Mit Verfügung vom 24.06.2024 wurde die Akte zur Entscheidung über die Selbstablehnungen und Bestimmungen eines zuständigen Gerichts an das Landesarbeitsgericht übersandt.
II.
1.
Für die Entscheidung über die Selbstanzeigen wegen des Besorgnis der Befangenheit ist gemäß § 49 Abs. 2 ArbGG das Landesarbeitsgerichts zuständig. Durch die Selbstanzeigen beider Kammervorsitzenden des Arbeitsgerichts ist kein Berufsrichter mehr verfügbar, unter dessen Vorsitz über die Selbstanzeigen hätte entschieden werden können. Durch das Landesarbeitsgericht ist über so viele Selbstanzeigen zu entscheiden, bis die Beschlussfähigkeit des Arbeitsgerichts wiederhergestellt ist (vgl. zur vergleichbaren Regelung § 45 Abs. 3 ZPO BVerwG vom 27.07.2012 - 2 AV 5/12 Rn. 7; Stein/Jonas, Borck § 45 ZPO Rd-Nr. 3; LAG Baden- Württemberg - 1 SHa 42/19 vom 27.11.2019 Rd-Nr. 16).
2.
Die Selbstanzeige der Vorsitzenden der 3. Kammer, der über die Selbstanzeige des Vorsitzenden der 1. Kammer zu entscheiden hat, ist begründet.
a.
Nach § 48 ZPO hat das für die Erledigung eines Ablehnungsgesuch zuständige Gericht auch dann zu entscheiden, wenn ein Richter von einem Verhältnis Anzeige macht, das seine Ablehnung rechtfertigen könnte. Gemäß § 42 Abs. 2 ZPO setzt die Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit einen Grund voraus, der geeignet ist, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit eines Richters zu rechtfertigen. Gründe für ein solches Misstrauen liegen vor, wenn eine Partei von ihrem Standpunkt aus bei vernünftiger, objektiver Betrachtung davon ausgehen kann, der Richter werde nicht unvoreingenommen entscheiden.
Es muss die Befürchtung bestehen, dass der abgelehnte Richter in der Verhandlung und Entscheidung des anstehenden Falls sachfremde, unsachliche Momente mit einfließen lassen könnte und den ihm unterbreiteten Fall nicht ohne Ansehen der Person nur aufgrund der sachlichen Gegebenheiten des Falls und allein nach Recht und Gesetz entscheidet. Entscheidend ist dabei nicht, ob der Richter wirklich befangen ist oder sich selbst für befangen hält, sondern allein, ob aus der Sicht der Parteien genügend objektive, d. h., nicht nur in der Einbildung der Partei wurzelnde Gründe vorliegen, die in den Augen eines vernünftigen Menschen geeignet sind, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit des Richters zu erzeugen (BAG vom 20.08.2019 - 3 AZN 530/19 (A); BAG vom 07.11.2012 - 7 AZR 64610 (A) Rd-Nr. 18). Dabei sind grundsätzlich restriktive Maßstäbe anzulegen, weil der verfassungsrechtlich verbürgte Grundsatz gemäß Artikel 101 Abs. 1 Satz 2 GG bedingt, dass weder die beteiligten Parteien noch die gemäß Geschäftsverteilungsplan zuständigen Richter es in der Hand haben, die Besetzung des Gerichts aus anderen als zwingenden gesetzlichen Gründen zu ändern (BVerfG vom 29.06.2004 - 1 BVR 336/04 Rd-Nr. 7).
b.
Gemessen an diesen Maßstäben besteht die Besorgnis einer Befangenheit des Vorsitzenden der 3. Kammer entsprechend der in der Selbstablehnung aufgeführten bzw. in Bezug genommenen Gründe.
Die enge Zusammenarbeit von Richterinnen und Richter in einem Kollegialgericht führt regelmäßig zu einer persönlichen Beziehung zwischen ihnen, die ihre Unbefangenheit in Frage stellt, wenn eine oder einer von ihnen selbst als Partei am Rechtsstreit beteiligt ist (OLG Schleswig vom 06.02.2023 - 16 W 8/23 Rd-Nr. 8; OLG Celle vom 17.03.2009 - 9 W 20/09 Rd-Nr. 4; LAG Nds. vom 18.01.2022 - 9 SHa 1187/21). Dieses kollegiale Näheverhältnis besteht auch zwischen den Vorsitzenden der arbeitsgerichtlichen Kammern und den ehrenamtlichen Richterinnen und Richtern. Dabei ist es unerheblich, ob Berufs- und ehrenamtliche Richterinnen und Richter mehr oder weniger häufig zusammengearbeitet haben oder zwischen ihnen ein mehr oder weniger enger Kontakt besteht. Entscheidend ist die Zugehörigkeit zu demselben Spruchkörper und die daraus erwachsene beiderseitige Aufgabe der offenen und vertrauensvollen Zusammenarbeit, in der Vergangenheit und auch für die Zukunft (OLG Schleswig vom 06.02.2023 a.a.O. Rd-Nr. 8 m.w.N; LAG Nds. vom 18.01.2022 a.a.O., m.w.N.).
Bei einem Gericht, das lediglich mit zwei Kammern besetzt ist, kann auch dann von einem besonderen Näheverhältnis ausgegangen werden, wenn die ehrenamtlichen Richterinnen und Richter keiner festen Kammer zugeordnet sind. Es macht fast keinen Unterschied, ob eine solche Zuordnung erfolgt ist, weil es auch bei zwei Kammern möglich ist, dass zufälligerweise stets eine Ladung zu derselbe Kammer erfolgt. Die Besorgnis, dass ein solches Näheverhältnis trotz allseits besten Willens unter Umständen zumindest unbewusste Solidarisierungseffekte auslösen und die Behandlung und Entscheidung der Sache beeinflussen könnte, ist als objektiver und vernünftiger Grund für eine Ablehnung anzuerkennen. In der vorliegenden Fallkonstellation kann zumindest der Anschein erweckt werden, dass die Stellung des Beteiligten zu 2. als ehrenamtlicher Richter in die erforderliche Abwägung bei der Entscheidung des Verfahrens mit einbezogen werden kann. Aus diesem Grund ist die Selbstanzeige begründet. Die Erwägung, nach der es in vergleichbaren Fallkonstellationen gerade bei kleineren Arbeitsgerichten zu einer Besorgnis der Befangenheit kommen kann, steht dem nicht entgegen. Der Gesetzgeber hat eine vergleichbare Problematik bei Prozessvertreterinnen und -vertretern, die zeitgleich ehrenamtliche Richterin oder Richter bei den Arbeitsgerichten sein können, gesehen und in § 11 Abs. 5 Satz 2 ArbGG geregelt, dass sie in der Regel nicht als Bevollmächtigte vor dem Spruchkörper eines Gerichts auftreten dürfen, dem sie angehören.
Das bestätigt, dass durch die Zugehörigkeit zu einem Spruchkörper als ehrenamtliche Richterinnen oder ehrenamtlicher Richter ein besonderes Näheverhältnis besteht. Dass der Gesetzgeber eine vergleichbare Regelung für ehrenamtliche Richterinnen und Richter, die eine Partei eines Verfahrens sind, nicht getroffen hat, heißt nicht, dass eine vergleichbare Interessenlage nicht besteht. Solche vergleichbaren Fallkonstellationen sind jedoch nicht der Regelfall vor den Arbeitsgerichten und können sachgerecht über die Regelungen in § 42 ff. ZPO geklärt werden.
3.
Damit war der Vorsitzende der 3. Kammer gehindert, über die Besorgnis der Befangenheit des Vorsitzende der 1. Kammer zu entscheiden. Der Vorsitzende der 1. Kammer ist aus denselben Erwägungen wegen der Besorgnis der Befangenheit an der Ausübung des Richteramtes verhindert.
4.
Als zuständiges Gericht ist das Arbeitsgericht Hannover zu bestimmen. Die Bestimmung des zuständigen Gerichts ist nach § 36 Abs. 1 Nr. 1 ZPO erforderlich. Im Rahmen der zuständigkeitsbegründenden Bestimmung eines an sich unzuständigen Gerichts ist nach Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten und unter Berücksichtigung der Prozesswirtschaftlichkeit auszuwählen (vgl. Schleswig-Holstein OLG vom 27.03.2023 - 2 AR 4/23 Rd-Nr. 11) Aus Zweckmäßigkeits- und Prozesswirtschaftlichkeitsgründen ist an das örtlich nächstgelegene Arbeitsgericht zu verweisen, welches für beide Parteien ohne besondere Erschwernisse zu erreichen ist. Das ist bei dem Standort in Hannover der Fall. Beide Prozessbevollmächtigte der Beteiligten haben sich auch in diesem Sinne erklärt.
III.
Gegen die Entscheidung ist kein Rechtsmittel gegeben (§ 49 Abs. 3 ArbGG). Die Entscheidung war ohne mündliche Verhandlung mit der Kammer zu treffen (§ 49 Abs. 1 i.V.m. § 64 Abs. 6 ArbGG). Eine Kostenentscheidung ist nicht zu treffen, weil das Verfahren Teil des Hauptsacheverfahrens ist.