Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Urt. v. 01.07.2024, Az.: 1 Sa 636/23

Höhe der Vergütungsansprüche eines Arbeitnehmes für seine Tätigkeit als hierfür freigestelltes Betriebsratsmitglied; Darlegungs- und Beweislast des Betriebsratsmitglieds für seine tätigkeitsbezogene Benachteiligung

Bibliographie

Gericht
LAG Niedersachsen
Datum
01.07.2024
Aktenzeichen
1 Sa 636/23
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2024, 21672
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LAGNI:2024:0701.1Sa636.23.00

Verfahrensgang

vorgehend
ArbG Braunschweig - 30.08.2023 - AZ: 4 Ca 155/23

Fundstelle

  • ArbR 2024, 490

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Derjenige, der sich auf einen Verstoß gegen das Verbotsgesetz des § 78 S. 2 BetrVG beruft, muss diesen beweisen (BAG 29.August 2018 7 AZR 206/17 Rn. 44). 2. Das Betriebsratsmitglied trägt die Darlegungs- und Beweislast für eine unzulässige Benachteiligung wegen des Betriebsratsamts, wenn es einen Anspruch auf eine höhere Vergütung auf § 611a Abs. 2 BGB i.V.m. § 78 S.2 BetrVG stützt.

  2. 2.

    Der Arbeitgeber trägt die Darlegungs- und Beweislast für einen Verstoß gegen das Begünstigungsverbot des § 78 S. 2 BetrVG, wenn er gegenüber dem Betriebsratsmitglied geltend macht, eine in der Vergangenheit zugesagte und gezahlte Vergütung begünstige ihn unzulässig. Der Arbeitgeber muss in diesem Fall einen Sachverhalt darlegen, der den Schluss auf einen Verstoß gegen das Begünstigungsverbot ermöglicht (BAG 29. August 2018 7 AZR 206/17 Rn. 44; BGH 13. Januar 1983 III ZR 88/81 Rn. 23).

Tenor:

  1. 1.

    Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Braunschweig vom 30. August 2023 - 4 Ca 155/23 - wird auf Kosten der Beklagten zurückgewiesen.

  2. 2.

    Die Revision wird für die Beklagte zugelassen.

Tatbestand

Der Kläger ist freigestelltes Betriebsratsmitglied der Beklagten. Die Parteien streiten über seine Vergütungsansprüche.

Der 0000 geborene Kläger ist seit dem 00.00.0000 für die Beklagte tätig. Er verfügt über die Fachhochschulreife und eine Berufsausbildung zum Groß- und Außenhandelskaufmann. Er war zunächst im Karosseriebau tätig und erhielt dort als "Fertigsteller" eine Vergütung aus Entgeltstufe 11 des auf das Arbeitsverhältnis der Parteien zur Anwendung kommenden Rahmentarifvertrags zur Eingruppierung (RTVE) vom 5. Marz 2018, zuletzt in der Fassung vom 1. Juni 2023. Er war seit 2000 als Mitglied der Vertrauenskörperleitung von der Erbringung der Arbeitsleistung freigestellt. Seit dem 2. Mai 2006 ist er Mitglied des Betriebsrates der Beklagten. Er wurde weiterhin von seiner beruflichen Tätigkeit freigestellt.

Über die Bestimmung der Entgeltentwicklung von Betriebsratsmitgliedern verhält sich die GBV 8/20 (GWV-Vergütung) sowie die hierzu ergangene Durchführungsanweisung-Vergütung (DA) (Anlage B2 zum Schriftsatz der Beklagten vom 28. Juni 2023). Der Kläger erhielt erstmalig am 10. April 2007 die Mitteilung, dass die Kommission Betriebsratsvergütung sein Arbeitsentgelt entsprechend der mit ihm vergleichbaren Arbeitnehmer mit betriebsüblicher Entwicklung gemäß § 37 Abs. 4 BetrVG nach ES 12 angepasst habe (Anlage K3 zur Klageschrift). Mit nahezu gleichlautenden Schreiben der Kommission Betriebsratsvergütung wurden dem Kläger am 2. Juni 2008 eine Erhöhung seines Arbeitsentgelts nach ES 13, am 17. Mai 2010 nach ES 14, am 11. Mai 2012 nach ES 15, am 23. Mai 2014 nach ES 16 und mit Schreiben vom 08. Juni 2016 nach ES 17 mit Wirkung ab 1. Juli 2016 mitgeteilt. Nach § 12.2 RTVE werden Beschäftigte spätestens nach 2jähriger Erfahrungszeit in die nächsthöhere gerade Entgeltstufe eingestuft.

Der Kläger bestand 2013 die Prüfung vor der IHK L. nach der Ausbildereignungsverordnung (Bl. 20 der Vorakte); 2014 die Prüfung vor der IHK W. zum "geprüften Personalfachkaufmann" (Bl. 21 der Vorakte) und 2015 die Prüfung zum "Betriebswirt" (Bl. 22 der Vorakte).

2014/2015 wurden im neu geschaffenen Bereich HR Personal verschiedene Stellen ausgeschrieben als HR Business Partner sowie als Personalreferent. Als HR Business Partner ist die Entwicklung bis in die ES 17 möglich, als Personalsachbearbeiter z. B. für die Bereiche Zeitwertpapiere und Rentenmanagement die Entwicklung bis zur ES 19. Der Kläger erfüllt alle formalen Voraussetzungen für eine Stelle im Personalbereich als "HR Business Partner" oder als "Personalreferent". Der Kläger nahm von einer Bewerbung auf eine der ausgeschriebenen Stellen Abstand, er wollte als freigestelltes Betriebsratsmitglied weiterarbeiten.

0000 waren bei der Beklagten erneut mehrere Stellen als "HR Business Partner" und als "Personalreferent" vakant, die eine Vergütung bis zur ES 19 sowie eine Entwicklung in den Bereich "Tarif Plus" ermöglicht hätten. Der Kläger bewarb sich auch diesmal nicht, ein Stellenangebot der Beklagten an den Kläger gab es nicht. Die Beklagte übertrug eine Stelle Herrn Wolfgang K., der sich mit dem Kläger zum Personalfachkaufmann weitergebildet hat. Herr K. bestand die Prüfung mit einer schlechteren Durchschnittsnote, er hat sich auch nicht zum geprüften Betriebswirt weitergebildet.

Über die Chancen des Klägers bei einer unterstellten Bewerbung verhält sich eine E-Mail der Personalverantwortlichen Frau K. vom 19. Juni 2023 (Anlage B7 zum Schriftsatz der Beklagten vom 6. Juli 2023, Bl. 88.0.DD der Vorakte):

"Rein fachlich hat Herr A. die Formalqualifikation der Personalfachkraft und passt damit grundsätzlich in den Bereich Personal. Persönlich habe ich so gut wie keine Berührungspunkte operativ in der Zusammenarbeit mit Herrn A..... Hätte er sich auf eine meiner häufiger ausgeschriebenen Stellen beworben, was aus meiner Sicht nie der Fall war, wäre er nicht meine (erste) Wahl gewesen, da wir aktuell gute andere Bewerber haben und hatten, denen ich Vorrang gegeben hätte. Als BP eignen sich für den Bereich P durchaus Personaler, Führungskräfte oder Finanzer; BR-seitig haben wir lediglich wenige und auch nicht gute Erfahrungen gesammelt. Objektiv betrachtet hätte ich daher von der Auswahl eines weiteren BR Abstand genommen, zumal ich wie geschrieben, keine Kenntnisse über die Arbeitsweise von Herrn A. habe."

Im Nachgang zur Entscheidung des BGH vom 10. Januar 2023 (6 StR 133/22) überprüfte die Beklagte ihr System der Bemessung der Betriebsratsvergütung. Sie nahm für den Kläger eine (anonymisierte) Vergleichsgruppenbetrachtung zum 1. Januar 2002 vor (Anlage B5 zum Schriftsatz der Beklagten vom 6. Juli 2023; Bl. 88.0.CX); dabei verglich sie die Vergütungsentwicklung des Klägers mit denjenigen Karosseriewerkern, die wie der Kläger berufsfremd in dieser Funktion eingesetzt wurden. Von den zum Zeitpunkt 01.01.2002 alle nach ES 11 vergüteten Vergleichsgruppenmitarbeiter/innen entwickelte sich eine Person in die ES 17 und weitere sieben Personen in die ES 12. Der Median liegt bei ES 11.

Auf der Grundlage dieser Vergleichsgruppenbetrachtung teilte die Beklagte dem Kläger am 27. Februar 2023 mit, er sei nach § 37 Abs. 4 BetrVG in die ES 11 einzustufen. Seit Februar 2023 zahlt die Beklagte an den Kläger Vergütung nach ES 11; mit den Gehaltsabrechnungen Mai und Juni 2023 hat sie vermeintliche Überzahlungen in Höhe von 1810,53€ netto und 321,53€ netto einbehalten.

Mit der Klage begehrt der Kläger nach näherer Aufschlüsselung (Schriftsatz vom 19. Juli 2023 - Bl. 103 ff der Vorakte) seit 2019 Zahlung einer Vergütung nach ES 18, des ihm nach seiner Auffassung nach Ablauf der 2jährigen Erfahrungszeit in ES 17 zustehenden Entgelts. Er hat 2019 Zahlung der Vergütung aus ES 18 geltend gemacht, die Beklagte hat auf die Einhaltung der tariflichen Ausschlussfristen verzichtet.

Der Kläger stützt seinen Anspruch auf das Schreiben der Beklagten vom 8. Juni 2016 und die dortige Zusage der Vergütung nach ES 17. Diese Vergütung entspreche auch seiner hypothetischen Karriereentwicklung, da er sich auf mehrere Stellen im Bereich HR erfolgreich hätte bewerben können; eine Ablehnung seiner fiktiven Bewerbung hätte ihn wegen seiner Arbeit als Betriebsrat benachteiligt. Die Vergleichsgruppenbildung sei fehlerhaft, weil die Beklagte auf das Jahr 2002 und nicht auf den Zeitpunkt des Beginns seiner Betriebsratstätigkeit am 2. Mai 2006 abgestellt habe; zudem sei der Personenkreis aufgrund der Anonymisierung nicht einlassungsfähig. Auf Grund seiner Qualifikationen habe die Beklagten ihn nicht mit Karosseriebauern sondern mit Mitarbeitenden aus dem kaufmännischen Bereich vergleichen müssen.

Der Kläger hat beantragt,

  1. 1.

    die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 27.136,50 € brutto und 2.131,83 € netto zuzüglich Zinsen i. H. v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.03.2023 auf 1.798,00 €, auf weitere 1.798,00 € seit dem 01.04.2023, auf weitere 1.798,00 € seit dem 02.05.2023, auf weitere 1.798,00 € seit dem 01.06.2023, auf weitere 1.891,50 € seit dem 01.07.2023 und auf weitere 18.053,00 € seit dem 25.07.2023 zu zahlen;

  2. 2.

    festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger seit dem 01.07.2018 entsprechend den jeweils geltenden tarifvertraglichen und betrieblichen Regelungen der Beklagten für Beschäftigte in der Entgeltstufe 18 durchzuführen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen,

und widerklagend,

  1. 1.

    den Kläger zu verurteilen, an die Beklagte 5.344,79 € nebst Zinsen i. H. v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus jeweils 1.336,20 € seit dem 30.11.2022, 31.12.2022, 31.01.2023 und 28.02.2023 zu zahlen;

  2. 2.

    festzustellen, dass der Kläger zutreffend in Entgeltgruppe 11 eingruppiert ist.

Der Kläger hat beantragt,

die Widerklage abzuweisen.

Die Beklagte vertritt die Auffassung, die Zahlung einer Vergütung nach ES 17 verstoße gegen das Begünstigungsverbot des § 78 S. 2 BetrVG, dem Kläger stehe lediglich eine Vergütung nach ES 11 zu. Die in der Vergangenheit vorgenommene Vergleichsgruppenbetrachtung habe nicht den Maßstäben der Rechtsprechung genügt; es sei lediglich geprüft worden, ob sich der Kläger noch innerhalb der Spannbreite der Vergütung der gesamten Organisationseinheit bewegt habe. Nach dem Erwerb der Zusatzqualifikation des Betriebswirts sei für den Kläger eine neue Vergleichsgruppe aus Arbeitnehmern mit eben dieser Qualifikation gebildet worden. Richtigerweise habe aber auf die Vergleichsgruppe der Karosseriebauer mit fachfremder Ausbildung abgestellt werden müssen; da aus dem Jahr 2000, dem Zeitpunkt der Aufnahme der Tätigkeit als Vertrauenskörper der Gewerkschaft, keine Daten mehr vorhanden gewesen sein, habe sie auf den Januar 2002 abstellen müssen. Für die vakanten Positionen im Personalbereich 2020 habe es Bewerber gegeben, die dem Kläger vorgezogen worden wären. Die Beklagte sehe sich durch die BGH-Entscheidung vom 10. Januar 2023 und den dort aufgeworfenen Strafbarkeitsrisiken gehindert, hypothetische Entwicklungsmöglichkeiten zu berücksichtigen.

Das Arbeitsgericht hat der Klage mit Urteil vom 30. August 2023 stattgegeben und die Widerklage abgewiesen. Der Kläger habe nach § 611a Abs. 2 BGB nach Ablauf der 2jährigen Erfahrungszeit einen arbeitsvertraglichen Anspruch auf Vergütung nach der ES 18. Die Mitteilung der Beklagten vom 1. Juli 2016 mit der Zusage einer Vergütung nach ES 17 sei als Vertragsangebot zu verstehen gewesen, welches der Kläger konkludent angenommen habe (§ 151 BGB). Die insoweit darlegungs- und beweispflichtige Beklagte habe nicht dargelegt, dass die zwischen den Parteien bestehende Vergütungsvereinbarung wegen eines Verstoßes gegen das Begünstigungsverbot des § 78 S. 2 BetrVG nach § 134 BGB nichtig sei. Es sei nicht auszuschließen, dass der Kläger im Sinne einer hypothetischen Karriereentwicklung ohne die Ausübung des Betriebsratsamtes und der damit verbundenen Freistellung einen beruflichen Aufstieg in den Bereich HR mit einer Vergütung nach ES 17 bzw. ES 18 vollzogen hätte. Der Kläger habe Fort- und Weiterbildungen gemacht, die er auch ohne das Betriebsratsamt hätte machen können und die unmittelbar an seine berufliche Ausbildung angeknüpft hätten. Ein Rückzahlungsanspruch im Rahmen der Widerklage bestehe deshalb auch nicht. Auf den Tatbestand und die weitergehenden Gründe der Entscheidung wird verwiesen.

Die Beklagte hat gegen das Urteil frist- und formgerecht Berufung eingelegt und begründet. Sie begehrt weiterhin die vollumfängliche Abweisung der Klage und verfolgt die Widerklage weiter. Den Vergütungsmitteilungen der Beklagten komme keine konstitutive Wirkung bei, zudem sei das Arbeitsgericht rechtsirrig davon ausgegangen, dass die Beklagte die volle Darlegungs- und Beweislast für eine überhöhte Vergütung trage. Die Beklagte habe im Rahmen einer abgestuften Darlegungs- und Beweislast ausreichend vorgetragen, der Kläger sei dem nicht substantiiert entgegengetreten. Sofern eine hypothetische Karriere nach der Entscheidung des BGH überhaupt noch für die Bemessung des Entgeltes herangezogen werden könne, fehlten konkrete Indizien und sei deshalb die Betriebsüblichkeit der Vergütungsentwicklung maßgeblich. Nach einer Vergleichsgruppenbetrachtung habe es bei der Vergütung nach ES 11 zu verbleiben. Der nicht substantiierte Vortrag des Klägers, 2014/2015 bzw. 2020 eine Position im Personalbereich übernehmen zu können, genüge nicht, um eine entsprechende Entwicklung des Klägers nach zu zeichnen. Die zuständige Personalverantwortliche habe in Bezug auf eine hypothetische Entwicklung im Jahr 2020 klar bekundet, dass stets bessere geeignete Kandidaten als der Kläger vorhanden gewesen seien. Eine lediglich "konkrete Chance" zur Begründung einer hypothetischen Entwicklung reiche nicht aus. Zudem sei angesichts der fortgesetzten Verfolgung durch die Staatsanwaltschaft von der Beklagten nicht zu erwarten, an den Kläger eine Vergütung zu zahlen, die nicht auf einer strengen Vergleichsgruppenbetrachtung fuße.

Der Kläger verteidigt die angefochtene Entscheidung und begehrt die Zurückweisung der Berufung der Beklagten. Die Vergütungsmitteilungen der Beklagten hätten auf Seiten des Klägers ein berechtigtes Vertrauen auf den verbindlichen Charakter der mitgeteilten Vergütung begründet. Ein Betriebsratsmitglied werde dadurch veranlasst, sich gerade nicht auf freie "Beförderungsstellen" zu bewerben oder sich diese als Grundlage einer möglichen hypothetischen Karriereentwicklung zu vermerken. Es sei für ein Betriebsratsmitglied kaum möglich, die ursprünglich von beiden Parteien für richtig gehaltene Eingruppierung zu belegen, wenn der Arbeitgeber diese Eingruppierung auch nach langem Zuwarten durch einfache Mitteilung faktisch aus der Welt schaffen könne. Die Verteilung der Darlegungs- und Beweislast ergebe sich aus der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zur korrigierenden Rückgruppierung durch den Arbeitgeber; auch da habe der Arbeitgeber die objektive Fehlerhaftigkeit der von ihm zunächst vorgenommenen Eingruppierung darzulegen und zu beweisen. Das Arbeitsgericht sei deshalb zutreffend zum Ergebnis gekommen, dass nicht ausgeschlossen werden könne, dass der Kläger eine berufliche Entwicklung als "HR Business Partner" oder "Personalreferent" mit einer Vergütung nach ES 17 oder 18 genommen habe.

Bezüglich des weiteren Vorbringens der Parteien wird Bezug genommen auf die wechselseitigen Berufungsschriftsätze sowie auf die Erörterung in der mündlichen Verhandlung vom 1. Juli 2024.

Entscheidungsgründe

Die frist- und formgerecht eingelegte und begründete Berufung der Beklagten ist unbegründet. Das Arbeitsgericht hat zu Recht der Klage stattgegeben und die Widerklage zurückgewiesen.

I.

Die Klage ist begründet. Der Kläger hat nach §§ 611a Abs. 2 BGB, 37 Abs. 2, 4, 78 S.2 BetrVG i.V.m. der Mitteilung der Beklagten vom 1. Juli 2016 und § 12.2 RTVE Anspruch auf Vergütung nach ES 18 im Klagezeitraum. Die Beklagte hat nicht dargelegt, dass die mit Wirkung vom 1. Juli 2016 mitgeteilte Erhöhung der Vergütung nach ES 17, aus der nach Ablauf der 2jährigen Erfahrungszeit ein Anspruch aus der ES 18 resultiert, den Kläger nach § 78 S. 2 BetrVG unzulässig begünstigt.

1.

Über die Bestimmung mit der Entgeltentwicklung von Betriebsratsmitgliedern verhält sich die GBV 08/20 (GBV Vergütung) sowie die hierzu ergangene Durchführungsanweisung (DA). Der Kläger hat mit Schreiben der Beklagten vom 8. Juni 2016 (Anlage K8 zur Klageschrift, Bl. 29 der Vorakte) die Mitteilung über die Zahlung einer Vergütung nach ES 17 RTVE erhalten. Darin liegt zwar entgegen der Auffassung des Arbeitsgerichts kein Angebot auf vertragliche Abänderung der vereinbarten Vergütung, welches der Kläger konkludent gem. § 151 BGB angenommen hat. Die Auslegung des Schreibens vom 8. Juni 2016, wonach sich das Monatsentgelt entsprechend der mit dem Kläger vergleichbaren Arbeitnehmer mit betriebsüblicher Entwicklung zum 1. Juli 2016 nach Entgeltstufe 17 erhöht, am Maßstab von §§ 133, 157 BGB lässt bereits durch die Bezugnahme auf die betriebsübliche Entwicklung vergleichbarer Arbeitnehmer für den Empfänger deutlich werden, dass die Beklagte (nur) ihrer Verpflichtung nach § 37 Abs. 4 BetrVG nachkommen und dem Kläger auf Grundlage der gesetzlichen Regelungen für die Vergütung von Betriebsratsmitgliedern die ihm zustehende Vergütung zahlen wollte. "Erhöht" sich, wie es in dem Schreiben wörtlich heißt, das Monatsentgelt; ist für den Empfänger einer solchen Mitteilung hinreichend erkennbar, dass nicht das Angebot einer Vertragsänderung unterbreitet werden soll sondern sich die "Erhöhung" automatisch vollzieht.

2.

Dessen ungeachtet hat die Vergütungsmitteilung ein berechtigtes Vertrauen des Klägers dahingehend begründet, dass die Beklagte auf Grundlage der GBV Vergütung und der dazu ergangenen DA die betriebsübliche Entwicklung vergleichbarer Mitarbeitender und seine berufliche Entwicklung gewürdigt und die ihm als freigestelltes Mitglied gesetzlich zustehende erhöhte Entgelt zahlt. Beruft sich der Arbeitgeber wie vorliegend die Beklagte erst nach 7 Jahren darauf, dass die zugesagte Erhöhung der Vergütung das Betriebsratsmitglied nach § 78 S. 2 BetrVG unzulässig begünstigt, so ist der Arbeitgeber für das Vorliegen einer unzulässigen Vergünstigung darlegungs- und beweisverpflichtet.

a)

Das Betriebsratsmitglied trägt grundsätzlich die Darlegungs- und Beweislast, wenn er wegen unzulässiger Benachteiligung wegen des Betriebsratsamts einen Anspruch auf eine höhere Vergütung aus § 611a Abs. 2 BGB i.V.m. § 78 S.2 BetrVG gegenüber dem Arbeitgeber geltend macht. Derjenige, der ein Recht für sich in Anspruch nimmt, trägt die Darlegungs- und Beweislast für die anspruchsbegründenden Tatsachen (BAG 20. Januar 2021 - 7 AZR 52/20 - Rn. 24). Behauptet er, dass er ohne Ausübung seines Amtes oder ohne Freistellung durch Beförderung einen beruflichen Aufstieg genommen hätte, kann er insoweit vortragen, dass seine Bewerbung auf eine bestimmte Stelle gerade wegen seiner Freistellung und / oder seiner Betriebsratstätigkeit erfolglos geblieben ist. Hat er sich auf eine bestimmte Stelle tatsächlich nicht beworben, kann und muss er zur Begründung des fiktiven Beförderungsanspruchs darlegen, dass er die Bewerbung gerade wegen seiner Freistellung unterlassen und eine Bewerbung ohne die Freistellung erfolgreich gewesen wäre. Hätte eine tatsächliche oder eine fiktive Bewerbung keinen Erfolg gehabt, steht dies einem Anspruch nicht zwingend entgegen. Scheitert nämlich eine tatsächliche oder eine fiktive Bewerbung des freigestellten Amtsträgers an fehlenden aktuellen Fachkenntnissen oder daran, dass der Arbeitgeber sich zur Beurteilung der fachlichen und beruflichen Qualifikationen in Folge der Freistellung außerstande gesehen hat, so ist zwar die Entscheidung des Arbeitgebers für den als qualifizierter erachteten Bewerber nicht zu beanstanden. Gleichwohl kann in einem solchen Fall ein fiktiver Beförderungsanspruch des Amtsträgers bestehen, wenn das Fehlen von feststellbarem aktuellen Fachwissen gerade aufgrund der Freistellung eingetreten ist (vgl. BAG 4. November 2015 - 7 AZR 972/13 - Rn. 31; 20. Januar 2021 - 7 AZR 52/20 - Rn. 23).

b)

Spiegelbildlich wechselt die Darlegungs- und Beweislast auf den Arbeitgeber, wenn er gegenüber dem Betriebsratsmitglied geltend macht, eine in der Vergangenheit zugesagte und gezahlte Vergütung verstoße gegen das Begünstigungsverbot des § 78 S.2 BetrVG. Der Arbeitgeber muss in diesem Fall einen Sachverhalt darlegen, der den Schluss auf eine unzulässige Begünstigung ermöglicht (BAG 29. August 2018 - 7 AZR 206/17 - Rn. 44; BGH 13. Januar 1983 - III ZR 88/81 - Rn. 23); auch dies entspricht dem allgemeinen Grundsatz, dass derjenige, der sich auf einen Verstoß gegen ein Verbotsgesetz beruft, diesen beweisen muss (BAG 29. August 2018 - 7 AZR 206/17 - a.a.O.) Solange somit eine höhere Vergütung zwischen den Parteien im Streit und noch nicht durch den Arbeitgeber zugesagt ist, trägt deshalb das Betriebsratsmitglied die Darlegungs- und Beweislast für einen Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot des § 78 S. 2 BetrVG; möchte der Arbeitgeber, der eine höhere Vergütung zugesagt hat, sich von dieser unter Berufung auf einen Verstoß gegen das Begünstigungsverbot des § 78 S. 2 BetrVG wieder lösen, so muss er den Verstoß gegen das Verbotsgesetz darlegen und beweisen.

c)

Die Beklagte hat dem Kläger mit Schreiben vom 8. Juni 2016 eine Vergütung nach ES 17 mitgeteilt und macht 7 Jahre später geltend, diese Vergütung begünstige ihn nach § 78 S. 2 BetrVG unzulässig. Es obliegt in dieser Konstellation nicht dem Kläger, nach Einstellung der Zahlung der zugesagten Vergütung im Nachhinein retrospektiv einen Vergütungsanspruch aus § 37 Abs. 4 BetrVG bzw. § 611a Abs. 2 i. V. m. § 78 S. 2 BetrVG darzulegen und zu beweisen. Dies ist einem Betriebsratsmitglied, das auf die Gesetzmäßigkeit der zugesagten Vergütung vertraut, regelmäßig nicht möglich. Es widerspricht jeglicher Lebenserfahrung, einen Arbeitnehmer zu verpflichten, vorausschauend trotz Prüfung durch den Arbeitgeber und jahrelanger Zahlung einer vermeintlich übersetzten Vergütung Unterlagen vorzuhalten und Beweismittel zu sichern, die es ihm im Streitfall ermöglichen, die Rechtmäßigkeit der gezahlten Vergütung darzulegen. Es obliegt deshalb dem Arbeitgeber, zunächst einen schlüssigen Sachverhalt darlegen, aus dem sich ein Verstoß gegen das Begünstigungsverbot des § 78 S.2 BetrVG ableiten lässt. Legt der Arbeitgeber einen solchen Sachverhalt aber schlüssig dar, ist es sodann Sache des Betriebsratsmitglieds, sich substantiiert hierauf einzulassen und diesen gegebenenfalls zu entkräften. Dazu kann in einem solchen Fall gehören, dass er Tatsachen dafür vorträgt, die den Rückschluss auf eine gesetzesmäßig ermittelte und vollzogene Vergütung erlauben. Bleiben entscheidungserhebliche Tatsachen im Streit, obliegt der Beweis dafür, dass die mitgeteilte und gezahlte Vergütung gegen das Begünstigungsverbot des § 78 S.2 BetrVG verstößt, dem Arbeitgeber.

3.

Gemessen daran, hat die Beklagte, wie das Arbeitsgericht richtig herausgearbeitet hat, nicht substantiiert dargelegt, dass die Vergütungsmitteilung vom 8. Juni 2016 gegen das Begünstigungsverbot des § 78 S. 2 BetrVG verstößt.

a)

Die Beklagte beruft sich darauf, dass die betriebsübliche Entwicklung vergleichbarer Arbeitnehmer nach § 37 Abs. 4 BetrVG nicht über die Vergütungsstufe ES 11 des RTVE hinausgegangen sei, weil von den 17 Mitarbeiter im Karosseriebau mit fachfremder Ausbildung der Median in der Vergütungsstufe ES 11 geblieben sei. Soweit die Kommission zur Festlegung der Vergütungen der Betriebsräte als Grundlage für die Bemessung die Organisationseinheit des Klägers insgesamt in Ansatz gebracht habe, habe es sich nicht um vergleichbare Arbeitnehmer mit dem Kläger gehandelt.

b)

Mit diesem Vortrag wird eine unzulässige Begünstigung nach § 78 S. 2 BetrVG nicht dargelegt. Die Darlegung scheitert bereits daran, dass die von der Beklagten gebildete Vergleichsgruppe der Mitarbeiter im Karosseriebau mit fachfremder Ausbildung nicht zum Zeitpunkt des Eintritts des Klägers in das Amt eines Betriebsrats im Jahr 2006 gebildet worden ist. Dies ist der Zeitpunkt, der nach § 37 Abs. 4 BetrVG maßgeblich ist. Zudem mangelt es daran, dass eine anonymisierte Liste für den Kläger nicht einlassungsfähig ist. Es ist für ihn nicht zu erkennen, mit welchen Arbeitnehmern die Beklagte ihn betriebsüblich vergleichen möchte. Damit ist, soweit nur die betriebsübliche Entwicklung des § 37 Abs. 4 BetrVG betroffen ist, ein Verstoß gegen das Begünstigungsverbot nicht dargelegt.

c)

Es kommt entscheidend hinzu:

aa) Unstreitig zwischen den Parteien ist, dass der Kläger sich fachlich weiterentwickelt hat, in dem er 2013 die Ausbildungseignungsprüfung, 2014 die Ausbildung zum Personalfachkaufmann und 2015 den Abschluss als geprüfter Betriebswirt vor der IHK in W. abgelegt hat. Unstreitig ist weiter, dass sowohl im Jahr 2014 und 2015 wie auch im Jahr 2020 etliche Stellen im Personalbereich frei waren, die dem Kläger einen Aufstieg in die Vergütungsgruppe ES 17 oder aufwärts ermöglicht hätten. Unstreitig ist weiter, dass der Kläger aufgrund seiner beruflichen Weiterentwicklung alle formalen Voraussetzungen für die Übernahme einer Stelle im Personalbereich als HR-Business-Partner oder als Personalreferent mitgebracht hat. Und schließlich sind die Beweggründe der Personalauswahl der Beklagten im HR Bereich transparent geworden. Die Personalverantwortliche im HR-Bereich hat in Bezug auf die Perspektiven des Klägers ausgeführt, der Kläger wäre nicht ihre erste Wahl gewesen, weil es gute andere Bewerber gegeben habe. Sie hat sodann aber ausgeführt, dass sie mit Betriebsräten bisher wenige und keine guten Erfahrungen im Personalbereich gesammelt habe und von der Auswahl eines weiteren Betriebsrats Abstand genommen hätte. Schließlich ist unstreitig, dass ein weiterer Arbeitnehmer, der mit dem Kläger die Ausbildung zum Personalfachkaufmann zeitgleich verrichtet und mit schlechteren Ergebnissen abgeschlossen hatte und der über keine Weiterbildung zum geprüften Betriebswirt verfügt, in den Personalbereich aufgestiegen ist.

bb). Dieser Sachverhalt streitet gegen einen Verstoß gegen das Begünstigungsverbot des § 78 S. 2 BetrVG. Es ist unerheblich, dass der Kläger sich nicht auf ein dieser Stellen beworben hat, weil er weiter freigestelltes Betriebsratsmitglied bleiben wollte. Der unstreitige Sachverhalt weist darauf hin, dass die dem Kläger am 8. Juni 2016 mitgeteilte Vergütung nicht gegen das Begünstigungsverbot des § 78 S.2 BetrVG verstoßen hat, weil die Kommission mit Recht einen beruflichen Aufstieg in den Personalbereich zur Grundlage der Vergütungsmitteilung machen konnte. Die für einen Verstoß gegen das Begünstigungsverbot des § 78 S. 2 BetrVG darlegungs- und beweispflichtige Beklagte hat vor diesem Hintergrund nicht im Ansatz ausreichend dargelegt, dass eine (fiktive) Bewerbung des Klägers auf eine solche Stelle keinen Erfolg gehabt hätte. Im Gegenteil ist davon auszugehen, dass der Kläger lediglich wegen seiner Freistellung als Betriebsrat nicht in die erste Wahl gezogen worden wäre und deshalb nach § 78 S. 2 BetrVG für den Fall einer Bewerbung wegen seiner Betriebsratsarbeit benachteiligt worden wäre.

cc) Ohne Relevanz ist für die vorliegende Entscheidung, ob nach Auffassung des BGH (Urteil vom 6. Januar 2023 - 6 StR 133/22) nach wie vor eine hypothetische berufliche Entwicklung zur Grundlage der Vergütung eines freigestellten Betriebsratsmitglieds gemacht werden kann. Maßgeblich für die arbeitsrechtliche Beurteilung dieser Frage ist die Rechtsprechung des BAG zur Reichweite eines Anspruches aus §§ 611a Abs. 2 BGB, 78 S. 2 BetrVG. Sollte es unterschiedliche Auffassungen zu dieser Rechtsfrage geben, wäre die Einheitlichkeit der Rechtsprechung durch den Gemeinsamen Senat der Obersten Gerichtshöfe wieder herzustellen.

4.

Da ein Verstoß gegen das Begünstigungsverbot des § 78 S. 2 BetrVG durch die Beklagte nicht dargelegt worden ist, hatte der Kläger zunächst Anspruch auf die ihm im Juni 2016 mit Wirkung zum 1. Juli 2016 mitgeteilte Vergütung aus ES 17. Da aus dieser Vergütungsgruppe nach § 12.2. RTVE nach 2jähriger Erfahrungszeit zum 1. Juli 2018 die Höhergruppierung in die ES 18 tariflich erfolgte, hat er im Klagezeitraum ab 2019 Anspruch auf eine Vergütung aus der Vergütungsgruppe ES 18; insoweit handelt es sich um schlichten tariflichen Normvollzug, der bei einem (fiktiven) Wechsel in den Personalbereich eingetreten wäre. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts B-Stadt war deshalb zurückzuweisen, soweit sie sich gegen die ausgeurteilten Vergütungsansprüche aus der Vergütungsgruppe ES 18 richtet.

II.

Die Berufung ist weiter ohne Erfolg, soweit die Beklagte ihren Widerklageantrag weiterverfolgt. Aus vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass der Einbehalt von Vergütung rechtlich nicht zulässig war; gleichermaßen besteht kein Anspruch auf Feststellung, dass sich die Vergütungsansprüche des Klägers aus der Vergütungsgruppe ES 11 ergeben.

III.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO, die Zulassung der Revision aus § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG.