Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 05.06.2023, Az.: 3 A 1652/19

ARK; Autonome Region Kurdistan; Flüchtlingsschutz; Frauen; Irak; Jesiden; jesidisch; Mädchen; RKI; Soziale Gruppe; Verfolgung; Verwestlichung; westlich geprägt; westlich geprägte Frau; westlich geprägtes Mädchen; westliche Identitätsprägung; Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft für "westlich geprägte" (jesidische) Frauen und Mädchen aus der Autonomen Region Kurdistan im Irak (entgegen VG Hannover, Urteil vom 21. Noevember 2022 - 12 A 1928/18 -)

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
05.06.2023
Aktenzeichen
3 A 1652/19
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2023, 21299
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGHANNO:2023:0605.3A1652.19.00

Amtlicher Leitsatz

Die Situation für (jesidische) Frauen und Mädchen in der Autonomen Region Kurdistan im Irak mag sich zwar in letzter Zeit gebessert haben, was jedoch nicht zur Folge hat, dass diesen im Falle einer sog. "westlichen Prägung" keine Verfolgung drohte.

Tenor:

Die Beklagte wird unter entsprechender Aufhebung ihres Bescheides vom 19. März 2019 verpflichtet, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Tatbestand

Die 13jährige Klägerin begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft durch die Beklagte.

Hinsichtlich der Einzelheiten des zugrundeliegenden Sachverhalts wird auf die entsprechende (zutreffende) Darstellung im angefochtenen Bescheid der Beklagten vom 19. März 2019 - mit welchem diese unter Ziffer 1. den Antrag der Klägerin auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, unter Ziffer 2. den Antrag auf Asylanerkennung und unter Ziffer 3. den Antrag auf subsidiären Schutz ablehnte, unter Ziffer 4. feststellte, dass keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG vorlägen und unter Ziffer 5. die Abschiebung in den Irak androhte sowie schließlich unter Ziffer 6. das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristete - verwiesen und insoweit gemäß § 77 Abs. 2 AsylG von einer weiteren Darstellung des Tatbestandes abgesehen.

Am 29. März 2019 hat die Klägerin gegen den o. g. Bescheid Klage erhoben. Sie behauptet, sie habe sich in schulischer und auch in gesellschaftlicher Hinsicht emanzipiert. Unter Vorlage von entsprechenden Screenshots behauptet sie weiter, auf TikTok und Instagram aktiv zu sein. Im Rahmen ihres Schulunterrichts habe sie Schwimmunterricht und gehe nach der Schule mit ihren deutschen Freunden mindestens einmal in der Woche noch schwimmen. Mit ihren deutschen weiblichen Freunden gehe sie mindestens einmal im Monat auch ins Kino. Zudem fahre sie selbständig Fahrrad. Von all diesen Errungenschaften wolle und könne sie sich nicht mehr distanzieren; ein anderes Leben unter "heimatlichen Werten und Prinzipien" könne sie sich als junge Frau nicht vorstellen.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte zu verpflichten, ihr die Flüchtlingseigenschaft zu gewähren,

hilfsweise, ihr den subsidiären Schutz zu gewähren,

weiter hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG hinsichtlich des Irak vorliegen,

und den Bescheid der Beklagten vom 19. März 2019 aufzuheben, soweit er dem entgegensteht.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie bezieht sich auf ihre Ausführungen im angefochtenen Bescheid. Darüber hinaus bestreitet sie, dass eine beachtliche Wahrscheinlichkeit bestehe, dass die Klägerin zu im Falle einer Rückkehr in ihr Heimatland durch staatliche oder nichtstaatliche Akteure wegen ihres vermeintlich westlich orientierten Lebensstils verfolgt würde. Unter Bezugnahme auf ein Urteil des VG Köln (Urteil vom 16. Juli 2021 - 3 K 8062/17.A -, Rn. 32 - 34, juris) behauptet sie, es sei bereits nicht erkennbar, dass es im Irak eine deutlich abgegrenzte bzw. abgrenzbare Gruppe "westlich geprägter Frauen" i. S. v. § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG gebe.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage, über die der Berichterstatter als Einzelrichter (§ 76 Abs. 1 AsylG) entscheidet, ist begründet.

Das Gericht konnte, obwohl die Beklagte der mündlichen Verhandlung ferngeblieben ist, verhandeln und entscheiden, weil in der ordnungsgemäßen Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden ist, § 102 Abs. 2 VwGO.

1. Die Ablehnung des Antrags auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG in Verbindung mit §§ 3ff. AsylG durch die Beklagte ist rechtswidrig und die Klägerin dadurch in ihren Rechten verletzt, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO. Die Klägerin hat zu dem nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 3 AsylG).

Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.

Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Artikel 15 Abs. 2 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (Europäische Menschenrechtskonvention - EMRK) keine Abweichung zulässig ist. Gleiches gilt nach § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG für eine Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist. Als Verfolgung im Sinne des Absatzes 1 können gemäß § 3a Abs. 2 AsylG unter anderem gelten die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, eine unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung, die Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung sowie die Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen gemäß § 3 Abs. 2 AsylG umfassen würde.

Die in § 3 Abs. 1 AsylG genannten Verfolgungsgründe Rasse, Religion, Nationalität, politische Überzeugung und Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe werden in § 3b Abs. 1 AsylG näher umschrieben. Gemäß § 3b Abs. 2 AsylG ist es bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, unerheblich, ob er tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden. Zwischen den in den §§ 3 Abs. 1 und 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den in § 3a Abs. 1 und 2 AsylG als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss, wie § 3a Abs. 3 AsylG klarstellt, eine Verknüpfung bestehen.

Nach § 3c AsylG kann die Verfolgung ausgehen von dem Staat (Nr. 1), Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (Nr. 2), oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nrn. 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (Nr. 3).

Für die Frage, ob dem Asylsuchenden Verfolgung droht, gilt der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit als einheitlicher Maßstab sowohl im Hinblick auf eine etwaige Vorverfolgung als auch für Nachfluchtgründe. Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer - bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr - die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ("real risk") abstellt; das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (stRspr, vgl. BVerwG, Urteile vom 1. Juni 2011 - 10 C 25.10 - BVerwGE 140, 22 Rn. 22 m. w. N. und vom 20. Februar 2013 - 10 C 23.12 - BVerwGE 146, 67 Rn. 32; Beschluss vom 15. August 2017 - 1 B 120.17 - juris Rn. 8). Hierfür ist erforderlich, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine individuelle Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Diese Würdigung ist auf der Grundlage einer "qualifizierenden" Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung vorzunehmen. Hierbei sind gemäß Art. 4 Abs. 3 Richtlinie 2011/95/EU neben den Angaben des Antragstellers und seiner individuellen Lage auch alle mit dem Herkunftsland verbundenen flüchtlingsrelevanten Tatsachen zu berücksichtigen. Entscheidend ist, ob in Anbetracht der Gesamtumstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 - 10 C 23.12 - BVerwGE 146, 67 Rn. 32 m. w. N.). Eine in diesem Sinne wohlbegründete Furcht vor einem Ereignis kann auch dann vorliegen, wenn bei einer "quantitativen" oder mathematischen Betrachtungsweise ein Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 % für dessen Eintritt besteht (BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 - 1 C 31/18 -, Rn. 16, juris). In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus; ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die "reale Möglichkeit" einer Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen (BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019, a. a. O.). Bei der Abwägung aller Umstände ist die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in die Betrachtung einzubeziehen. Besteht bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine geringe mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung, macht es auch aus der Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen erheblichen Unterschied, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber die Todesstrafe riskiert. Maßgebend ist damit letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit; sie bildet das vorrangige qualitative Kriterium, das bei der Beurteilung anzulegen ist, ob die Wahrscheinlichkeit einer Gefahr "beachtlich" ist (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 7. Februar 2008 - 10 C 33.07 - Buchholz 451.902 Europ. Ausl.- und Asylrecht Nr. 19 Rn. 37).

Ist der Kläger vorverfolgt ausgereist, kommt ihm allerdings die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU (Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Qualifikationsrichtlinie)) zugute. Nach dieser Vorschrift ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder unmittelbar von Verfolgung bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist; etwas Anderes soll nur dann gelten, wenn stichhaltige Gründe gegen eine erneute derartige Bedrohung sprechen. Für denjenigen, der bereits Verfolgung erlitten hat oder von Verfolgung unmittelbar bedroht war, streitet also die tatsächliche - allerdings widerlegbare - Vermutung, dass sich frühere Verfolgungshandlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden.

Dabei ist es Sache des Schutzsuchenden, die Umstände, aus denen sich die Verfolgung ergibt, in schlüssiger Form vorzutragen. Das Gericht muss dabei die volle Überzeugung von der Wahrheit des behaupteten individuellen Schicksals und von der Richtigkeit der Prognose drohender Verfolgung gewinnen. Auf Grund der Beweisschwierigkeiten, in denen sich der Schutzsuchende hinsichtlich der asylbegründeten Vorgänge in seinem Heimatland regelmäßig befindet, muss sich das Gericht jedoch mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad an Gewissheit begnügen, auch wenn Zweifel nicht völlig ausgeschlossen werden können (vgl. BVerwG, Beschluss vom 21. Juli 1989 - 9 B 239/89 -, juris). Das Asylverfahren ist eine Einheit, so dass ein gegenüber den Angaben vor der Verwaltungsbehörde im gerichtlichen Verfahren vorgetragener neuer Sachverhalt regelmäßig Zweifel an der Richtigkeit dieses Vorbringens wecken wird. Bei erheblichen Widersprüchen oder Steigerungen im Sachvortrag kann dem Asylsuchenden nur bei einer überzeugenden Auflösung der Unstimmigkeiten geglaubt werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 12. November 1985 - 9 C 27/85 -, juris). Der Asylbewerber muss die persönlichen Umstände seiner Verfolgung und Furcht vor einer Rückkehr hinreichend substantiiert, detailliert und widerspruchsfrei vortragen und plausible, wirklichkeitsnahe Angaben machen. Auch unter Berücksichtigung des Herkommens, Bildungsstandes und Alters muss der Asylbewerber im Wesentlichen gleichbleibende, möglichst detaillierte und konkrete Angaben zu seinem behaupteten Verfolgungsschicksal machen.

Nach diesen Maßgaben ist der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, weil sie aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu der sozialen Gruppe irakischer Frauen bzw. Mädchen, deren Identität "westlich geprägt" ist (im Sinne eines freiheitlichen und emanzipierten Denkens und Handelns), im Falle einer Rückkehr in den Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung ausgesetzt wäre. Frauen/Mädchen, die sich der bestehenden rechtlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Diskriminierung der Frauen im Irak aufgrund ihrer "westlichen Prägung" entgegenstellen, werden wegen ihrer deutlich abgegrenzten Identität von der irakischen Gesellschaft als andersartig betrachtet und können einer beachtlichen Verfolgungsgefahr ausgesetzt sein.

a) Unzutreffend ist insofern die von der Beklagten übernommene Auffassung des Verwaltungsgerichts Köln (Urteil vom 16. Juli 2021 - 3 K 8062/17.A -, Rn. 32ff., juris), der Begriff der "Verwestlichung" bzw. einer "westlichen Prägung" sei in dem hier maßgebenden rechtlichen Kontext nicht allgemein definierbar.

Der Begriff der "Verwestlichung" wird in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen, u. a. in der Geschichtswissenschaft, der Soziologie, den Religionswissenschaften, der Politologie, den Wirtschaftswissenschaften, den Rechtswissenschaften, den Kulturwissenschaften, verwendet und hat insoweit auch (teilweise) unterschiedliche Bedeutungsinhalte (vgl. zur Übersicht etwa https://de.wikipedia.org/wiki/Verwestlichung#Begrifflichkeit, m. w. N., zuletzt abgerufen am 7. Juni 2023). In dem hier maßgebenden flüchtlingsrechtlichen Zusammenhang meint der Begriff die individuelle Übernahme von sozio-kulturellen und/oder religiösen bzw. weltanschaulichen Vorstellungen und Verhaltensweisen, wie sie für die gesellschaftlichen Verhältnisse der Gegenwart in säkularistisch und demokratisch organisierten Staaten, namentlich in Europa und auf dem (nord-)amerikanischen Kontinent sowie in Australien und Neuseeland, im Allgemeinen kennzeichnend sind. Dazu gehören insbesondere die Vorstellung einer grundlegenden Freiheit zur individuellen Persönlichkeitsentfaltung und gleichberechtigten Eigenverantwortlichkeit jeder Person, insbesondere aber von Frauen, in religiöser, politischer, sozialer, wirtschaftlicher und sexueller Hinsicht und das Recht jeder (erwachsenen) Person, über ihre persönliche Lebensführung insgesamt, namentlich aber in den zuvor benannten Bereichen, autonom entscheiden zu dürfen, ohne dabei an lediglich gesellschaftlich vorherrschende, aber nicht formal-gesetzlich vorgeschriebene Verhaltensregeln gebunden zu sein. Weiterhin kennzeichnend für den hier streitbefangenen Begriff der "Verwestlichung" ist zudem die Idee und grundsätzliche Akzeptanz einer gesellschaftlichen Pluralität insbesondere in sozio-kulturellen, weltanschaulich-religiösen und auf die Sexualmoral bezogenen Anschauungen. Zumindest teilweise hat der Begriff der "Verwestlichung" mit diesem Inhalt sogar Eingang in die Sprache im Herkunftsland gefunden, so insbesondere in Afghanistan mit dem Begriff "qarb-zadeh" in der Sprache Dari (vgl. dazu SFH, Afghanistan: Rückkehrgefährdung aufgrund von "Verwestlichung", Themenpapier vom 26. März 2021, abrufbar unter: https://www.fluechtlingshilfe.ch/fileadmin/user_upload/Publikationen/Herkunftslaenderberichte/Mittlerer_Osten_-_Zentralasien/Afghanistan/210326_AFG_Verwestlichung.pdf, zuletzt abgerufen am 7. Juni 2023).

b) Ausgehend von diesem Begriffsverständnis besteht für den Einzelrichter nicht der geringste Zweifel daran, dass Frauen bzw. Mädchen, die im vorbeschriebenen Sinne in ihrer Denk- und Verhaltensweise "verwestlicht" bzw. "westlich geprägt" sind bzw. denen von der (Mehrheits-)Gesellschaft im Irak eine derartige Prägung zugeschrieben wird, in der irakischen (Mehrheits-)Gesellschaft nach deren Verständnis, auf das es diesbezüglich ankommt, eine hinreichend deutlich abgrenzbare Gruppe bilden. Denn in diesem Sinne als "verwestlicht" wahrgenommene Frauen/Mädchen widersprechen geradezu diametral den in der irakischen (Mehrheits-)Gesellschaft herrschenden Vorstellungen von der sozialen und individualen Rolle bzw. Stellung einer Frau/eines Mädchens und den daraus abgeleiteten Anforderungen an ihr Verhalten. Diese Vorstellungen sind insbesondere davon geprägt, dass Frauen/Mädchen über ihre persönliche Lebensführung und -gestaltung, namentlich in den oben genannten Bereichen, grundsätzlich nicht autonom entscheiden dürfen, sondern sich den vorherrschenden konservativ-patriachalischen Sozialregeln und Verhaltensvorgaben und den darauf fußenden Anweisungen ihrer männlichen Familienmitglieder unterzuordnen haben. "Verwestlichte" Frauen/Mädchen werden demzufolge in der irakischen (Mehrheits-)Gesellschaft als "haram" im Sinne von "schmutzig, schandhaft" und damit als Schande und ehrverletzend für die eigene Familie bzw. den Familienverband angesehen, verbunden mit der Vorstellung, dass daraus insbesondere jenseits eines staatlichen Gewaltmonopols Strafmaßnahmen bis hin zur Tötung resultieren dürfen bzw. sogar müssen, um die Ehre der Familie bzw. des Familienverbandes wiederherzustellen.

Ebenfalls unzutreffend ist die Annahme des VG Köln (a. a. O, Rn. 34), es fehle einer so bezeichneten Gruppe "verwestlichter" Frauen bzw. Mädchen im Irak an der insoweit flüchtlingsrechtlich erforderlichen deutlich abgegrenzten Identität im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4b) AsylG. Die dahingehende Argumentation des VG Köln beruht vielmehr auf einem gravierenden Denkfehler. Denn für die allgemeine Frage, ob Personen, die unter § 3b Abs. 1 Nr. 4a) AsylG fallen, etwa weil ihnen nicht zugemutet werden kann, auf gemeinsame, grundsätzlich veränderliche Merkmale zu verzichten, da sie für ihre jeweilige Identität bedeutsam sind, in ihrem Herkunftsland im flüchtlingsrechtlichen Sinn eine bestimmte soziale Gruppe bilden, weil diese Gruppierung nach § 3b Abs. 1 Nr. 4b) AsylG in dem betreffenden Land infolge einer ihr zugeschriebenen Andersartigkeit eine deutlich abgegrenzte Identität hat, kommt es nicht darauf an, ob eine konkrete Person im Einzelfall ein solches Merkmal nach § 3b Abs. 1 Nr. 4a) AsylG tatsächlich aufweist bzw. ihr dieses Merkmal in dem betreffenden Land zugeschrieben wird. Entscheidend für die Erfüllung von § 3b Abs. 1 Nr. 4b) AsylG ist vielmehr, ob Personen, denen in dem betreffenden Land ein bestimmtes Merkmal im Sinne von § 3b Abs. 1 Nr. 4a) AsylG zugeschrieben wird - im vorliegenden Kontext das Merkmal einer "Verwestlichung" -, als Teil einer "andersartigen" Gruppierung angesehen werden. Die Zuschreibung zu einer Mehrzahl von Personen (Gruppe) als "andersartig" und damit eine eindeutig abgrenzbare Identität dieser Gruppe im Sinne von § 3b Abs. 1 Nr. 4b) AsylG setzt mithin (nur) voraus, dass die dortige (Mehrheits-)Gesellschaft überhaupt Personen ein im Sinne von § 3b Abs. 1 Nr. 4a) AsylG relevantes Merkmal konkret zuschreibt, um sie darüber als "andersartig" einzustufen.

Dabei kann es - anders als das VG Köln meint (a.a.O., Rn. 34) - für die Frage, ob "verwestlichte" Frauen/Mädchen im Irak als Personenmehrheit im Sinne von § 3b Abs. 1 Nr. 4b) AsylG eine deutlich abgegrenzte Identität haben, ersichtlich nicht darauf ankommen, dass eine "Abgrenzung von "verwestlichten" Irakerinnen, denen eine Anpassung an die irakischen Verhältnisse bereits unzumutbar ist, von jenen, denen eine Anpassung noch zumutbar ist, ... im Einzelfall äußerst schwierig" sein mag. Denn es liegt auf der Hand, dass es für die Zuschreibung der Andersartigkeit zu einer Personenmehrheit im Sinne von § 3b Abs. 1 Nr. 4b) AsylG - hier zu als "verwestlicht" angesehenen Frauen/Mädchen - seitens der irakischen (Mehrheits-)Gesellschaft vollkommen irrelevant ist, ob nach der Beurteilung der Normanwenderinnen und -anwender des § 3b Abs. 1 Nr. 4a) AsylG einer konkreten Frau im Einzelfall der Verzicht auf eine "verwestlichte" Denk- und Lebensweise zumutbar erscheint oder nicht. Maßgebend für die deutlich abgrenzbare Identität im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4b) AsylG sind allein die Vorstellungen und Verhältnisse in der (Mehrheits-)Gesellschaft in dem entsprechenden Land. Die irakische (Mehrheits-)Gesellschaft trifft aber die vom VG Köln benannte Unterscheidung überhaupt nicht. Vielmehr wird eine "Verwestlichung" von Frauen/Mädchen im oben beschriebenen Sinne dort ausnahmslos nicht akzeptiert. Alle Frauen/Mädchen, denen eine solche "Verwestlichung" zugeschrieben wird, werden als "andersartig" im Sinne von § 3b Abs. 1 Nr. 4b) AsylG betrachtet und zweifelsfrei wird seitens der irakischen (Mehrheits-)Gesellschaft von allen Frauen ein Verzicht auf eine entsprechende Denk- und Lebensweise verlangt. Die Frage, ob im Einzelfall eine konkrete Frau im Sinne von § 3b Abs. 1 Nr. 4a) AsylG Mitglied der Gruppe "verwestlichter" Frauen ist, weil sie die entsprechende Denk- und Lebensweise in einer Weise als identitätsstiftend verinnerlicht hat, dass sie "nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten", stellt sich demgegenüber nicht in der irakischen (Mehrheits-)Gesellschaft, sondern allein in der Beklagten, wobei dabei auch § 3b Abs. 2 AsylG zu beachten ist.

c) Nach der ständigen Rechtsprechung aller für Asylverfahren irakischer Staatsangehöriger zuständigen Kammern des VG Hannover werden Frauen/Mädchen, die sich der bestehenden rechtlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Diskriminierung von Frauen/Mädchen im Irak auf Grund einer "westlichen Prägung" entgegenstellen oder denen ein solches Verhalten von der irakischen (Mehrheits-)Gesellschaft im Sinne von § 3b Abs. 2 AsylG zugeschrieben wird, wegen ihrer deutlich abgegrenzten Identität von der irakischen (Mehrheits-)Gesellschaft als andersartig betrachtet und können einer beachtlichen Verfolgungsgefahr ausgesetzt sein (vgl. u. a. Urteil der 3. Kammer vom 27. Oktober 2022 - 3 A 5642/18 -, juris; Urteile der 12. Kammer vom 30. Mai 2022 - 12 A 12267/17 - sowie vom 2. Februar 2022 - 12 A 12106/17 -, jeweils juris; Urteile der 6. Kammer vom 10. Mai 2022 - 6 A 3221/17 -, V. n. b.).

Dem liegen maßgebend folgende Erwägungen zu Grunde (vgl. hierzu das Urteil der Einzelrichterin der 6. Kammer des VG Hannover vom 10. Mai 2023 - 6 A 2409/23 -, zur Veröffentlichung - u. a. juris - vorgemerkt):

"Nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 AsylG gilt eine Gruppe insbesondere dann als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 4 AsylG kann eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht anknüpft.

Auf Basis dieses rechtlichen Maßstabes bilden irakische Frauen eine bestimmte soziale Gruppe, sofern sie - beispielsweise infolge eines längeren Aufenthalts in Europa - in einem solchen Maße in ihrer Identität westlich geprägt worden sind, dass sie entweder nicht mehr dazu in der Lage wären, bei einer Rückkehr in den Irak ihren Lebensstil den dort erwarteten Verhaltensweisen und Traditionen anzupassen, oder denen dies infolge des erlangten Grads ihrer westlichen Identitätsprägung nicht mehr zugemutet werden kann (VG Hannover, Urt. v. 22.6.2020 - 12 A 773/18 -, n.v., Urt. v. 10.04.2019 - 6 A 2689/17 -, juris Rn. 27, und Urt. v. 10.12.2018 - 6 A 6837/16 -, juris Rn. 58; VG Stade, Urt. v. 23.07.2019 - 2 A 19/17 -, juris Rn. 39 ff.; VG Aachen, Urt. v. 03.05.2019 - 4 K 3092/17.A -, juris Rn. 30; VG Gelsenkirchen, Urt. v. 08.06.2017 - 8a K 1971/16.A -, juris Rn. 33; VG Göttingen, Urt. v. 05.07.2011 - 2 A 215/09 -, juris Rn. 24 ff.; vgl. auch Nds. OVG, Beschl. v. 16.02.2006 - 9 LB 27/03 -, juris Rn. 13). Derart in ihrer Identität westlich geprägte Frauen teilen sowohl einen unveränderbaren gemeinsamen Hintergrund als auch bedeutsame Merkmale im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 AsylG. Sie werden wegen ihrer deutlich abgegrenzten Identität von der irakischen Gesellschaft als andersartig betrachtet.

Nach den vorliegenden Erkenntnissen (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Irak, 28.08.2022, S. 96-108, Auswärtiges Amt, Lagebericht v. 28.10.2022, S. 11 ff.; ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Autonome Region Kurdistan: Lage alleinstehender Frauen; Sicherheitslage, 12.08.2019; UNHCR, Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus dem Irak fliehen, Mai 2019, S. 99-112; EUAA, Irak - Gezielte Gewalt gegen Individuen, Januar 2022, S. 85 - 99; ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Lage westlich orientierter Frauen, 30.04.2018; Human Rights Watch, No one is safe. Abuses of women in Iraq's criminal justice system, Februar 2014) sind Frauen im Irak weitreichender Diskriminierung ausgesetzt. Konservative, patriarchalische soziale Normen und die Dominanz religiöser Werte in den verschiedenen Gemeinschaften im Irak verhindern die effektive und gleichberechtigte Teilnahme von Frauen am politischen, sozialen und wirtschaftlichen Leben. Frauen, die sich der rechtlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Diskriminierung der Frauen im Irak aufgrund ihrer westlichen Prägung entgegenstellen, werden wegen ihrer deutlich abgegrenzten Identität von der irakischen Gesellschaft als andersartig betrachtet und können einer beachtlichen Verfolgungsgefahr ausgesetzt sein (so VG Hannover, Urt. v. 18.03.2021 - 12 A 1130/18 -, n.v.). Dies gilt auch für Frauen in der Region Kurdistan-Irak.

In der Verfassung ist die Gleichstellung der Geschlechter festgeschrieben und eine Frauenquote von 25 % im Parlament (Autonome Region Kurdistan-Irak: 30 %) verankert. In politischen Entscheidungsprozessen spielen Frauen jedoch eine untergeordnete Rolle. Nur wenige Frauen nehmen Spitzenpositionen in Politik, Verwaltung und Wirtschaft ein. Nach Angaben der Unabhängigen Hohen Wahlkommission haben 2.009 Kandidatinnen an den letzten Parlamentswahlen teilgenommen. Während des Wahlkampfs wurden die Plakate der Kandidatinnen beschädigt, und es wurden Fotos online gestellt, die die Kandidatinnen scheinbar in freizügiger Kleidung zeigten. Einige Kandidatinnen zogen ihre Kandidatur zurück, nachdem sie Drohungen und Einschüchterungen erhalten hatten. Im Präsidium des Parlaments ist keine Frau vertreten. Im Regierungskabinett gibt es seit Oktober 2019 eine Frau, die Bildungsministerin. Die Hauptstadt Bagdad hatte von 2015 bis 2020 eine Frau als Bürgermeisterin, der Posten gilt allerdings als wenig einflussreich. In Kurdistan ist eine Frau Parlamentspräsidentin, es gibt drei Ministerinnen und einige hochrangige Richterinnen. Gleichwohl stellen diese Frauen Ausnahmen in einer männerdominierten Berufswelt dar. Frauen sind auf Gemeinde- und Bundesebene, in Verwaltung und Regierung unterrepräsentiert. Sie werden selten in Entscheidungspositionen und einflussreiche Positionen ernannt. Die traditionelle Rollenverteilung in der Familie lässt wenig Möglichkeiten für Frauen, sich im Studium oder im Beruf weiter zu entwickeln. Dies wird zum Teil mit der religiösen Tradition begründet, beruht aber auch auf den weit verbreiteten patriarchalischen Strukturen. Dabei stellt die Quote zwar sicher, dass Frauen zahlenmäßig vertreten sind, sie führt aber nicht dazu, dass Frauen einen wirklichen Einfluss auf Entscheidungsfindungsprozesse haben bzw. dass das Interesse von Frauen auf der Tagesordnung der Politik steht.

Frauen sind weit verbreiteter gesellschaftlicher Diskriminierung ausgesetzt und werden unter mehreren Aspekten der Gesetzgebung ungleich behandelt. Laut Art. 14 und 20 der Verfassung ist jede Art von Diskriminierung aufgrund des Geschlechtes verboten. Art. 41 bestimmt jedoch, dass Iraker Personenstandsangelegenheiten ihrer Religion entsprechend regeln dürfen. Viele Frauen kritisieren diesen Artikel als Grundlage für eine Re-Islamisierung des Personenstandsrechts und damit eine Verschlechterung der Stellung der Frau. Zudem findet auf einfachgesetzlicher Ebene die verfassungsrechtlich garantierte Gleichstellung häufig keine Entsprechung. Defizite bestehen insbesondere im Familien-, Erb- und Strafrecht sowie im Staatsangehörigkeitsrecht. In der Praxis ist die Bewegungsfreiheit für Frauen stärker eingeschränkt als für Männer. So hindert das Gesetz Frauen beispielsweise daran, ohne die Zustimmung eines männlichen Vormunds oder gesetzlichen Vertreters einen Reisepass zu beantragen oder ein Dokument zur Feststellung des Personenstands zu erhalten, welches für den Zugang zu Beschäftigung, Bildung und einer Reihe von Sozialdiensten erforderlich ist.

"Ehrenmorde" gegen Frauen sind in der irakischen Gesellschaft verbreitet. 2015 haben Regierung und Parlament der RKI [Autonome Region Kurdistan] in Abänderung des irakischen Strafrechts den "Ehrenmord" anderen Morden strafrechtlich gleichgestellt. Sowohl Politik als auch Rechtslage der RKI sprechen sich ausdrücklich gegen "Ehrenmorde" aus. In einigen gesellschaftlichen Gruppen gilt der "Ehrenmord" allerdings immer noch als rechtfertigbar. Im Zentralirak gelten bei "Ehrenmord" zudem mildernde Umstände.

Die Gewalt gegen Frauen und Mädchen ist seit 2003 gestiegen und setzt sich unvermindert fort. Frauen und Mädchen sind im Irak Opfer von gesellschaftlichen, rechtlichen und wirtschaftlichen Diskriminierungen, Entführungen und Tötungen aus politischen, religiösen oder kriminellen Gründen, sexueller Gewalt, erzwungener Umsiedlung, häuslicher Gewalt, "Ehrenmorden" und anderen schädlichen traditionellen Praktiken, wie etwa (Sex-)Handel und erzwungener Prostitution. In den Familien sind patriarchische Strukturen weit verbreitet; Frauen werden immer noch in Ehen gezwungen. Mehr als 20 % der Frauen werden vor ihrem 18. Lebensjahr verheiratet, viele davon im Alter von 10 bis 14 Jahren.

Frauen wird überproportional der Zugang zu Bildung und Teilnahme am Arbeitsmarkt verwehrt. Je höher die Bildungsstufe ist, desto weniger Mädchen sind vertreten. Frauen und Mädchen sind im Bildungssystem deutlich benachteiligt und haben noch immer einen schlechteren Bildungszugang als Jungen und Männer. Schätzungen zufolge sind Frauen etwa doppelt so stark von Analphabetismus betroffen wie Männer. In ländlichen Gebieten ist die Einschulungsrate für Mädchen weit niedriger als jene für Jungen. Häufig lehnen die Familien eine weiterführende Schule für Mädchen ab oder ziehen eine "frühe Ehe" für sie vor.

Frauen sind außerdem wirtschaftlicher Diskriminierung hinsichtlich des Zugangs zum Arbeitsmarkt, Kredit und Lohngleichheit ausgesetzt. Die geschätzte Erwerbsquote von Frauen lag 2014 bei nur 14%, der Anteil an der arbeitenden Bevölkerung bei 17%. Jene rund 85% der Frauen, die nicht an der irakischen Arbeitswelt teilhaben, sind einem erhöhten Armutsrisiko ausgesetzt, selbst wenn sie in der informellen Wirtschaft mit Arbeiten wie Nähen oder Kunsthandwerk beschäftigt sind. Den Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation von 2010 zufolge führt der Irak die Liste der Länder mit der niedrigsten Erwerbsbeteiligung von Frauen an. In einem Artikel von Al-Monitor vom Dezember 2017 wird berichtet, dass für viele Menschen im Irak die einzig akzeptablen Arbeitsplätze für Frauen in bestimmten häuslichen Bereichen oder Regierungsabteilungen zu finden sind. Frauen und Mädchen, die in Geschäften, Cafés, im Unterhaltungssektor, in der Krankenpflege oder im Transportsektor (Taxi-/LKW-Fahrer) arbeiten, sind verpönt.

Weiblich geführte Haushalte haben nicht unbedingt Zugang zu Finanzanlagen, Sozialleistungen oder dem öffentlichen Verteilungssystem. Viele sind auf Unterstützung durch ihre Familien, Behörden und Nichtregierungsorganisationen angewiesen. Während die meisten Frauen im Irak theoretisch Anspruch auf öffentliche oder NGO-Hilfe haben, erhalten in der Praxis nur 20-25% von ihnen diese Hilfe. Darüber hinaus deckt die Hilfe nur einen Teil des jeweiligen Haushaltsbedarfs ab. Haushalte mit weiblichen Familienoberhäuptern sind besonders anfällig für Unsicherheit bei der Nahrungsmittelversorgung. Aufgrund vieler Hindernisse beim Zugang zu Beschäftigung müssen Frauen auf andere Mittel zurückgreifen, um ihren Lebensunterhalt zu sichern, wie Geld leihen, Essen rationieren und ihre Kinder zur Arbeit schicken. Im Kontext einer Gesellschaft, in der die Erwerbstätigkeit von Frauen traditionell gering ist, sind solche Haushalte mit erhöhten bürokratischen Hindernissen und sozialer Stigmatisierung, insbesondere auch im Rückkehrprozess konfrontiert. Ohne männliche Angehörige erhöht sich das Risiko für diese Familien, Opfer von Kinderheirat und sexueller Ausbeutung zu werden.

Die Stellung der Frau hat sich im Vergleich zur Zeit des Saddam-Regimes dramatisch verschlechtert. Mit der Erosion von Sicherheit und Stabilität einhergehend haben frauenfeindliche Ideologien propagierende Milizen Frauen und Mädchen zur Zielscheibe von Angriffen gemacht und sie eingeschüchtert, sich aus dem öffentlichen Leben fernzuhalten. Frauen sehen sich dem Risiko ausgesetzt, von Mitgliedern der ausschließlich männlichen Polizei oder anderen Sicherheitskräften belästigt und misshandelt zu werden. Die größten Opfer der fortdauernden Unsicherheit sind junge Frauen. Die prekäre Sicherheitslage in Teilen der irakischen Gesellschaft und insbesondere unter Binnenflüchtlingen hat negative Auswirkungen auf das Alltagsleben und die politischen Freiheiten der Frauen. Frauen, die in politischen und sozialen Bereichen tätig sind, darunter Frauenrechtsaktivistinnen, Wahlkandidatinnen, Geschäftsfrauen, Journalistinnen sowie Models und Teilnehmerinnen an Schönheitswettbewerben, sind Einschüchterungen, Belästigungen und Drohungen ausgesetzt. Dadurch sind sie oft gezwungen, sich aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen oder aus dem Land zu fliehen.

Sowohl Männer als auch Frauen stehen unter Druck, sich an konservative Normen zu halten, was das persönliche Erscheinungsbild betrifft. Vor allem im schiitisch geprägten Südirak werden auch nicht gesetzlich vorgeschriebene islamische Regeln, z.B. Kopftuchzwang an Schulen und Universitäten, stärker durchgesetzt. Frauen werden unter Druck gesetzt, ihre Freizügigkeit und Teilnahme am öffentlichen Leben einzuschränken. Einige Muslime bedrohen Frauen und Mädchen, unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit, wenn sich diese weigern, ein Hijab zu tragen, bzw. wenn sie sich in westlicher Kleidung kleiden oder sich nicht an die strengen Auslegungen islamischer Normen, die das Verhalten in der Öffentlichkeit dominieren, halten. Vertreter christlicher Nichtregierungsorganisationen gaben an, zahlreiche Frauen, auch Christinnen, hätten berichtet, sie würden nach Schikanen ein Hijab tragen. Der Kleidungsstil, der von Frauen erwartet wird, ist im Irak über die letzten zwei Dekaden konservativer geworden. Dieses Phänomen hat sich nach 2003 dadurch beschleunigt, dass sunnitische und schiitische religiöse Kräfte im Irak auf dem Vormarsch sind. In schiitischen Gebieten, einschließlich Basra und Bagdad, versuchen schiitische Milizen, strikte Bekleidungsvorschriften durchzusetzen, und sind für gewalttätige Übergriffe auf Frauen verantwortlich, deren Kleidungsstil als unangebracht angesehen wird.

In Gebieten, in denen es eine starke Präsenz von Milizen gibt, kommt es vor, dass diese Milizen in Bezug auf Frauen (aber auch ganz allgemein) konservativere kulturelle Normen und Konventionen einführen bzw. sogar gewaltsam erzwingen. Einige Milizen schränken die Rechte von Frauen systematisch ein. Ob und wie weit dies geht, hängt nicht nur von der jeweiligen Miliz ab, sondern auch von den jeweiligen lokalen Kommandanten. Betroffen sind nicht nur Frauen in Gebieten, die unter der Kontrolle der Milizen stehen, sondern auch Frauen in anderen Städten wie z.B. Bagdad und Basra, in denen der Einfluss der Milizen sehr groß ist. Die Milizen operieren diesbezüglich ungestraft, zum Teil auch in Komplizenschaft mit den lokalen Behörden. So berichtet EASO von einem (datumsmäßig nicht näher bezeichneten) Vorfall in Bagdad, bei dem Mitglieder einer Miliz ein angebliches Bordell gestürmt und sämtliche Anwesenden getötet hätten. Überdies seien in Basra Frauen von unbekannten Milizionären getötet worden, wobei man an ihren Leichnamen Bekennerschreiben gefunden habe, denen zufolge die Frauen anstößige Kleidung getragen hätten oder in kompromittierenden Situationen angetroffen worden seien. Nach Auskunft der Iraq Civil Solidarity Initiative wurden im schiitisch dominierten Basra im Sommer 2016 mehrere Cafés im Stadtzentrum, die Frauen beschäftigten und sich zum Teil nur wenige Meter von der Residenz des Gouverneurs und anderen Sicherheitseinrichtungen entfernt befanden, von religiösen Extremisten in die Luft gesprengt. Als Reaktion hierauf hätten viele in örtlichen Cafés oder der Tourismusindustrie beschäftigte Frauen ihren Arbeitsplatz aufgegeben.

Im Frühjahr 2022 stieg die Zahl von tödlichen Angriffen auf Frauen durch Familienmitglieder in der Region Kurdistan-Irak stark an (Deadly attacks on women rise sharply in Iraqi Kurdistan, 20.03.2022, [https://www.france24.com/en/live-news/20220320-deadly-attacks-on-women-rise-sharply-in-iraqi-kurdistan], In Iraqi Kurdistan, deadly attacks on Kurdish women are on the rise, 20.03.2022 [https://ekurd.net/iraqi-kurdistan-deadly-attacks-2022-03-20], abgerufen am 15.05.2023). Während im Jahr 2020 25 Frauen und im Jahr 2021 45 getötet worden seien, seien in den ersten drei Monaten des Jahres 2022 bereits elf Frauen in der Region Kurdistan-Irak Opfer von tödlichen Übergriffen gewesen. So berichten die Meldungen von einer Aktivistin für Frauenrechte, die von ihrem 18jährigen Bruder erschossen worden sei, da sie sich nicht der Familie untergeordnet habe. Die geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen wird begünstigt durch gesellschaftliche Faktoren wie etwa Hassreden gegen Frauen in den sozialen Netzwerken, welche in der RKI zur Normalität geworden sind. Wenn Nachrichtenplattformen über "Ehrenmorde" berichten, lobt eine beträchtliche Anzahl von Menschen die Täter und rechtfertigt die Taten. Das Bildungssystem der RKI kann nicht Schritt halten mit der Schnelligkeit der Veränderungen, die die sozialen Medien ermöglichen (Ruwayda Mustafah, Washington Institute, 28.03.2022, https://www.washingtoninstitute.org/policy-analysis/addressing-violence-against-women-iraqi-kurdistan). Der Hohe Rat für Frauenangelegenheiten der RKI und die Generaldirektion für die Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen (DCVAW) erklärten, dass die Online-Belästigung von Mädchen und Frauen stark zugenommen habe. Nach Angaben der DCVAW gehen 75 % der Fälle von geschlechtsspezifischer Gewalt auf soziale Netzwerke zurück (U. S. Department of State (USDOS), Iraq 2021 Human Rights Report, 12.04.2022, S. 48) (vgl. VG Braunschweig, Urt. v. 26.01.2023 - 2 A 172/19 -, juris)."

Der o. g. häuslichen Gewalt gegen Frauen wird von Staatsseite auch weiterhin nicht bzw. nicht effektiv entgegengewirkt (vgl. hierzu z. B.: EUAA; Iraq; Situation of women who have suffered domestic violence [Q35-2021] vom 14. Oktober 2021, abrufbar unter: https://coi.euaa.europa.eu/administration/easo/PLib/2021_10_Q35_EASO_COI_Query_Response_IRAQ_domestic_violence.pdf, zuletzt abgerufen am 7. Juni 2023; Amnesty International, Report 2022/23; The State of the World's Human Rights; Iraq 2022 vom 27. März 2023, abrufbar unter https://www.amnesty.org/en/location/middle-east-and-north-africa/iraq/report-iraq/, zuletzt abgerufen am 7. Juni 2023; Khanim Latif, NGO-Arbeitsgruppe für Frauen, Frieden und Sicherheit, Briefing des UN-Sicherheitsrats zum Irak vom 18. Mai 2023, abrufbar unter: https://www.womenpeacesecurity.org/resource/un-security-council-briefing-iraq-khanim-latif/, zuletzt abgerufen am 7. Juni 2023).

d) Soweit der Einzelrichter der 12. Kammer des VG Hannover in einer innerhalb des VG Hannover isoliert gebliebenen Entscheidung (VG Hannover, Urteil vom 21. November 2022 - 12 A 1928/18 -, juris) die Auffassung vertreten hat, Jesidinnen aus dem Distrikt Semel der Provinz Dohuk hätten keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen westlicher Identitätsprägung, weil sich für diese die Situation (in der Autonomen Region Kurdistan) derart verändert habe, dass eine Verfolgung nicht beachtlich wahrscheinlich zu befürchten sei, kann dem nicht gefolgt werden.

Diesbezüglich nimmt der Einzelrichter zunächst Bezug auf die folgenden Erwägungen der Einzelrichterin der 6. Kammer des VG Hannover in ihrem vorzitierten Urteil vom 10. Mai 2023 (- 6 A 2409/23 -, a. a. O.):

Etwas anderes folgt auch nicht aus aktuellen Entwicklungen im Sinne eines kulturellen Wandels innerhalb der traditionell patriarchalisch geprägten Gemeinschaft der Yeziden, der die Klägerin angehört. Zwar wird berichtet, dass sich, ausgelöst durch die Erfahrung von Völkermord und Vertreibung, die Verschleppung und Versklavung tausender Yezidinnen und unterstützt durch Programme zu Bildung und Frauenrechten in den Vertriebenenlagern die Situation für Frauen mittlerweile deutlich verbessert habe (vgl. hierzu: VG Hannover, Urt. v. 21.11.2022 - 12 A 1928/18 -, juris, Rn. 33). Frauen und Mädchen seien sich ihrer bürgerlichen Rechte und Freiheiten zunehmend bewusst und mehr Frauen als je zuvor nähmen am Arbeitsleben teil. So dürften yezidische Frauen ihr Dorf - anders als früher - ohne einen männlichen Vormund verlassen und auch Reisen unternehmen, in Initiativen engagierte Yezidinnen würden Politiker treffen und über Gerechtigkeit und Entschädigung für ihre Glaubensgemeinschaft sprechen. Yezidische Frauen würden an Universitäten studieren, es gebe Fahrschulen für Frauen sowie eine Yezidin, die 2021 an den Wahlen zur "Miss Irak" teilgenommen habe. Es gebe Frauenversammlungen und Demonstrationen. In einer Reportage über yezidische Frauen im Nordirak seien Frauen in der Öffentlichkeit zu sehen, die geschminkt seien und westliche Kleidung trügen. Diese Beobachtungen lassen sich jedoch aktuell nicht derart verallgemeinern, dass allen yezidischen Frauen in der RKI die entsprechenden Freiheiten zur Verfügung stehen. Für die Annahme, dass yezidische Frauen, die sich der rechtlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Diskriminierung der Frauen im Irak aufgrund ihrer westlichen Prägung entgegenstellen, nicht mehr wegen ihrer deutlich abgegrenzten Identität von der irakischen Gesellschaft als andersartig betrachtet werden und einer beachtlichen Verfolgungsgefahr ausgesetzt sein können, genügt nicht nur die Beobachtung, dass die beschriebenen Verhaltensweisen einzelnen Personen möglich sind. Vielmehr muss auch feststellbar sein, dass Frauen, die aufgrund ihres Verhaltens bzw. ihres Aussehens als andersartig betrachtet werden und Diskriminierung im Sinne einer Verfolgung erfahren, staatlichen Schutz vor dieser Verfolgung erlangen können (§ 3c AsylG). Eine Änderung in der Fähigkeit der kurdischen Regionalregierung, den Schutz von Frauen zu verbessern ist indes nicht feststellbar. Zwar hat die kurdische Regionalregierung ihre Anstrengungen zum Schutz der Frauen verstärkt. So wurden im Innenministerium vier Abteilungen zum Schutz von weiblichen Opfern von (familiärer) Gewalt sowie vier staatliche Frauenhäuser eingerichtet. Zwei weitere werden von NGOs betrieben. Zusätzlich unterstützt der Hohe Frauenrat (High Council of Women Affairs - HCWA) der kurdischen Regionalregierung den Schutz von Frauenrechten. Seit 2011 gibt es ein kurdisches Gesetz gegen häusliche Gewalt, in dem weibliche Genitalverstümmelung, Zwangsverheiratung von Frauen und andere Gewalt innerhalb der Familie unter Strafe gestellt werden. Die gesetzlichen Regelungen werden in der Praxis allerdings nicht durchgängig umgesetzt. Eine vom Frauenrechtskomitee des kurdischen Parlaments initiierte Reform des Gesetzes zur Bekämpfung häuslicher Gewalt, die eine Erweiterung der Schutzrechte von Frauen vorsieht, scheiterte zunächst am Widerstand der islamistischen Parteien. Sie erreichten, dass der Änderungsantrag der Fatwa-Kommission der RKI zur Überprüfung auf Konformität mit islamischem Recht vorgelegt wurde.

Angesichts des beschriebenen kulturellen und gesellschaftlichen Wandels innerhalb der RKI sind die dortigen Entwicklungen künftig sorgfältig zu beobachten. Es erscheint indes unwahrscheinlich, dass zuvörderst die von mehreren Diskriminierungsformen betroffenen yezidischen Frauen, die gesellschaftlich sowohl aufgrund ihrer Religion marginalisiert als auch aufgrund ihres Geschlechts diskriminiert werden, nicht mehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr einer Verfolgung droht."

Darüberhinausgehend ist zu der o. g. Entscheidung des Einzelrichters der 12. Kammer des VG Hannover vom 21. November 2022 (a. a. O.) anzumerken, dass diese sich in Bezug auf die getroffene Grundannahme lediglich auf zwei Quellen (Cathrin Schaer, Jesidinnen im Irak, Aufbruch nach der Tragödie, 9. Januar 2022, abrufbar unter: https://de.qantara.de/inhalt/jesidinnen-im-irak-aufbruch-nach-der-tragoedie, zuletzt abgerufen am 7. Juni 2023; ARTE, Irak: Die überlebenden Jesidinnen vom 6. Mai 2022, abrufbar unter https://www.arte.tv/de/videos/107048-000-A/irak-die-ueberlebenden-jesidinnen/, zuletzt abgerufen am 7. Juni 2023) stützt, wobei beide nicht die Zielrichtung haben, eine Aussage zu der Frage zu treffen, ob jesidische Frauen in der Autonomen Region Kurdistan gefährdet sind, soweit diese einen westlich geprägten Lebensstil pflegen. Es handelt sich lediglich um Reportagen zu Einzelschicksalen, bei denen nur wenige Menschen interviewt bzw. in den Blick genommen wurden. Die einschlägigen Erkenntnismittel zum Irak (vgl. z. B.: EUAA, Country Guidance: Iraq, Juni 2022, abrufbar unter: https://www.ecoi.net/en/file/local/2076349/2022_06_Country_Guidance_Iraq.pdf, zuletzt abgerufen am 7. Juni 2023; Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 28. Oktober 2022; UKHO, Country policy and information note: security situation, Iraq, November 2022, abrufbar unter: https://www.gov.uk/government/publications/iraq-country-policy-and-information-notes/country-policy-and-information-note-security-situation-iraq-november-2022-accessible, zuletzt abgerufen am 7. Juni 2023; HRW, World Report 2023 - Iraq vom 12. Januar 2023, abrufbar unter: https://www.hrw.org/world-report/2023/country-chapters/iraq, zuletzt abgerufen am 7. Juni 2023; DFAT, Country Information Report Iraq vom 16. Januar 2023, abrufbar unter: https://www.ecoi.net/en/file/local/2085737/country-information-report-iraq.pdf, zuletzt abgerufen am 7. Juni 2023; The State of the World's Human Rights; Iraq 2022 vom 27. März 2023, abrufbar unter https://www.amnesty.org/en/location/middle-east-and-north-africa/iraq/report-iraq/, zuletzt abgerufen am 7. Juni 2023; Amnesty International, Report 2022/23;; USDOS, 2022 Country Reports on Human Rights Practices: Iraq vom 20. März 2023, abrufbar unter: https://www.state.gov/reports/2022-country-reports-on-human-rights-practices/iraq/, zuletzt abgerufen am 7. Juni 2023) stützen die vorbezeichnete Annahme jedenfalls nicht. Zudem ist der Beitrag von Cathrin Schaer in der vorzitierten Entscheidung auch nicht hinreichend ausgewertet worden. Die Passage: "Denn ihre neuen Rechte können die jesidischen Frauen immer noch nur dann wahrnehmen, wenn die männlichen Familienmitglieder ihr Einverständnis dazu geben. Hier herrscht immer noch ein starkes Patriarchat.", wird nicht erwähnt, und mit den daraus resultierenden Folgen findet dementsprechend keine Auseinandersetzung statt. Ebenfalls fehlt es dem o. g. Urteil an einer Auseinandersetzung mit der Frage, wie die steigende Zahl an sog. Femiziden - insbesondere auch in der Autonomen Region Kurdistan - (vgl. hierzu u. a.: France 24, Deadly attacks on women rise sharply in Iraqi Kurdistan vom 20. März 2022, abrufbar unter: https://www.france24.com/en/live-news/20220320-deadly-attacks-on-women-rise-sharply-in-iraqi-kurdistan, zuletzt abgerufen am 7. Juni 2023; Ruwayda Mustafah, Addressing Violence Against Women in Iraqi Kurdistan vom 28. März 2022, abrufbar unter: https://www.washingtoninstitute.org/policy-analysis/addressing-violence-against-women-iraqi-kurdistan, zuletzt abgerufen am 7. Juni 2023; Ruwayda Mustafah, Prioritizing women welfare could curb femicides in Kurdistan Region vom 27. April 2022, abrufbar unter: https://www.rudaw.net/english/opinion/27042022, zuletzt abgerufen am 7. Juni 2023; Cathrin Schaer, Mord an einem YouTube-Star im Irak - Was tun gegen häusliche Gewalt? vom 4. März 2023, abrufbar unter: https://de.qantara.de/inhalt/mord-an-einem-youtube-star-im-irak-was-tun-gegen-haeusliche-gewalt, zuletzt abgerufen am 7. Juni 2023; allgemein zum Irak und ohne örtliche Differenzierung: Khanim Latif, NGO-Arbeitsgruppe für Frauen, Frieden und Sicherheit, Briefing des UN-Sicherheitsrats zum Irak vom 18. Mai 2023, abrufbar unter: https://www.womenpeacesecurity.org/resource/un-security-council-briefing-iraq-khanim-latif/, zuletzt abgerufen am 7. Juni 2023) mit der in diesem getroffenen Grundannahme in Einklang zu bringen ist.

e) Die Annahme eines westlichen Lebensstils ist nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 Buchst. a Halbsatz 1 AsylG jedoch nur beachtlich, wenn er die betreffende Frau in ihrer Identität maßgeblich prägt, d.h. auf einer ernsthaften und nachhaltigen inneren Überzeugung beruht. Ob eine in ihrer Identität westlich geprägte irakische Frau im Fall ihrer Rückkehr in den Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG ausgesetzt ist, bedarf überdies einer umfassenden Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalls. Dabei ist die individuelle Situation der Frau/des Mädchens nach ihrem regionalen und sozialen, insbesondere dem familiären Hintergrund zu beurteilen. Dies ist dem Umstand geschuldet, dass sich die konkrete Situation irakischer Frauen/Mädchen je nach regionalem und sozialen Hintergrund stark unterscheiden kann (vgl. u. a. VG Hannover, Urteil vom 18. März 2021 - 12 A 1130/18 -, V. n. b.; Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Urteil vom 21. September 2015 - 9 LB 20/14 -, Rn. 38-39, juris zu Afghanistan).

f) Nach der informatorischen Anhörung der Klägerin in der mündlichen Verhandlung - bei der die 13jährige Klägerin durchgehend authentisch und überzeugend wirkte - hat der Einzelrichter - ausgehend von dem vorbezeichneten Maßstab - die eindeutige Überzeugung gewonnen, dass diese in den vergangenen Jahren in der Beklagten eine "westlich geprägte Identität" entwickelt hat, die für sie von zentraler Bedeutung ist und die sie bei einer Rückkehr in den Irak nicht wird ablegen können. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass sie einen sehr prägenden Teil ihres Lebens in der Beklagten verbracht hat; sie ist hier im Alter von neun Jahren eingetroffen.

Die Klägerin trat in der mündlichen Verhandlung emanzipiert und selbstbewusst auf. Sie verzichtete fast ausschließlich auf die Zuhilfenahme des Dolmetschers und spricht sehr gut Deutsch; es traten dementsprechend keinerlei Verständigungsschwierigkeiten auf. Sie hatte offenes sowie unverdecktes Haar und war von ihrem Kleidungsstil auch sonst "westlich geprägt" (pinkfarbenes Kleid).

Die Klägerin geht derzeit in die sechste Klasse. Später will sie entweder Krankenschwester oder Friseurin werden. Sie plane einen Realschulabschluss. Derzeit sei es mit Mathe etwas schwierig, aber sie hoffe, dass sie diesen schaffen werde. Sie hat seit der fünften Klasse einen festen Freund mit Namen "H.". In Bezug auf diesen gebe es mit ihren Eltern kein Problem. Die Beziehung werde so akzeptiert, obgleich ihr Freund Deutscher ist, ohne jesidischen Hintergrund. In ihrer Freizeit spielt sie Fußball mit Freunden, geht raus und ins Schwimmbad. Fußball spielt sie nicht im Verein, sondern in der Schule. Dort ist sie Torwärterin. Sie spielt dabei auch mit den Jungen zusammen. Nach ihrem Befinden sei sie gut in dem, was sie beim Fußball mache. Sie hat sowohl weibliche als auch männliche Freunde, was für sie nach dem Eindruck des Einzelrichters absolut selbstverständlich ist. Zu Hause helfe sie zum Teil ihrer Mutter, gehe aber auch viel mit Freunden raus: Eis essen, shoppen oder spazieren. Sie ist der Auffassung, dass wenn sie später mit einem Mann zusammen wäre, sie Entscheidungen über das Leben mit ihm gemeinsam und gleichberechtigt treffen wolle. Alle Entscheidungen, die sie selber angingen, würde sie für sich persönlich treffen und lasse sich dort nicht reinreden. Man könne alles zusammen diskutieren, aber am Ende sei es ihre Entscheidung. Mit ihren Eltern spreche sie derzeit natürlich auch darüber, mit wem sie zusammen ist. Später sei aber auch dies ihre Entscheidung, und sie würde entscheiden, mit wem sie zusammenkommen möchte oder nicht. Würde ihr jemand sagen, dass Mädchen nicht Fußball spielen sollen, wäre ihr das egal, denn sie habe Spaß daran. Sie würde dann einfach weiterspielen. Auf die Frage des Einzelrichters, was die Klägerin sagen würde, wenn ihr ein späterer Freund oder Ehemann sagen würde, sie solle ihren Beruf nicht ausüben oder sie solle keinen Beruf ergreifen, erklärt sie sichtlich überzeugt und mit Nachdruck, dass sie darauf bestehen würde, einen Beruf auszuüben. Es sei schon ihr früher Kindheitstraum gewesen, im medizinischen Bereich zu arbeiten - also entweder als Krankenschwester oder als Ärztin. Diesen Traum wolle sie sich nicht nehmen lassen.

Auffällig war, dass die Klägerin fast während der gesamten mündlichen Verhandlung nicht zu der neben ihr sitzenden Mutter geschaut hat. Sie brauchte diesbezüglich offensichtlich keinerlei Rückversicherung, auch nicht bei Fragen, die darauf abzielten, wie ihre Eltern dazu stünden, wie sie hier lebe. Auch durch dieses Verhalten hat sie ganz deutlich gezeigt, dass sie sehr emanzipiert ist. Aus dem Verhalten ihrer Mutter - welche die gesamte Zeit stolz gelächelt hat - meint der Einzelrichter auch schließen zu können, dass dieser dem Vortrag der Klägerin zustimmte. Ausdrücklich bekräftigte sie, dass sie kein Problem damit habe, dass die Klägerin mit einem deutschen Jungen zusammen sei.

All dies entspricht dem Bild eines freiheitlich denkenden und emanzipierten Mädchens, das unabhängig sein und dies unter keinen Umständen aufgeben möchte. Zudem ist zu beachten, dass sie bereits im frühen Kindesalter aus dem Irak ausgereist ist. Dementsprechend ist ihr das im Irak vorherrschende gesamtgesellschaftliche Rollenbild von Mädchen und Frauen - jedenfalls aus eigener Anschauung - überwiegend fremd. Gerade Kinder können sich nicht gut verstellen. Sie kennt aus eigener Erfahrung ganz vordergründig die hiesigen Werte, nach denen die Geschlechter völlig gleichberechtigt nebeneinanderstehen (sollten) und hat diese zur festen Überzeugung des Einzelrichters auch vollkommen verinnerlicht.

Zur Überzeugung des Einzelrichters ist die westliche Lebensweise in der Persönlichkeit der Klägerin mithin mittlerweile so tief verwurzelt, dass sie diese nicht mehr ablegen könnte, jedenfalls aber, dass es ihr nicht mehr zumutbar wäre, sich dem im Irak vorherrschenden traditionellen Sitten- und Rollenbild von Frauen (und Mädchen) zu unterwerfen, da sie hierfür einen wesentlichen Kerngehalt ihrer Persönlichkeit aufgeben müsste. Die Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung ganz deutlich zum Ausdruck gebracht, dass es für sie unvorstellbar und in der Vorstellung unerträglich ist, in den Irak zurückzukehren und sich dort als Frau unterzuordnen und anzupassen. Ihre erste Reaktion auf die Frage war sehr überzeugend und vehement. Sie bekundete, sie wolle unbedingt die Schule abschließen. Es sei ihr wichtig, eine Zukunft für sich zu haben. Sie könne sich schlechterdings nicht vorstellen, sich zu unterwerfen und ihr Leben, wie sie es hier lebt, aufzugeben. Ihr sei bekannt, dass dies im Irak so nicht akzeptiert sei. Aber es sei ihr immens wichtig, ihr eigenes Leben zu gestalten.

g) Das fast durchgehend in der Rechtsprechung geprüfte Merkmal des fehlenden wirksamen Schutzes durch einen Familien- oder Stammesverbund liegt vorliegend auch vor, da zum einen nach den glaubhaften Ausführungen der Klägerin und ihrer Mutter sich im Irak keinerlei Verwandtschaft mehr befinde (lediglich ihre Kernfamilie - also ihre Eltern und die minderjährigen Geschwister -, von der bei einer realistischen Rückkehrprognose anzunehmen wäre, dass diese mit der Klägerin in den Irak zurückkehrten [vgl. hierzu die Urteile des Eufach0000000005s vom 4. Juli 2019 - 1 C 45/18 -, - 1 C 49/18 - und - 1 C 50/18 -, juris], wäre dann mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit ihr vor Ort). Aus Sicht des Einzelrichters ist es aber auch unerheblich, ob noch ein Familien- oder Stammesverbund im Irak vorhanden ist. Denn soweit - wie vorliegend - eine so starke "westliche Prägung" vorliegt, dass sich diese voraussichtlich bei einer Rückkehr in den Irak nicht ablegen lassen wird, ist zum einen schon nicht davon auszugehen, dass sich die betroffene Frau (bzw. das betroffene Mädchen) nur in Begleitung nach draußen begeben wird. Soweit ersichtlich, stellt der überwiegende Teil der Rechtsprechung sogar explizit auf männliche Schutzpersonen ab, was in Bezug auf eine emanzipierte Frau (bzw. ein emanzipiertes Mädchen), noch widersinniger erscheint. Zudem ist auch in keiner Weise ersichtlich, wie ein effektiver Schutz durch den Stammes- oder Familienverbund in Anbetracht der oben genannten Gefährdungssituation überhaupt möglich sein soll, selbst dann, wenn die Klägerin dauerhaft eine (männliche) Begleitperson hätte.

h) Ausreichender staatlicher oder interner Schutz vor Verfolgung durch staatliche oder nichtstaatliche Akteure ist für die Klägerin nicht erreichbar. Das beschriebene Verhalten gegenüber "westlich" orientierten Frauen bzw. Mädchen geht sowohl von staatlichen als auch nichtstaatlichen Akteuren aus und ist in sämtlichen Provinzen des Irak - lediglich in unterschiedlichem Ausmaß der hieraus folgenden traditionellen Richtsätze und Gepflogenheiten - fest in der männlich dominierten Gesellschaft verankert, sodass der Klägerin die vorbeschriebenen Gefahren landesweit drohen. Dabei ist festzustellen, dass der irakische Staat trotz der generellen Zielsetzungen in der Verfassung bislang weder im einfachen Recht noch in der Praxis effektive Maßnahmen zum Schutz von Frauen ergriffen hat (vgl. VG Gelsenkirchen, Urteil vom 8. Juni 2017 - 8a K 1971/16.A -, juris Rn. 74-77 und siehe auch die vorstehenden Ausführungen).

2. Mit der Aufhebung des streitgegenständlichen Bescheides und der Verpflichtung zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erübrigt sich eine Entscheidung über die Gewährung des subsidiären Schutzes und das Bestehen von Abschiebungsverboten sowie (Hilfsanträge). Da die Voraussetzungen in Bezug auf die ersten beiden allerdings nach den obigen Ausführungen vorliegen, sind die Feststellungen im angefochtenen Bescheid ebenfalls aufzuheben.

3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 und § 711 Satz 1 und 2 ZPO.