Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 28.05.2024, Az.: 11 TaBV 76/23

Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats zur Einführung eines Zusatzurlaubs für Beschäftigte mit mehr als 25-jähriger Betriebszugehörigkeit

Bibliographie

Gericht
LAG Niedersachsen
Datum
28.05.2024
Aktenzeichen
11 TaBV 76/23
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2024, 20742
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LAGNI:2024:0528.11TaBV76.23.00

Verfahrensgang

vorgehend
ArbG Lüneburg - 17.08.2023 - AZ: 2 BV 7/22

Amtlicher Leitsatz

§ 12 I A Nr. 10 des Bundesmanteltarifvertrages (BMTV) für die Süßwarenindustrie eröffnet kein erzwingbares Mitbestimmungsrecht (Initiativrecht) des Betriebsrats zur Einführung eines Zusatzurlaubs für Beschäftigte mit mehr als 25-jähriger Betriebszugehörigkeit.

Tenor:

  1. 1.

    Die Beschwerde des Beteiligten zu 2. gegen den Beschluss des Arbeitsgerichts Lüneburg - 2 BV 7/22 - vom 17.08.2023 wird zurückgewiesen.

  2. 2.

    Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen.

Gründe

I.

Die Beteiligten streiten um die Wirksamkeit des Spruches einer Einigungsstelle.

Die Beteiligte zu 1. stellt in ihrer Betriebsstätte U. S. her. Der Beteiligte zu 2. ist der für die Betriebsstätte U. gebildete Betriebsrat bei der Beteiligten zu 1. Im Betrieb der Beteiligten zu 1. findet der Bundesmanteltarifvertrag für die Angestellten, gewerblichen Arbeitnehmern und Auszubildenden der S. (im folgenden BMTV) zwischen dem Bundesverband der Deutschen S. e. V. und der Gewerkschaft N-G-G Anwendung.

Die Beteiligten des Verfahrens vertreten unterschiedliche Rechtsauffassungen zu der Frage, ob sich aus § 12 1 A 10 BMTV ein erzwingbares Mitbestimmungsrecht des Beteiligten zu 2. zur Einführung eines Zusatzurlaubes für langjährig Beschäftigte ergibt.

Der BMTV vom 02.01.1950 (Bl. 53 ff. d.A. 1. Inst.) enthielt - dort noch in § 11 Nr 4. - eine Regelung über die Dauer des Erholungsurlaubes, gestaffelt nach Lebensalter und Betriebszugehörigkeit. Die Staffelung mit der höchsten Betriebszugehörigkeit erfasste alle Arbeitnehmer mit einer Beschäftigungszeit ab 11 Jahren (vgl. Bl. 62 d.A.).

Ferner enthielt § 11 Nr. 4 BMTV folgende Regelung:

"Die Gewährung eines zusätzlichen Urlaubes für Arbeitnehmer, die länger als 25 Jahre dem Betrieb angehören, wird betrieblicher Regelung empfohlen."

Im BMTV in der Fassung vom 13.12.1952 (Bl. d.A. 1. Inst.) ist diese Regelung unter Beibehaltung der Staffelung des Urlaubes in § 11 1 A Nr. 9 sprachlich neu gefasst worden. Sie lautete:

"Die Gewährung eines zusätzlichen Urlaubes für Arbeitnehmer, die länger als 25 Jahre dem Betrieb angehören, ist betrieblich zu regeln." (vgl. Blatt 111 d.A.).

In dem BMTV in der Fassung vom 14.05.2007 (Bl. 21 ff. d.A. 1. Inst.) finden sich die Regelungen über den Urlaub der Beschäftigten nunmehr in § 12 des Tarifvertrages. Eine Staffelung des Urlaubes nach Lebensalter oder Beschäftigungszeit enthält die tarifvertragliche Regelung nicht mehr. In § 12 1 A Nr. 9 heißt es jetzt:

"Die Dauer des Urlaubes beträgt für alle Arbeitnehmer 30 Tage."

§ 12 1 A Nr. 10 BMTV lautet:

"Die Gewährung eines zusätzlichen Urlaubs für Arbeitnehmer, die dem Betrieb länger als 25 Jahre angehören, ist betrieblich zu regeln."

Der Beteiligte zu 2. ist der Auffassung, dass sich aus der derzeitigen tarifvertraglichen Regelung ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates zur Einführung eines Urlaubsanspruches für Arbeit-nehmer ergibt, welche über eine Betriebszugehörigkeit von mehr als 25 Jahren verfügen. Der Beteiligte zu 2. leitete daher im Jahr 2021 ein Beschlussverfahren zur Einsetzung einer Einigungsstelle zum Regelungsgegenstand der Gewährung eines zusätzlichen Urlaubs gemäß § 12 1 A Nr. 10 BMTV ein. In dem Verfahren vor dem Arbeitsgericht Lüneburg 4 BV 5/21 schlossen die Beteiligten einen Vergleich mit dem Inhalt, dass eine entsprechende Einigungsstelle eingesetzt und der Richter am Arbeitsgericht A. als Vorsitzender der Einigungsstelle bestellt wurde.

In ihrer Sitzung am 03.12.2021 fällte die Einigungsstelle einen Spruch, nach dessen Inhalt Beschäftigte des Betriebes der Beteiligten zu 1. gestaffelt nach einer Beschäftigungszeit von mehr als 25, 30 und 35 Jahren Anspruch auf einen zusätzlichen Urlaub von bis zu 4 Arbeitstagen im Urlaubsjahr erwerben. Wegen der Einzelheiten des Spruches der Einigungsstelle vom 3.12.2021 und der Begründung wird auf Blatt 78 ff. d. A. 1. Inst. verwiesen.

Diesen Spruch hat die Beteiligte zu 1. in dem Verfahren vor dem Arbeitsgericht Lüneburg 2 BV 1/22 angefochten. Sie hat formale Rügen hinsichtlich des wirksamen Zustandekommens des Spruches erhoben und vertrat ferner die Rechtsauffassung, dass die Einigungsstelle mangels Vorliegen eines Mitbestimmungsrechtes bereits nicht zuständig gewesen sei. Der Beteiligte zu 2. hat den Anspruch auf Feststellung der Unwirksamkeit des Spruches anerkannt. Mit Anerkenntnisbeschluss hat das Arbeitsgericht darauf hin festgestellt, dass der Spruch der Einigungsstelle vom 07. 12.2021 unwirksam ist. Dieser Beschluss ist rechtskräftig.

Mit Schreiben vom 00.00.0000 beantragte der Beteiligte zu 2. bei der Beteiligten zu 1. den Fortgang der ursprünglichen Einigungsstelle in der ursprünglichen Besetzung. Die Beteiligte zu 1. erhob Bedenken gegen die Zulässigkeit der Fortsetzung des ursprünglichen Einigungsstellenverfahrens. Die Beteiligte zu 1. beantragte mit Schriftsatz vom 00.00.0000, die Einigungsstelle neu zu besetzen, hilfsweise den Richter am Arbeitsgericht Altmüller als Vorsitzenden der Einigungsstelle abzubestellen/ abzulehnen.

Am 00.00.0000 fand eine Sitzung der Einigungsstelle in der ursprünglichen Besetzung statt. Wegen des Verlaufs der Einigungsstellensitzung wird auf das Protokoll vom 00.00.0000 (Bl. 87 ff. d.A. 1. Inst.) verwiesen.

Die Einigungsstelle fällte am 00.00.0000 wiederum den Spruch, Beschäftigten, die dem Betrieb länger als 25 Jahre angehören, gestaffelt nach einer Betriebszugehörigkeit von mehr als 25 Jahren, 30 Jahren und 35 Jahren einen Zusatzurlaub von bis zu 4 Arbeitstagen im Urlaubsjahr zu gewähren. Wegen der Einzelheiten des Spruches und der Begründung wird auf Blatt 90 ff. d.A. 1. Inst. verwiesen.

Mit am 09.12.2022 beim Arbeitsgericht Lüneburg eingegangenem Schriftsatz wendet sich die Beteiligte zu 1. gegen die Wirksamkeit des Spruches der Einigungsstelle vom 04.11.2022.

Mit der Feststellung der Unwirksamkeit des Spruches der Einigungsstelle vom 27.12.2021 in dem Verfahren 2 BV 1/22 vor dem Arbeitsgericht Lüneburg sei das Einigungsstellenverfahren beendet worden. Es sei daher unzulässig gewesen, dass die Einigungsstelle in derselben Zusammensetzung nochmals zusammentrete. Darüber hinaus habe die Einigungsstelle fehlerhaft den von der Beteiligten zu 1. gestellten Befangenheitsantrag nicht beschieden. Nach Auffassung der Beteiligten zu 1. hätte das Einigungsstellenverfahren bis zu einer gerichtlichen Entscheidung über die Befangenheit des Einigungsstellenvorsitzenden ausgesetzt werden müssen.

Im Übrigen sei die Einigungsstelle bereits aus Rechtsgründen nicht zuständig gewesen, da ein Mitbestimmungsrecht des Beteiligten zu 2. nicht bestehe. Aus der Vorschrift des § 12 1 A Nr. 10 BMTV ergebe sich kein Mitbestimmungsrecht des Beteiligten zu 2. hinsichtlich der Einführung eines Zusatzurlaubes.

Die Beteiligte zu 1. hat beantragt,

festzustellen, dass der Spruch der Einigungsstelle wegen Zusatzurlaubs gemäß § 12 1 A Nr. 10 BMTV vom 04.11.2022 unwirksam ist.

Der Beteiligte zu 2. hat beantragt,

  1. 1.

    den Antrag zurückzuweisen,

    hilfsweise für den Fall, dass der Spruch der Einigungsstelle wegen Zusatzurlaubs gern. § 12 Ziff. I. A. 10 MTV vom 4.11.2022 aus formellen Gründen unwirksam ist,

    festzustellen, dass der Antragsgegner ein erzwingbares Mitbestimmungsrecht hinsichtlich Zusatzurlaubs für langzeitige Mitarbeiter nach § 12 Ziff. 1.A. 10 MTV des Bundesmanteltarifvertrages für die Angestellten, gewerblichen Arbeitnehmer und Auszubildenden der S. W.F. vom 14.05.2007 hat.

Der Einigungsstellenspruch sei formell wirksam zu Stande gekommen. Dem Beteiligten zu 2. stehe auch ein Mitbestimmungsrecht zu. Dies ergebe sich aus der Tarifauslegung der hier maßgeblichen Regelung des BMTV S.. Die Einigungsstelle habe daher zu Recht ihre Zuständigkeit angenommen.

Das Arbeitsgericht Lüneburg hat mit Beschluss vom 17.08.2023 festgestellt, dass der Spruch der Einigungsstelle wegen Zusatzurlaub gemäß § 12 I A Nr. 10 BMTV Süßwarenindustrie vom 04.11.2022 unwirksam sei. In der Begründung hat es die Frage einer evtl. Rechtskraft des Beschlusses 2 BV 1/22 über die Unwirksamkeit des Einigungsstellenspruches vom 3.12.2021 mit identischem Regelungsgegenstand dahinstehen lassen. Jedenfalls sei der Spruch vom 4.11.2022 unwirksam, weil die Einigungsstelle mangels Vorliegen eines Mitbestimmungsrechtes nicht zuständig gewesen sei. Aus der tarifvertraglichen Regelung des § 12 Ziff. 1 A Nr. 10 BMTV Süßwarenindustrie ergebe sich kein Mitbestimmungsrecht des Beteiligten zu 2. als Initiativrecht zur Einführung eines Zusatzurlaubes für Beschäftigte mit einer Betriebszugehörigkeit von mehr als 25 Jahren. Ein erzwingbares Mitbestimmungsrecht ergebe sich bereits nicht aus dem Wortlaut und der Tarifgeschichte der Regelung. Die Kammer halte insoweit ebenso wie die Einigungsstelle in ihrer Beschlussbegründung die im zeitlichen Zusammenhang erfolgte Einführung des Betriebsverfassungsgesetzes vom 11.10.1952 für die Auslegung und rechtliche Reichweite der tariflichen Regelung für bedeutsam, komme insoweit aber zu einem anderen Auslegungsergebnis als die Einigungsstelle. Gerade im Hinblick auf die nahezu zeitgleiche Einführung der erzwingbaren Mitbestimmung durch das BetrVG 1952 und den in § 59 BetrVG geregelten Tarifvorbehalt könne die Regelung des § 11 1 A Nr. 9 BMTV (Nunmehr § 12 1 A Nr. 10 BMTV) schon ihrem Wortlaut nach nicht als Eröffnung eines zwingenden Mitbestimmungsrechtes des Betriebsrates verstanden werden. Es ergäben sich auch aus der weiteren Tarifgeschichte und Systematik des Tarifvertrages keine hinreichenden Anhaltspunkte. Die Beteiligte zu 1. habe zutreffend darauf hingewiesen, dass die Tarifvertragsparteien in der Fassung des BMTV vom 23.03.1979 in § 3 Abs. 3 BMTV bereits eine Regelung zur Freistellung älterer Arbeitnehmer mit einem Lebensalter ab dem 60. Lebensjahr und einer ununterbrochenen 12jährigen Betriebszugehörigkeit vorsahen. Die Tarifvertragsparteien hätten damit den Themenkreis "zusätzliche bezahlte Freistellung für Arbeitnehmer im höheren Lebensalter/ bei langjähriger Betriebszugehörigkeit" ausdrücklich einer tariflichen Regelung zugeführt.

Ein im freiwilligen Einigungsstellenverfahren nach § 76 Abs. 6 BetrVG ergangener Spruch der Einigungsstelle vermöge das Rechtsverhältnis der Betriebsparteien in der zu regelnden Angelegenheit nur dann verbindlich auszugestalten, wenn diese sich entweder nach § 76 Abs. 6 S. 2 BetrVG zuvor dem Spruch unterworfen oder ihn nachträglich angenommen hätten. Auch diese Voraussetzungen lägen nicht vor. Allein der Umstand, dass die Beteiligten sich in dem Verfahren vor dem Arbeitsgericht Lüneburg 4 BV 5/21 im Wege des Vergleiches auf Durchführung des Einigungsstellenverfahrens verständigt haben, stelle keine Einigung über die Durchführung eines freiwilligen Einigungsstellenverfahrens und erst recht keine Unterwerfung unter den Spruch dieser Einigungsstelle dar.

Gegen diesen ihm am 25.09.2023 zugestellten Beschluss hat der Beteiligte zu 2. am 26.09.2023 Beschwerde eingelegt und diese nach Verlängerung der Begründungsfrist fristgemäß am 08.12.2023 begründet.

Der Sachverhalt sei in dem Beschluss des Arbeitsgerichts im Wesentlichen korrekt und vollständig wiedergegeben. Bei rechtlich korrekter Auslegung der Regelung und des BMTV hätte das Arbeitsgericht zu einem anderen Ergebnis kommen und den Bestand des Einigungsstellenspruches bestätigen müssen. Bezüglich des Wortlautes der Regelung habe das Arbeitsgericht zugestanden, dass mit der sprachlichen Fassung "ist betrieblich zu regeln" im Vergleich zu der Vorgängerregelung, welche eine betriebliche Regelung lediglich "empfahl", eine Stärkung der Rechtsposition im Sinne der Gewährung des Rechtsanspruchs verstanden werden könne. Diese Ausführungen des Arbeitsgerichts griffen aber zu kurz. Im juristischen Sprachgebrauch sei die Wortwahl "ist" regelmäßig in Abgrenzung zu einer "kann-Regelung" zu verstehen. Mithin könne dem Wortlaut der Reglung keine andere Bedeutung beigemessen werden, als dass § 12 I A Nr. 10 BMTV ein erzwingbares Mitbestimmungsrecht vermittle.

Auch die Regelungshistorie werde vom Arbeitsgericht falsch interpretiert. Richtig sei, dass auch das Betriebsverfassungsgesetz 1952 einen allgemeinen, der heutigen Regelung in § 77 Abs. 3 BetrVG entsprechenden Tarifvorbehalt vorsah. Eine entsprechende Öffnung des Tarifvertrages stelle § 12 I A Nr. 10 BMTV her. Die Regelung gehe jedoch über diese Öffnung hinaus. Für eine bloße Öffnung habe der ursprüngliche Wortlaut der Reglung in der Fassung vor Einführung des BetrVG 1952 völlig ausgereicht. Die Tarifvertragsparteien hätten im Jahr 1952 offensichtlich mit Blick auf die Einführung der erzwingbaren Mitbestimmung die maßgebliche Regelung bewusst abgeändert und gerade nicht weiterhin nur eine Empfehlung ausgesprochen, sondern den Imperativ verwendet, also einen konkreten Handlungsauftrag ausgesprochen.

Das Arbeitsgericht überschätze schließlich die Reichweite der insoweit missverständlichen Aussage des Bundesarbeitsgerichts, dass der Tarifvertrag ein erzwingbares Mitbestimmungsrecht "ausdrücklich" vorsehen müsse. Dies werde im Verlauf der Begründung der vorgenannten Entscheidung 1 ABR 65/08 deutlich. Schließlich lasse das Arbeitsgericht den vom BAG in dem Beschluss 1 ABR 56/94 etablierten Grundsatz, dass Tarifnormen im Zweifel so auszulegen seien, dass sie nicht lediglich appellativen Charakter hätten, sondern eine relevante rechtliche Wirkung entfalten sollten, praktisch unberücksichtigt.

Auch wenn sich das Arbeitsgericht zu diesen Aspekten nicht geäußert habe, leide der Einigungsstellenspruch auch nicht an etwaigen Verfahrensfehlern.

Der Beteiligte zu 2. beantragt,

den Beschluss des Arbeitsgerichts Lüneburg vom 17.08.2023 - 2 BV 7/22 - abzuändern und den Antrag zurückzuweisen.

Die Beteiligte zu 1. beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Sie verteidigt die angefochtene Entscheidung. Mangels Mitbestimmungsrecht sei die Einigungsstelle nicht zuständig gewesen.

Das von dem Beteiligten zu 2. unter dem Gesichtspunkt des Wortlautes hergeleitete Auslegungsergebnis werde bei einer Berücksichtigung des wirklichen Willens der Tarifvertragsparteien sowie der Tarifgeschichte und der Systematik des Tarifvertrages ausgeschlossen.

Schon die ursprüngliche Regelung in der Fassung vom 02.01.1950 sei sprachlich eindeutig gewesen und habe keinen Rechtsanspruch auf die Einführung einer betrieblichen Regelung über einen Zusatzurlaub begründet. Rechtsirrig gehe der Beteiligte zu 2. davon aus, die Tarifvertragsparteien hätten im Jahr 1952 offensichtlich mit Blick auf die Einführung der erzwingbaren Mitbestimmung die maßgebliche Regelung bewusst abgeändert. Dagegen ordne das Arbeitsgericht Lüneburg die Änderung des Wortlautes zutreffend in den historischen Kontext ein und erkenne, dass die Tarifvertragsparteien nicht mehr geregelt hätten, als die gesetzlich vorgesehene Tarifsperre für den Regelungsgegenstand des Zusatzurlaubs aufzuheben und den Betriebsparteien zu gestatten, über diese Angelegenheit freiwillige Betriebsvereinbarungen zu schließen.

Auch strukturell habe der BMTV S. insgesamt deutlich stufende und differenzierende Regelungen für die Verständigung zwischen den Betriebsparteien vorgesehen. Überall dort, wo sie den Betriebsparteien Regelungskompetenz eröffneten, hätten sie die Betriebsparteien ausdrücklich als Regelungsbefugte benannt.

Weiter habe das Arbeitsgericht gewürdigt, dass die Tarifvertragsparteien in der Fassung des BMTV vom 23.03.1997 in § 3 Abs. 3 bereits eine Regelung zur Freistellung älterer Arbeitnehmer vorgesehen und damit die von ihm für regelungsbedürftig erachtete Frage einer bezahlten zusätzlichen Freistellung für länger im Betrieb beschäftigte Arbeitnehmer selbst geregelt hätten.

Entgegen der Beurteilung durch die Beteiligte zu 2. habe das Arbeitsgericht sehr wohl sämtliche Auslegungsmethoden angewandt, um zu einem Auslegungsergebnis zu gelangen. Bezüglich des Beschlusses des Bundesarbeitsgerichts vom 09.05.1995 sei zu berücksichtigen, dass dort ein gänzlich anderer Tarifvertrag behandelt worden sei. Dort habe es geheißen:

"Zulagen auf die Tarifhöhe sind zu gewähren, soweit sie durch besondere Leistungen, Erfahrungen und Erschwernisse begründet sind. Die Höhe derselben wird vom Arbeitgeber im Einvernehmen mit dem Betriebsrat festgelegt."

Mit weiterem Schriftsatz vom 30.04.2024 hat die Beteiligte zu 1. erklärt, an der Befangenheitsrüge gegenüber dem Einigungsstellenvorsitzenden ebenfalls festzuhalten.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten wird auf die gewechselten Schriftsätze sowie Protokollerklärungen Bezug genommen.

II.

1.

Die Beschwerde ist zulässig gemäß §§ 87, 89 ArbGG.

2.

Die Beschwerde ist aber unbegründet. Das Arbeitsgericht hat zutreffend angenommen, dass ein erzwingbares Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats bezüglich des in § 12 I A Nr. 10 des Bundesmanteltarifvertrages (BMTV) für die S. angesprochenen Zusatzurlaubes für Arbeitnehmer mit längerer Betriebszugehörigkeit (ab 25 Jahren) nicht besteht.

a)

Ein gesetzliches Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs. 1 BetrVG besteht nicht, insbesondere ergibt sich aus § 87 Abs. 1 Nr. 5 BetrVG kein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats über die Höhe von Urlaubsansprüchen (etwa Fitting BetrVG 32.Aufl. § 87 Rn. 210). Dieses macht der Betriebsrat vorliegend auch nicht geltend.

b)

Allerdings entspricht es ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, dass eine Erweiterung von Mitbestimmungsrechten über die bestehenden gesetzlichen Regelungen hinaus durch Tarifvertrag möglich ist (etwa BAG 10.2.86, 1 ABR 70/86, BAGE 57, 317 [BAG 10.02.1988 - 1 ABR 70/86]). Hiervon ist auch das Arbeitsgericht stillschweigend ausgegangen. Die Beteiligte zu 1. macht insoweit keine rechtsgrundsätzlichen Bedenken geltend.

c)

Aus dem Bestehen eines zwingenden Mitbestimmungsrechts nach § 87 Abs. 1 BetrVG folgt regelmäßig auch ein entsprechendes Initiativrecht des Betriebsrates, mit dem er eine entsprechende betriebliche Regelung ggf. durch Spruch der Einigungsstelle durchsetzen kann (so schon Fitting BetrVG 4. Aufl. § 56 Rn. 3; jetzt Fitting 32. Aufl. § 87 Rn. 604 ff.; BAG 28.11.98, 1 ABR 97/88, NZA 90, 406 [BAG 28.11.1989 - 1 ABR 97/88]). Allerdings gilt dies nicht in Bezug auf die Einführung freiwilliger Leistungen (Fitting Rn. 608). Ob bezüglich der Gewährung zusätzlicher Urlaubstage, für die im Tarifvertrag selbst kein Maßstab angelegt ist, ein Initiativrecht deswegen ausscheidet, mag dahinstehen.

d)

Daneben ist die gesetzliche Abgrenzung zwischen den Regelungskompetenzen der Tarifvertrags- und der Betriebsparteien betroffen. Bereits im ursprünglichen § 59 BetrVG 1952 - heute § 77 Abs. 3 BetrVG 1972 - war der Abschluss von Betriebsvereinbarungen ausgeschlossen über Arbeitsentgelte und Arbeitsbedingungen, die durch Tarifvertrag geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden. Da ein Beschluss der Einigungsstelle, mit dem Ansprüche der Arbeitnehmer begründet werden sollen, den Charakter einer Betriebsvereinbarung hat (etwa Fitting § 76 Rn. 134), wirkt sich die Frage des Tarifvorrangs auch auf die Entscheidungskompetenz der Einigungsstelle aus. Allerdings gilt die Sperre des § 77 Abs. 3 BetrVG nicht, wenn es um Angelegenheiten der erzwingbaren Mitbestimmung geht (sog. Vorrangtheorie, etwa BAG 09.12.03, 1 ABR 52/02, EzA § 77 BetrVG 2001 Nr. 6; eingehend dazu etwa Fitting § 77 Rn. 109 ff ). Eine Materie nach § 87 Abs. 1 BetrVG liegt hier aber nicht vor (s.o.II.2.a.).

Nach § 77 Abs. 3 Satz 2 BetrVG gilt die Sperre nur dann nicht, wenn ein Tarifvertrag den Abschluss ergänzender Betriebsvereinbarungen "ausdrücklich" zulässt, sog. Öffnungsklausel. Auch diese Formulierung war im Kern bereits wortgleich in § 59 BetrVG 1952 enthalten. Zwar muss der Tarifvertrag nicht ausdrücklich das Wort "Betriebsvereinbarung" enthalten, aber jedenfalls muss sich aus dem Tarifwortlaut klar und eindeutig die Gestattung ergänzender Betriebsvereinbarungen ergeben (etwa Fitting 32. Aufl. § 77 Rn. 117; BAG 17.1.12, AZR 482/10, AP Nr. 26 zu § 77 BetrVG 1972 Tarifvorbehalt).

Da in § 12 BMTV S. (bzw. § 11 im Jahr 1952) ein zusätzlicher Urlaub für langjährig Beschäftigte systematisch in die Berechnung der Höhe des Gesamturlaubsanspruchs des Arbeitnehmers einbezogen ist, ist der Anwendungsbereich des § 59 BetrVG 1952 bzw. § 77 Abs. 3 BetrVG 1972 betroffen. Eine wirksame Regelung durch Betriebsvereinbarung erforderte 1952 und heute eine wirksame tarifliche Öffnungsklausel. In diesem Kontext konnten die Tarifvertragsparteien im Jahr 1952 berechtigte Zweifel haben, ob eine bloße "Empfehlung" die "neuen" gesetzlichen Anforderungen einer "ausdrücklichen" Öffnung erfüllen würde. Als Öffnungsklausel hatte die Tarifklausel aber sowohl 1952 als auch heute noch ihren eigenständigen Sinn.

e)

Im Ergebnis ist aus § 12 I A Nr. 10 BMTV S. ein erzwingbares Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates zur Regelung eines Zusatzurlaubes für langjährig Beschäftigte nicht abzuleiten ist. Diese Frage ist, wie bereits vom Arbeitsgericht entschieden, zu verneinen. Die Beschwerde führt nicht zu einer abweichenden rechtlichen Beurteilung.

(1)

Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrags folgt nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Danach ist zunächst vom Tarifwortlaut auszugehen, wobei der maßgebliche Sinn der Erklärung zu erforschen ist, ohne am Buchstaben zu haften. Bei nicht eindeutigem Tarifwortlaut ist der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien mit zu berücksichtigen, soweit er in den tariflichen Normen seinen Niederschlag gefunden hat. Abzustellen ist stets auf den tariflichen Gesamtzusammenhang, weil dieser Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefert und nur so Sinn und Zweck der Tarifnorm zutreffend ermittelt werden können. Lässt dies zweifelsfreie Auslegungsergebnisse nicht zu, können die Gerichte für Arbeitssachen ohne Bindung an eine Reihenfolge weitere Kriterien wie die Entstehungsgeschichte des Tarifvertrags, ggf. auch die praktische Tarifübung ergänzend hinzuziehen. Auch die Praktikabilität denkbarer Auslegungsergebnisse ist zu berücksichtigen. Im Zweifel gebührt derjenigen Tarifauslegung der Vorzug, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung führt (etwa BAG 29.9.04, 1 ABR 29/03, BAGE 112, 87).

(2)

Die Auslegung des Wortlautes der Tarifvorschrift führt zu keinem eindeutigen Ergebnis. Zwar haben die Tarifvertragsparteien den maßgeblichen Text nur 2 Jahre nach der Ursprungsfassung des Jahres 1950, die lediglich die Formulierung "empfohlen" enthielt, abgeändert in "ist betrieblich zu regeln". Dem Beschwerdeführer ist auch im Grundsatz zuzustimmen, dass in der Gesetzessprache die Formulierung, wonach etwas zu tun "ist", regelmäßig einen Handlungsauftrag ausdrückt oder einem "müssen" gleichzusetzen ist. Insofern ist schon anzunehmen, dass es sich bei der Textänderung des Jahres 1952 nicht bloß um eine "redaktionelle Anpassung" gehandelt hat, sondern eine inhaltliche Veränderung im Sinn einer stärkeren Verrechtlichung gewollt war.

Andererseits sind die Akteure oder eine Verfahrensweise bezüglich eines solchen Handlungsauftrages in der Tarifnorm nicht benannt. Nach dem reinen Wortlaut kommt auch eine Umsetzung durch den Arbeitgeber allein in Betracht. Das betrifft insbesondere betriebsratslose Betriebe. Auch die Regelungsform einer Betriebsvereinbarung ist nicht angesprochen.

(3) In systematischer Hinsicht ist die Regelung dem Paragraphen über den Erholungsurlaub zugeordnet. Das Bundesurlaubsgesetz galt im Jahr 1952 noch nicht. In § 11 I A Nr. 8 BMVT war die Höhe des Urlaubsanspruchs doppelt gestaffelt, nämlich nach Lebensalter und nach Betriebszugehörigkeit. Ab 36 Jahren und einer Betriebszugehörigkeit von 11 Jahren war der Höchstanspruch von 18 Werktagen erreicht. Nr. 9 enthielt die Klausel über Zusatzurlaub nach 25 Jahren der Betriebszugehörigkeit, Nr. 10 den Zusatzurlaub für Schwerbeschädigte. Die Klausel über den Zusatzurlaub blieb aber auch unverändert, nachdem der tarifliche Maximalurlaub seit 1990 auf 30 Tage angestiegen war.

(4)

Im Hinblick auf die Tarifgeschichte ergibt sich der außergewöhnliche Befund, dass die Tarifnorm seit 1952 über einen Zeitraum von inzwischen mehr als 70 Jahren im Wortlaut vollständig unverändert über sämtliche Neufassungen des Tarifvertrages hinweg bestanden hat. Lediglich die Zählung hat sich von § 11 Ziff. 4 auf § 12 I A Nr.10 verschoben. Gerade angesichts der Thematik der in den 1990er Jahren einsetzenden Altersteilzeit kann nicht angenommen werden, dass von den Tarifvertragsparteien der Absatz über den Zusatzurlaub schlicht vergessen oder übersehen worden ist. Vielmehr muss angenommen werden, dass auch bei der letzten Neufassung des Tarifvertrages im Jahr 2007 die Tarifvertragsparteien dem Absatz einen rechtlichen Regelungsinhalt beigemessen haben.

Allerdings stellt sich das Erkenntnisproblem, dass der Regelungswille oder die Motivation der Tarifvertragsparteien bei der Abfassung des bis heute gültigen Wortlauts im Jahr 1952 nicht mehr positiv feststellbar ist. Weder hat einer der Beteiligten Materialien über die Tarifvertragsverhandlungen selbst vorlegen können, noch sind etwa aus früheren Jahrzehnten praktizierte betriebliche Regelungen oder gerichtliche Entscheidungen zu der Tarifvorschrift vorgelegt worden. Der von der Beteiligten zu 1. vorgelegte Verbands-Kommentar aus dem Jahr 1952 belegt nur in aller Kürze eine sprachliche Änderung gegenüber der Ursprungsfassung des Tarifvertrages im Jahr 1950, ohne dies näher zu erläutern.

Recht eindeutig steht die Überarbeitung des Tariftextes im Dezember 1952 im engen zeitlichen Zusammenhang mit dem erstmaligen Inkrafttreten eines Betriebsverfassungsgesetzes im Juli 1952. Der erste Bundesmanteltarifvertrag für die S. datiert hingegen bereits vom 2.1.1950. Zum damaligen Zeitpunkt war die Betriebsverfassung noch durch alliiertes Kontrollratsgesetz geregelt. Erstmalig im Betriebsverfassungsgesetz 1952 waren in § 56 zwingende Mitbestimmungsrechte des Betriebsrates in sozialen Angelegenheiten vorgesehen (heute § 87 Abs. 1 BetrVG 1972). Zugleich waren in einem eigenständigen Paragraphen - § 59 - die Abgrenzung zwischen den Regelungsbefugnissen der Tarifvertragsparteien (das Tarifvertragsgesetz galt bereits seit 1949) und der Regelungsbefugnis der Betriebsparteien durch Betriebsvereinbarung geregelt.

Bereits im Betriebsverfassungsgesetz 1952 angelegt ist aber auch, dass die Regelungsform der Betriebsvereinbarung und das Bestehen zwingender Mitbestimmungsrechte nicht notwendig miteinander gekoppelt sind. Eine Betriebsvereinbarung kann als "freiwillige" auch über Regelungsmaterien abgeschlossen werden, die nicht der zwingenden Mitbestimmung des Betriebsrats und somit dessen Initiativrecht unterliegen. Umgekehrt gilt auch für Tatbestände der zwingenden Mitbestimmung der Vorrang der tariflichen oder tarifüblichen Reglung. Wenn in § 59 BetrVG 1952 erstmalig ausdrücklich die Wirksamkeit einer Betriebsvereinbarung davon abhängig gemacht wird, dass dies in der entsprechenden tariflichen Regelung ausdrücklich zugelassen ist, ist durchaus erklärlich, dass die Tarifvertragsparteien der S. die bloße Formulierung einer "Empfehlung" im Tariftext des Jahre 1950 als nicht ausreichend oder zumindest klarstellungsbedürftig angesehen haben. Im historischen Kontext kann die Regelung sinnvoll (nur) als sogenannte Öffnungsklausel eingeordnet werden. Als solche beschränkt sie sich nicht auf eine bloße "Appellfunktion", sondern stellt eine zwingende Voraussetzung für die Wirksamkeit freiwilliger Betriebsvereinbarungen dar.

Zweifel daran, dass eine erzwingbare Mitbestimmung des Betriebsrats gewollt war, ergeben sich auch aus der weiteren Tarifgeschichte: In der Zeit von März 1979 bis Januar 2005 war in § 3 III BMTV ein tariflicher Anspruch von Arbeitnehmern ab dem vollendeten 60. Lebensjahr auf eine "zusätzliche Freistellung" von 18 Arbeitstagen enthalten. Allerdings ist § 11 BMTV im Jahr 1979 eben auch nicht gestrichen worden.

Auch im Zusammenhang mit tariflichen Altersteilzeitregelungen ist § 12 I A Nr. 10 BMTV nicht aufgehoben worden.

(5)

Nach ständiger Formulierung des Bundesarbeitsgerichts kann in Zweifelsfällen auch die Tarifpraxis zur Auslegung einer Tarifnorm herangezogen werden. Diesbezüglich ist festzustellen, dass der Beteiligte zu 2. auch etwa aus der jüngeren Vergangenheit, etwa ab den 1980er Jahren keine Fälle hat belegen können, wonach ein Betriebsrat eine Betriebsvereinbarung nach § 12 BMTV S. unter Berufung auf ein zwingendes Mitbestimmungsrecht durchgesetzt hat.

III.

Auf Fragen des Verfahrens vor der Einigungsstelle, die im gerichtlichen Verfahren nicht vertieft behandelt worden sind, kommt es nicht weiter an.

IV

Die Rechtsbeschwerde war zuzulassen gemäß § 92 Abs. 1 Satz 2, § 72 Abs. 2 Nr. 1ArbGG.