Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 30.05.2023, Az.: 12 A 4514/21

Flüchtlingsschutz für verwestlichte Yezidin aus dem Irak

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
30.05.2023
Aktenzeichen
12 A 4514/21
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2023, 21093
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGHANNO:2023:0530.12A4514.21.00

Amtlicher Leitsatz

Frauen, deren Identität maßgeblich von westlichen Werten und Moralvorstellungen geprägt ist, droht im Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung. (Anschluss an VG Hannover, Urt. v. 10.5.2023 - 6 A 2409/23; VG Braunschweig Urt. v. 26.1.2023 - 2 A 172/19; entgegen VG Hannover, Urt. v. 21.11.2022 12 A 1928/18)

Tenor:

Die Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Die Ziffern 1 und 3 bis 6 des Bescheids des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 2.7.2021 werden aufgehoben.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Die Entscheidung ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Vollstreckungsschuldnerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Vollstreckungsgläubigerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.

Tatbestand

Die Klägerin begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

Die 1999 geborene Klägerin, die irakische Personalpapiere vorgelegt hat, ist irakische Staatsangehörige kurdischer Volks- und yezidischer Glaubenszugehörigkeit. Sie reiste am 24.11.2017 gemeinsam mit ihren vier damals minderjährigen Geschwistern und ihrer Mutter, Frau F., aus der Türkei kommend mit einem gültigen Visum zum Familiennachzug zu ihrem Vater, Herrn G., auf dem Luftweg in die Bundesrepublik Deutschland ein. Am 19.6.2019 stellte sie einen Asylantrag. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) erkannte ihrem Vater mit Bescheid vom 1.6.2016 die Flüchtlingseigenschaft zu.

Bei ihrer Anhörung im Bundesamt machte sie folgende Angaben: Sie stamme aus dem Dorf Khane Sor (auch: Khanasor) in der Provinz Ninive, Distrikt Sindjar (auch: Shingal), wo sie bis zu ihrer Flucht mit ihrer Familie, bestehend aus ihren Eltern und insgesamt sechs Geschwistern, gelebt habe. Sie habe im Irak nicht die Schule besucht. Ihren Asylantrag habe sie erst im Jahr 2019 gestellt, da die Aufenthaltserlaubnis, die sie nach ihrer Einreise erhalten habe, zu diesem Zeitpunkt abgelaufen sei. Zu den Gründen für ihren Asylantrag trug sie im Wesentlichen vor, als Yezidin im Irak in ständiger Angst vor dem IS leben zu müssen. Beim Angriff des IS auf Sindjar sei ihrer Familie nur knapp die Flucht gelungen. Am 3.8.2014 seien etwa fünf Autos von IS-Kämpfern in ihrer Gegend gewesen. Sie, die Familie der Klägerin, seien angesprochen worden und man habe ihnen gesagt, dass jetzt der Islamische Staat herrsche und die Yeziden zum Islam konvertieren müssten. Als die IS-Kämpfer abgezogen seien, seien alle Yeziden gemeinsam in die Berge geflohen. Danach habe sie etwa ein Jahr in einem Flüchtlingslager in Zaxo (Zakho) gelebt, bevor sie mit ihrer Familie den Irak verlassen habe. Bis zu ihrer Einreise nach Deutschland habe sie in der Türkei gelebt.

Mit Bescheid vom 2.6.2021 lehnte das Bundesamt den Antrag der Klägerin auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1), auf Anerkennung als Asylberechtigte (Nr. 2) und auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus (Nr. 3) ab, stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 4) und forderte die Klägerin unter Androhung ihrer Abschiebung in den Irak zur Ausreise auf (Nr. 5). Schließlich ordnete es ein Einreise- und Aufenthaltsverbot an und befristete es auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Nr. 6). Der Bescheid wurde am 5.7.2021 zugestellt. Zur Begründung führte das Bundesamt im Wesentlichen aus, die Klägerin sei nicht individuell verfolgt und auch nicht vorverfolgt. Die Heimatregion der Klägerin sei nicht mehr vom IS kontrolliert, sodass nicht von einer Gruppenverfolgung der Yeziden auszugehen sei. Auch subsidiärer Schutz sei abzulehnen, da in Ninive kein genereller Gefährdungsgrad für Zivilpersonen angenommen werden könne, der die Feststellung einer erheblichen individuellen Gefahr allein aufgrund einer Rückkehr in das Herkunftsgebiet und eines Aufenthalts dort rechtfertige. Auch ein Abschiebungsverbot komme nicht in Betracht. Die Grundversorgung der Klägerin sei im Falle einer Rückkehr in den Irak gesichert. Sie könne dort mit der Unterstützung ihres rückkehrpflichtigen Bruders H. rechnen.

Am 13.7.2021 hat die Klägerin Klage erhoben.

Zur Begründung trägt sie vor, dass den Yeziden im Irak weiterhin Verfolgung drohe. Als Frau sei sie zudem von geschlechtsspezifischer Verfolgung bedroht. Sie führe inzwischen ein von westlichen Werten und Vorstellungen geprägtes freies Leben, das von der irakischen Mehrheitsgesellschaft nicht akzeptiert werde. An Deutschland schätze sie, dass es hier Frauenrechte gebe und sie selbstbestimmt leben und ihren Traumberuf ausüben könne. Sie treffe sich gerne mit Freunden und wolle selbst entscheiden, mit wem sie Kontakt halten dürfe.

Ihren Geschwistern I., J., K. und L. M. N. erkannte das Bundesamt mit Bescheid vom 25.6.2019 die Flüchtlingseigenschaft zu, jeweils abgeleitet vom Vater der Klägerin.

Am 18.6.2020 verstarb der Vater der Klägerin. Mit Bescheid vom 30.1.2023 widerrief das Bundesamt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft der Geschwister der Klägerin mit der Begründung, dass der Stammberechtigte verstorben sei. Diesen Widerrufsbescheid hob das Bundesamt mit Schreiben vom 12.4.2023 auf.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte zu verpflichten, ihr unter teilweiser Aufhebung des Bescheids vom 2.7.2021 die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,

hilfsweise, die Beklagte zu verpflichten, ihr den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen,

weiter hilfsweise, die Beklagte zu verpflichten, festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot vorliegt.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Klägerin und ihre Mutter sind in der mündlichen Verhandlung persönlich angehört worden; insoweit wird auf den Inhalt der Sitzungsniederschrift verwiesen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Bundesamts sowie der Ausländerbehörde, O., Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage, über die das Gericht in Abwesenheit der ordnungsgemäß geladenen Beklagten verhandeln konnte (§ 102 Abs. 2 VwGO), ist begründet. Die Beklagte ist zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu verpflichten, vgl. § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO. Der Bescheid vom 2.7.2021 ist daher rechtswidrig und aufzuheben, soweit er angegriffen ist, vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.

I.

Die Klägerin hat Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aus § 3 Abs. 4 i.V.m. Abs. 1 AsylG. Danach wird einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, grundsätzlich die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28.7.1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.

Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten gemäß § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die (1.) aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist, oder (2.) in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher Weise betroffen ist. Als derartige Verfolgung kann nach § 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG unter anderem die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt gelten.

Akteure, von denen Verfolgung ausgehen kann, sind gemäß § 3c AsylG der Staat (Nr. 1), Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (Nr. 2), sowie nichtstaatliche Akteure (Nr. 3), sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.

Zwischen den Verfolgungsgründen und den Verfolgungshandlungen muss eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG). Dabei ist unerheblich, ob der Ausländer tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden (§ 3b Abs. 2 AsylG).

Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer - bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr - die genannten Gefahren mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Hierfür ist erforderlich, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine individuelle Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen (vgl. ausführlich u. m.w.N. zum Wahrscheinlichkeitsmaßstab BVerwG, Urt. v. 4.7.2019 - 1 C 31/18 - juris Rn. 16 ff.). Dieser Maßstab entspricht dem für die Verfolgungsprognose unionsrechtlich einheitlichen Wahrscheinlichkeitsmaßstab der "tatsächlichen Gefahr" ("real risk") eines Schadenseintritts, der unabhängig davon Geltung beansprucht, ob der Ausländer verfolgt oder unverfolgt ausgereist ist (BVerwG, Urt. v. 1.6.2011 - 10 C 25.10 -, juris Rn. 22).

Vorverfolgten kommt allerdings die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU zugute. Danach ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird.

Die persönlichen Umstände, aus denen er seine Furcht vor Verfolgung herleitet, hat der Ausländer glaubhaft zur Überzeugung des Gerichts darzulegen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 21.7.1989 - 9 B 239.89 -, juris Rn. 3; VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 27.8.2013 - A 12 S 2023/11 -, juris Rn. 35).

Bezugspunkt für die Gefahrenprognose ist bei einer nicht landesweiten Gefahrenlage der tatsächliche Zielort des Ausländers bei einer Rückkehr. Dies ist in der Regel die Herkunftsregion des Ausländers, in die er typischerweise zurückkehren wird. Etwas anderes gilt jedenfalls dann, wenn sich der Ausländer schon vor der Ausreise und unabhängig von den fluchtauslösenden Umständen von dieser gelöst und in einem anderen Landesteil mit dem Ziel niedergelassen hatte, dort auf unabsehbare Zeit zu leben (BVerwG, Urt. v. 31.3.2013 - 10 C 15.12 -, juris Rn. 13 f. zu § 60 Abs. 7 AufenthG).

Gemäß § 3e AsylG wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft allerdings nicht zuerkannt, wenn er (1.) in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d hat und (2.) sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.

Nach diesen Maßgaben ist der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu der sozialen Gruppe irakischer Frauen, deren Identität westlich geprägt ist (vgl. § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 AsylG), wäre sie im Falle einer Rückkehr in den Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung im Sinne von § 3a Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 AsylG ausgesetzt.

1.

Frauen, die sich der bestehenden rechtlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Diskriminierung der Frauen im Irak aufgrund ihrer "westlichen Prägung" entgegenstellen, werden wegen ihrer deutlich abgegrenzten Identität von der irakischen Gesellschaft als andersartig betrachtet und können einer beachtlichen Verfolgungsgefahr ausgesetzt sein.

Die Einzelrichterin der 6. Kammer des Verwaltungsgerichts Hannover hat hierzu in ihrem Urteil vom 10.5.2023 (- 6 A 2409/23 - zur Veröffentlichung u.a. bei juris vorgemerkt) ausgeführt:

"Nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 AsylG gilt eine Gruppe insbesondere dann als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 4 AsylG kann eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht anknüpft.

Auf Basis dieses rechtlichen Maßstabes bilden irakische Frauen eine bestimmte soziale Gruppe, sofern sie - beispielsweise infolge eines längeren Aufenthalts in Europa - in einem solchen Maße in ihrer Identität westlich geprägt worden sind, dass sie entweder nicht mehr dazu in der Lage wären, bei einer Rückkehr in den Irak ihren Lebensstil den dort erwarteten Verhaltensweisen und Traditionen anzupassen, oder denen dies infolge des erlangten Grads ihrer westlichen Identitätsprägung nicht mehr zugemutet werden kann (VG Hannover, Urt. v. 22.6.2020 - 12 A 773/18 -, n.v., Urt. v. 10.04.2019 - 6 A 2689/17 -, juris Rn. 27, und Urt. v. 10.12.2018 - 6 A 6837/16 -, juris Rn. 58; VG Stade, Urt. v. 23.07.2019 - 2 A 19/17 -, juris Rn. 39 ff.; VG Aachen, Urt. v. 03.05.2019 - 4 K 3092/17.A -, juris Rn. 30; VG Gelsenkirchen, Urt. v. 08.06.2017 - 8a K 1971/16.A -, juris Rn. 33; VG Göttingen, Urt. v. 05.07.2011 - 2 A 215/09 -, juris Rn. 24 ff.; vgl. auch Nds. OVG, Beschl. v. 16.02.2006 - 9 LB 27/03 -, juris Rn. 13). Derart in ihrer Identität westlich geprägte Frauen teilen sowohl einen unveränderbaren gemeinsamen Hintergrund als auch bedeutsame Merkmale im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 AsylG. Sie werden wegen ihrer deutlich abgegrenzten Identität von der irakischen Gesellschaft als andersartig betrachtet.

Nach den vorliegenden Erkenntnissen (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Irak, 28.08.2022, S. 96-108, Auswärtiges Amt, Lagebericht v. 28.10.2022, S. 11 ff.; ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Autonome Region Kurdistan: Lage alleinstehender Frauen; Sicherheitslage, 12.08.2019; UNHCR, Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus dem Irak fliehen, Mai 2019, S. 99-112; EUAA, Irak - Gezielte Gewalt gegen Individuen, Januar 2022, S. 85 - 99; ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Lage westlich orientierter Frauen, 30.04.2018; Human Rights Watch, No one is safe. Abuses of women in Iraq's criminal justice system, Februar 2014) sind Frauen im Irak weitreichender Diskriminierung ausgesetzt. Konservative, patriarchalische soziale Normen und die Dominanz religiöser Werte in den verschiedenen Gemeinschaften im Irak verhindern die effektive und gleichberechtigte Teilnahme von Frauen am politischen, sozialen und wirtschaftlichen Leben. Frauen, die sich der rechtlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Diskriminierung der Frauen im Irak aufgrund ihrer westlichen Prägung entgegenstellen, werden wegen ihrer deutlich abgegrenzten Identität von der irakischen Gesellschaft als andersartig betrachtet und können einer beachtlichen Verfolgungsgefahr ausgesetzt sein (so VG Hannover, Urt. v. 18.03.2021 - 12 A 1130/18 -, n.v.). Dies gilt auch für Frauen in der Region Kurdistan-Irak.

In der Verfassung ist die Gleichstellung der Geschlechter festgeschrieben und eine Frauenquote von 25 % im Parlament (Autonome Region Kurdistan-Irak: 30 %) verankert. In politischen Entscheidungsprozessen spielen Frauen jedoch eine untergeordnete Rolle. Nur wenige Frauen nehmen Spitzenpositionen in Politik, Verwaltung und Wirtschaft ein. Nach Angaben der Unabhängigen Hohen Wahlkommission haben 2.009 Kandidatinnen an den letzten Parlamentswahlen teilgenommen. Während des Wahlkampfs wurden die Plakate der Kandidatinnen beschädigt, und es wurden Fotos online gestellt, die die Kandidatinnen scheinbar in freizügiger Kleidung zeigten. Einige Kandidatinnen zogen ihre Kandidatur zurück, nachdem sie Drohungen und Einschüchterungen erhalten hatten. Im Präsidium des Parlaments ist keine Frau vertreten. Im Regierungskabinett gibt es seit Oktober 2019 eine Frau, die Bildungsministerin. Die Hauptstadt Bagdad hatte von 2015 bis 2020 eine Frau als Bürgermeisterin, der Posten gilt allerdings als wenig einflussreich. In Kurdistan ist eine Frau Parlamentspräsidentin, es gibt drei Ministerinnen und einige hochrangige Richterinnen. Gleichwohl stellen diese Frauen Ausnahmen in einer männerdominierten Berufswelt dar. Frauen sind auf Gemeinde- und Bundesebene, in Verwaltung und Regierung unterrepräsentiert. Sie werden selten in Entscheidungspositionen und einflussreiche Positionen ernannt. Die traditionelle Rollenverteilung in der Familie lässt wenig Möglichkeiten für Frauen, sich im Studium oder im Beruf weiter zu entwickeln. Dies wird zum Teil mit der religiösen Tradition begründet, beruht aber auch auf den weit verbreiteten patriarchalischen Strukturen. Dabei stellt die Quote zwar sicher, dass Frauen zahlenmäßig vertreten sind, sie führt aber nicht dazu, dass Frauen einen wirklichen Einfluss auf Entscheidungsfindungsprozesse haben bzw. dass das Interesse von Frauen auf der Tagesordnung der Politik steht.

Frauen sind weit verbreiteter gesellschaftlicher Diskriminierung ausgesetzt und werden unter mehreren Aspekten der Gesetzgebung ungleich behandelt. Laut Art. 14 und 20 der Verfassung ist jede Art von Diskriminierung aufgrund des Geschlechtes verboten. Art. 41 bestimmt jedoch, dass Iraker Personenstandsangelegenheiten ihrer Religion entsprechend regeln dürfen. Viele Frauen kritisieren diesen Artikel als Grundlage für eine Re-Islamisierung des Personenstandsrechts und damit eine Verschlechterung der Stellung der Frau. Zudem findet auf einfachgesetzlicher Ebene die verfassungsrechtlich garantierte Gleichstellung häufig keine Entsprechung. Defizite bestehen insbesondere im Familien-, Erb- und Strafrecht sowie im Staatsangehörigkeitsrecht. In der Praxis ist die Bewegungsfreiheit für Frauen stärker eingeschränkt als für Männer. So hindert das Gesetz Frauen beispielsweise daran, ohne die Zustimmung eines männlichen Vormunds oder gesetzlichen Vertreters einen Reisepass zu beantragen oder ein Dokument zur Feststellung des Personenstands zu erhalten, welches für den Zugang zu Beschäftigung, Bildung und einer Reihe von Sozialdiensten erforderlich ist.

"Ehrenmorde" gegen Frauen sind in der irakischen Gesellschaft verbreitet. 2015 haben Regierung und Parlament der RKI in Abänderung des irakischen Strafrechts den "Ehrenmord" anderen Morden strafrechtlich gleichgestellt. Sowohl Politik als auch Rechtslage der RKI sprechen sich ausdrücklich gegen "Ehrenmorde" aus. In einigen gesellschaftlichen Gruppen gilt der "Ehrenmord" allerdings immer noch als rechtfertigbar. Im Zentralirak gelten bei "Ehrenmord" zudem mildernde Umstände.

Die Gewalt gegen Frauen und Mädchen ist seit 2003 gestiegen und setzt sich unvermindert fort. Frauen und Mädchen sind im Irak Opfer von gesellschaftlichen, rechtlichen und wirtschaftlichen Diskriminierungen, Entführungen und Tötungen aus politischen, religiösen oder kriminellen Gründen, sexueller Gewalt, erzwungener Umsiedlung, häuslicher Gewalt, "Ehrenmorden" und anderen schädlichen traditionellen Praktiken, wie etwa (Sex-)Handel und erzwungener Prostitution. In den Familien sind patriarchische Strukturen weit verbreitet; Frauen werden immer noch in Ehen gezwungen. Mehr als 20 % der Frauen werden vor ihrem 18. Lebensjahr verheiratet, viele davon im Alter von 10 bis 14 Jahren.

Frauen wird überproportional der Zugang zu Bildung und Teilnahme am Arbeitsmarkt verwehrt. Je höher die Bildungsstufe ist, desto weniger Mädchen sind vertreten. Frauen und Mädchen sind im Bildungssystem deutlich benachteiligt und haben noch immer einen schlechteren Bildungszugang als Jungen und Männer. Schätzungen zufolge sind Frauen etwa doppelt so stark von Analphabetismus betroffen wie Männer. In ländlichen Gebieten ist die Einschulungsrate für Mädchen weit niedriger als jene für Jungen. Häufig lehnen die Familien eine weiterführende Schule für Mädchen ab oder ziehen eine "frühe Ehe" für sie vor.

Frauen sind außerdem wirtschaftlicher Diskriminierung hinsichtlich des Zugangs zum Arbeitsmarkt, Kredit und Lohngleichheit ausgesetzt. Die geschätzte Erwerbsquote von Frauen lag 2014 bei nur 14%, der Anteil an der arbeitenden Bevölkerung bei 17%. Jene rund 85% der Frauen, die nicht an der irakischen Arbeitswelt teilhaben, sind einem erhöhten Armutsrisiko ausgesetzt, selbst wenn sie in der informellen Wirtschaft mit Arbeiten wie Nähen oder Kunsthandwerk beschäftigt sind. Den Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation von 2010 zufolge führt der Irak die Liste der Länder mit der niedrigsten Erwerbsbeteiligung von Frauen an. In einem Artikel von Al-Monitor vom Dezember 2017 wird berichtet, dass für viele Menschen im Irak die einzig akzeptablen Arbeitsplätze für Frauen in bestimmten häuslichen Bereichen oder Regierungsabteilungen zu finden sind. Frauen und Mädchen, die in Geschäften, Cafés, im Unterhaltungssektor, in der Krankenpflege oder im Transportsektor (Taxi-/LKW-Fahrer) arbeiten, sind verpönt.

Weiblich geführte Haushalte haben nicht unbedingt Zugang zu Finanzanlagen, Sozialleistungen oder dem öffentlichen Verteilungssystem. Viele sind auf Unterstützung durch ihre Familien, Behörden und Nichtregierungsorganisationen angewiesen. Während die meisten Frauen im Irak theoretisch Anspruch auf öffentliche oder NGO-Hilfe haben, erhalten in der Praxis nur 20-25% von ihnen diese Hilfe. Darüber hinaus deckt die Hilfe nur einen Teil des jeweiligen Haushaltsbedarfs ab. Haushalte mit weiblichen Familienoberhäuptern sind besonders anfällig für Unsicherheit bei der Nahrungsmittelversorgung. Aufgrund vieler Hindernisse beim Zugang zu Beschäftigung müssen Frauen auf andere Mittel zurückgreifen, um ihren Lebensunterhalt zu sichern, wie Geld leihen, Essen rationieren und ihre Kinder zur Arbeit schicken. Im Kontext einer Gesellschaft, in der die Erwerbstätigkeit von Frauen traditionell gering ist, sind solche Haushalte mit erhöhten bürokratischen Hindernissen und sozialer Stigmatisierung, insbesondere auch im Rückkehrprozess konfrontiert. Ohne männliche Angehörige erhöht sich das Risiko für diese Familien, Opfer von Kinderheirat und sexueller Ausbeutung zu werden.

Die Stellung der Frau hat sich im Vergleich zur Zeit des Saddam-Regimes dramatisch verschlechtert. Mit der Erosion von Sicherheit und Stabilität einhergehend haben frauenfeindliche Ideologien propagierende Milizen Frauen und Mädchen zur Zielscheibe von Angriffen gemacht und sie eingeschüchtert, sich aus dem öffentlichen Leben fernzuhalten. Frauen sehen sich dem Risiko ausgesetzt, von Mitgliedern der ausschließlich männlichen Polizei oder anderen Sicherheitskräften belästigt und misshandelt zu werden. Die größten Opfer der fortdauernden Unsicherheit sind junge Frauen. Die prekäre Sicherheitslage in Teilen der irakischen Gesellschaft und insbesondere unter Binnenflüchtlingen hat negative Auswirkungen auf das Alltagsleben und die politischen Freiheiten der Frauen. Frauen, die in politischen und sozialen Bereichen tätig sind, darunter Frauenrechtsaktivistinnen, Wahlkandidatinnen, Geschäftsfrauen, Journalistinnen sowie Models und Teilnehmerinnen an Schönheitswettbewerben, sind Einschüchterungen, Belästigungen und Drohungen ausgesetzt. Dadurch sind sie oft gezwungen, sich aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen oder aus dem Land zu fliehen.

Sowohl Männer als auch Frauen stehen unter Druck, sich an konservative Normen zu halten, was das persönliche Erscheinungsbild betrifft. Vor allem im schiitisch geprägten Südirak werden auch nicht gesetzlich vorgeschriebene islamische Regeln, z.B. Kopftuchzwang an Schulen und Universitäten, stärker durchgesetzt. Frauen werden unter Druck gesetzt, ihre Freizügigkeit und Teilnahme am öffentlichen Leben einzuschränken. Einige Muslime bedrohen Frauen und Mädchen, unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit, wenn sich diese weigern, ein Hijab zu tragen, bzw. wenn sie sich in westlicher Kleidung kleiden oder sich nicht an die strengen Auslegungen islamischer Normen, die das Verhalten in der Öffentlichkeit dominieren, halten. Vertreter christlicher Nichtregierungsorganisationen gaben an, zahlreiche Frauen, auch Christinnen, hätten berichtet, sie würden nach Schikanen ein Hijab tragen. Der Kleidungsstil, der von Frauen erwartet wird, ist im Irak über die letzten zwei Dekaden konservativer geworden. Dieses Phänomen hat sich nach 2003 dadurch beschleunigt, dass sunnitische und schiitische religiöse Kräfte im Irak auf dem Vormarsch sind. In schiitischen Gebieten, einschließlich Basra und Bagdad, versuchen schiitische Milizen, strikte Bekleidungsvorschriften durchzusetzen, und sind für gewalttätige Übergriffe auf Frauen verantwortlich, deren Kleidungsstil als unangebracht angesehen wird.

In Gebieten, in denen es eine starke Präsenz von Milizen gibt, kommt es vor, dass diese Milizen in Bezug auf Frauen (aber auch ganz allgemein) konservativere kulturelle Normen und Konventionen einführen bzw. sogar gewaltsam erzwingen. Einige Milizen schränken die Rechte von Frauen systematisch ein. Ob und wie weit dies geht, hängt nicht nur von der jeweiligen Miliz ab, sondern auch von den jeweiligen lokalen Kommandanten. Betroffen sind nicht nur Frauen in Gebieten, die unter der Kontrolle der Milizen stehen, sondern auch Frauen in anderen Städten wie z.B. Bagdad und Basra, in denen der Einfluss der Milizen sehr groß ist. Die Milizen operieren diesbezüglich ungestraft, zum Teil auch in Komplizenschaft mit den lokalen Behörden. So berichtet EASO von einem (datumsmäßig nicht näher bezeichneten) Vorfall in Bagdad, bei dem Mitglieder einer Miliz ein angebliches Bordell gestürmt und sämtliche Anwesenden getötet hätten. Überdies seien in Basra Frauen von unbekannten Milizionären getötet worden, wobei man an ihren Leichnamen Bekennerschreiben gefunden habe, denen zufolge die Frauen anstößige Kleidung getragen hätten oder in kompromittierenden Situationen angetroffen worden seien. Nach Auskunft der Iraq Civil Solidarity Initiative wurden im schiitisch dominierten Basra im Sommer 2016 mehrere Cafés im Stadtzentrum, die Frauen beschäftigten und sich zum Teil nur wenige Meter von der Residenz des Gouverneurs und anderen Sicherheitseinrichtungen entfernt befanden, von religiösen Extremisten in die Luft gesprengt. Als Reaktion hierauf hätten viele in örtlichen Cafés oder der Tourismusindustrie beschäftigte Frauen ihren Arbeitsplatz aufgegeben.

Im Frühjahr 2022 stieg die Zahl von tödlichen Angriffen auf Frauen durch Familienmitglieder in der Region Kurdistan-Irak stark an (Deadly attacks on women rise sharply in Iraqi Kurdistan, 20.03.2022, [https://www.france24.com/en/live-news/20220320-deadly-attacks-on-women-rise-sharply-in-iraqi-kurdistan], In Iraqi Kurdistan, deadly attacks on Kurdish women are on the rise, 20.03.2022 [https://ekurd.net/iraqi-kurdistan-deadly-attacks-2022-03-20], abgerufen am 15.05.2023). Während im Jahr 2020 25 Frauen und im Jahr 2021 45 getötet worden seien, seien in den ersten drei Monaten des Jahres 2022 bereits elf Frauen in der Region Kurdistan-Irak Opfer von tödlichen Übergriffen gewesen. So berichten die Meldungen von einer Aktivistin für Frauenrechte, die von ihrem 18jährigen Bruder erschossen worden sei, da sie sich nicht der Familie untergeordnet habe. Die geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen wird begünstigt durch gesellschaftliche Faktoren wie etwa Hassreden gegen Frauen in den sozialen Netzwerken, welche in der RKI zur Normalität geworden sind. Wenn Nachrichtenplattformen über "Ehrenmorde" berichten, lobt eine beträchtliche Anzahl von Menschen die Täter und rechtfertigt die Taten. Das Bildungssystem der RKI kann nicht Schritt halten mit der Schnelligkeit der Veränderungen, die die sozialen Medien ermöglichen (Ruwayda Mustafah, Washington Institute, 28.03.2022, https://www.washingtoninstitute.org/policy-analysis/addressing-violence-against-women-iraqi-kurdistan). Der Hohe Rat für Frauenangelegenheiten der RKI und die Generaldirektion für die Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen (DCVAW) erklärten, dass die Online-Belästigung von Mädchen und Frauen stark zugenommen habe. Nach Angaben der DCVAW gehen 75 % der Fälle von geschlechtsspezifischer Gewalt auf soziale Netzwerke zurück (U. S. Department of State (USDOS), Iraq 2021 Human Rights Report, 12.04.2022, S. 48) (vgl. VG Braunschweig, Urt. v. 26.01.2023 - 2 A 172/19 -, juris).

Etwas anderes folgt auch nicht aus aktuellen Entwicklungen im Sinne eines kulturellen Wandels innerhalb der traditionell patriarchalisch geprägten Gemeinschaft der Yeziden, der die Klägerin angehört. Zwar wird berichtet, dass sich, ausgelöst durch die Erfahrung von Völkermord und Vertreibung, die Verschleppung und Versklavung tausender Yezidinnen und unterstützt durch Programme zu Bildung und Frauenrechten in den Vertriebenenlagern die Situation für Frauen mittlerweile deutlich verbessert habe (vgl. hierzu: VG Hannover, Urt. v. 21.11.2022 - 12 A 1928/18 -, juris, Rn. 33). Frauen und Mädchen seien sich ihrer bürgerlichen Rechte und Freiheiten zunehmend bewusst und mehr Frauen als je zuvor nähmen am Arbeitsleben teil. So dürften yezidische Frauen ihr Dorf - anders als früher - ohne einen männlichen Vormund verlassen und auch Reisen unternehmen, in Initiativen engagierte Yezidinnen würden Politiker treffen und über Gerechtigkeit und Entschädigung für ihre Glaubensgemeinschaft sprechen. Yezidische Frauen würden an Universitäten studieren, es gebe Fahrschulen für Frauen sowie eine Yezidin, die 2021 an den Wahlen zur "Miss Irak" teilgenommen habe. Es gebe Frauenversammlungen und Demonstrationen. In einer Reportage über yezidische Frauen im Nordirak seien Frauen in der Öffentlichkeit zu sehen, die geschminkt seien und westliche Kleidung trügen. Diese Beobachtungen lassen sich jedoch aktuell nicht derart verallgemeinern, dass allen yezidischen Frauen in der RKI die entsprechenden Freiheiten zur Verfügung stehen. Für die Annahme, dass yezidische Frauen, die sich der rechtlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Diskriminierung der Frauen im Irak aufgrund ihrer westlichen Prägung entgegenstellen, nicht mehr wegen ihrer deutlich abgegrenzten Identität von der irakischen Gesellschaft als andersartig betrachtet werden und einer beachtlichen Verfolgungsgefahr ausgesetzt sein können, genügt nicht nur die Beobachtung, dass die beschriebenen Verhaltensweisen einzelnen Personen möglich sind. Vielmehr muss auch feststellbar sein, dass Frauen, die aufgrund ihres Verhaltens bzw. ihres Aussehens als andersartig betrachtet werden und Diskriminierung im Sinne einer Verfolgung erfahren, staatlichen Schutz vor dieser Verfolgung erlangen können (§ 3c AsylG). Eine Änderung in der Fähigkeit der kurdischen Regionalregierung, den Schutz von Frauen zu verbessern ist indes nicht feststellbar. Zwar hat die kurdische Regionalregierung ihre Anstrengungen zum Schutz der Frauen verstärkt. So wurden im Innenministerium vier Abteilungen zum Schutz von weiblichen Opfern von (familiärer) Gewalt sowie vier staatliche Frauenhäuser eingerichtet. Zwei weitere werden von NGOs betrieben. Zusätzlich unterstützt der Hohe Frauenrat (High Council of Women Affairs - HCWA) der kurdischen Regionalregierung den Schutz von Frauenrechten. Seit 2011 gibt es ein kurdisches Gesetz gegen häusliche Gewalt, in dem weibliche Genitalverstümmelung, Zwangsverheiratung von Frauen und andere Gewalt innerhalb der Familie unter Strafe gestellt werden. Die gesetzlichen Regelungen werden in der Praxis allerdings nicht durchgängig umgesetzt. Eine vom Frauenrechtskomitee des kurdischen Parlaments initiierte Reform des Gesetzes zur Bekämpfung häuslicher Gewalt, die eine Erweiterung der Schutzrechte von Frauen vorsieht, scheiterte zunächst am Widerstand der islamistischen Parteien. Sie erreichten, dass der Änderungsantrag der Fatwa-Kommission der RKI zur Überprüfung auf Konformität mit islamischem Recht vorgelegt wurde.

Angesichts des beschriebenen kulturellen und gesellschaftlichen Wandels innerhalb der RKI sind die dortigen Entwicklungen künftig sorgfältig zu beobachten. Es erscheint indes unwahrscheinlich, dass zuvörderst die von mehreren Diskriminierungsformen betroffenen yezidischen Frauen, die gesellschaftlich sowohl aufgrund ihrer Religion marginalisiert als auch aufgrund ihres Geschlechts diskriminiert werden, nicht mehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr einer Verfolgung droht."

Diesen überzeugenden Ausführungen schließt sich der Einzelrichter an. Darüber hinaus scheint es in jüngster Zeit auch Gegenbewegungen zu den teilweise beschriebenen positiven Entwicklungen der Frauenrechte zu geben. So berichtet Khanim Latif (NGO Working Group on Women, Peace and Security, abrufbar unter: https://www.womenpeacesecurity.org/resource/un-security-council-briefing-iraq-khanim-latif/ m.w.N., vgl. dazu auch BAMF Briefing Notes vom 22.5.2023, S. 5) in ihrem Briefing des UN-Sicherheitsrats zum Irak vom 18.5.2023 - neben dem starken Anstieg geschlechtsspezifischer Gewalt - von gezielten Kampagnen gegen Menschenrechtsaktivistinnen in der Region Kurdistan-Irak, weil sie den Begriff "Gender" verwendeten (vgl. auch Choman Hardi, The backlash against women's rights in Iraq's Kurdistan region, 14.4.2023, abrufbar unter: https://www.chathamhouse.org/2023/03/iraq-20-years-insider-reflections-war-and-its-aftermath/backlash-against-womens-rights). 2020 wurde die Aktivistin und Ärztin Reham Yacoub in Basra von Unbekannten erschossen. Sie hatte seit 2018 im Rahmen der lokalen Protestbewegung mehrere Frauenmärsche angeführt. Einige Demonstrantinnen wurden entführt oder bedroht, andere wurden mutmaßlich gezwungen, ins Exil zu gehen, wobei diese Vorkommnisse oftmals nicht gemeldet wurden (EUAA, Irak - Gezielte Gewalt gegen Individuen, Januar 2022, S. 98 f. m.w.N.). Diese Abwehrreaktionen zeigen aus Sicht des Einzelrichters letztlich, dass auch einzelne positive Entwicklungen in der irakischen Gesellschaft die Gefahren nicht generell widerlegen, die Frauen dort im Allgemeinen und erst recht Frauen, die sich ihnen zugeschriebenen Rollenbildern und männlichem Dominanzverhalten widersetzen, drohen (so auch vgl. VG Braunschweig, Urt. v. 26.01.2023 - 2 A 172/19 -, juris Rn. 39).

2.

Die Annahme eines westlichen Lebensstils ist nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 Buchst. a Halbsatz 1 AsylG jedoch nur beachtlich, wenn er die betreffende Frau in ihrer Identität maßgeblich prägt, d.h. auf einer ernsthaften und nachhaltigen inneren Überzeugung beruht. Ob eine in ihrer Identität westlich geprägte irakische Frau im Fall ihrer Rückkehr in den Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG ausgesetzt ist, bedarf überdies einer umfassenden Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalls. Dabei ist die individuelle Situation der Frau nach ihrem regionalen und sozialen, insbesondere dem familiären Hintergrund zu beurteilen. Dies ist dem Umstand geschuldet, dass sich die konkrete Situation irakischer Frauen je nach regionalem und sozialen Hintergrund stark unterscheiden kann (vgl. VG Hannover, Urt. v. 18.3.2021 - 12 A 1130/18 -, n.v.; Nds. OVG, Urt. v. 21.9.2015 - 9 LB 20/14 -, juris Rn. 38-39 zu Afghanistan).

Nach der Anhörung der Klägerin in der mündlichen Verhandlung hat der Einzelrichter die Überzeugung gewonnen, dass sie in den vergangenen Jahren in Deutschland eine "westlich" geprägte Identität entwickelt hat, so dass es ihr nicht zuzumuten wäre, sie bei einer Rückkehr in den Irak wieder abzulegen.

Die Klägerin trat in der mündlichen Verhandlung zunächst eher schüchtern auf, zeigte aber bei ihrer Befragung ein hohes Maß an Selbstbehauptung. So bat sie selbst das Gericht, ihrer Mutter bei der Anhörung beistehen zu dürfen, da diese ängstlich sei. Sie zeigte auch keine Probleme damit, in Abwesenheit ihrer Mutter angehört zu werden und in der ihr unbekannten Gerichtssituation auch persönliche Details aus ihrem Privatleben preiszugeben. Sowohl im Beherrschen der deutschen Sprache als auch in ihrem Erscheinungsbild war sie nicht von anderen in Deutschland lebenden jungen Erwachsenen zu unterscheiden. Sie hat dabei dem Gericht deutlich vor Augen geführt, dass sie die Freiheiten, die Frauen in der Bundesrepublik haben, auch für sich in Anspruch nimmt und ihr diese Freiheiten wichtig sind. So hat sie im Irak nicht die Schule besucht. Hier hat sie zunächst die Sprache gelernt und sodann ihren Hauptschulabschluss und ihren erweiterten Hauptschulabschluss erworben. Gerade macht sie ihren Realschulabschluss. Sie hat auch bereits einen Ausbildungsvertrag für die Berufsausbildung zur Zahnarzthelferin abgeschlossen; hierbei handele es sich um ihren Traumberuf. Die Klägerin hat mehrfach glaubhaft betont, wie wichtig ihr die Arbeitsaufnahme sei und dass ihr dies im Irak niemals möglich gewesen wäre; stattdessen hätte sie dort mit 23 Jahren sicher bereits zwei Kinder gehabt und sei verheiratet gewesen. Ihr sei es aber wichtig, zunächst auf eigenen Füßen stehen zu können. Dies zeigt aus Sicht des Einzelrichters, dass sich die Klägerin mit den ihr wichtigen Wertvorstellungen auseinandergesetzt und diese verinnerlicht hat.

Auch dass ihr eine selbstbestimmte Freizeitgestaltung wichtig ist, hat die Klägerin überzeugend zum Ausdruck gebracht. So verbringt sie ihre Freizeit gerne mit Freunden im Kino oder in der Stadt. Besonders wichtig sei ihr, alleine das Haus verlassen zu können und sich alleine frei und sicher zu fühlen, was im Irak unvorstellbar gewesen sei. Ihr Freundeskreis sei gemischt, d.h. bestehe aus Yeziden, Muslimen, Christen. Besonders eindrucksvoll hat die Klägerin zum Ausdruck gebracht, dass es für sie zentral sei, alle Menschen gleich zu behandeln. Obwohl die Familie im Irak schlimmes erlebt habe, beurteile sie Menschen nicht nach ihrer Religionszugehörigkeit oder ihrer Herkunft. Sie könne sich sogar vorstellen, einen nicht-yezidischen Freund zu haben, wenngleich eine Heirat aus religiösen Gründen nur mit einem Yeziden in Frage käme. Ein solches vorurteilsfreies Zusammenleben sei im Irak nicht möglich. Der Einzelrichter hält es daher letztlich auch für glaubhaft, dass der Klägerin die freie Partnerwahl besonders wichtig ist. Sie hat hierzu angegeben, dass sie derzeit keinen festen Freund habe, da ihre Berufsausbildung Vorrang habe und dies ihr eigener Wunsch sei.

Die Klägerin konnte im Rahmen ihrer informatorischen Anhörung dabei authentisch vermitteln, dass die darin zum Ausdruck kommende "Verwestlichung" in ihrer Persönlichkeit mittlerweile so tief verwurzelt ist, dass sie diese nicht mehr ablegen kann, jedenfalls aber, dass es ihr nicht mehr zumutbar wäre, sich dem im Irak vorherrschenden traditionellen Sitten- und Rollenbild von Frauen zu unterwerfen, da sie hierfür einen wesentlichen Kerngehalt ihrer Persönlichkeit aufgeben müsste. Sie hat sehr deutlich geschildert, dass sie sich ein Leben im Irak nicht mehr vorstellen kann, da ihre Berufsausübung, ihre Ausbildung und die Freizeitgestaltung für sie nun wesentliche Faktoren ihrer Persönlichkeit sind. Die Klägerin hat prägende Jahre ihres Lebens als junge Erwachsene in Deutschland verbracht. Dieser Zeit kommt durch die Nachholung ihrer Schulbildung ein besonderes Gewicht in der Persönlichkeitsentwicklung zu. Diese Persönlichkeitsrelevanz hat die Klägerin in der mündlichen Verhandlung deutlich zu erkennen gegeben.

3.

Ob eine Verfolgungsgefahr für "verwestlichte" Frauen im Irak nur besteht, wenn gleichzeitig kein wirksamer Schutz durch einen Familien- oder Stammesverbund erlangt werden kann, kann dahinstehen - auch wenn sich der Einzelrichter diesbezüglich den Ausführungen der 3. Kammer des Verwaltungsgerichts Hannover im Urteil vom 27.10.2022 (- 3 A 5642/18 -, juris Rn. 44) anschließt:

"Aus Sicht des Einzelrichters ist es unabhängig davon allerdings in der vorliegenden Konstellation auch unerheblich, ob noch Familienangehörige im Irak vorhanden sind, die zahlenmäßig in der Lage und grundsätzlich auch willens wären, der Klägerin Schutz zu gewähren. Denn wenn - wie vorliegend - eine so starke "westliche Prägung" vorliegt, dass es der Flüchtlingsschutz begehrenden Frau nicht zumutbar ist, diese abzulegen, gehört zu dieser "westlichen Prägung" mitbestimmend auch gerade der Anspruch, die eigene Lebensführung autonom und eben nicht (nur) unter dem Schutz anderer Familienmitglieder gestalten zu können. Es würde deshalb dem Wesenskern einer zunächst gerichtlicherseits festgestellten flüchtlingsrelevant verinnerlichten "verwestlichten" Lebenseinstellung und -führung geradezu diametral widersprechen, wenn die betroffene Frau zur Vermeidung einer flüchtlingsrelevanten Verfolgung gleichwohl etwa darauf verwiesen würde, sich nur in Begleitung im Herkunftsland lebender schutzfähiger und -bereiter (männlicher) Familienmitglieder in der Öffentlichkeit zu bewegen."

Auf einen Familien- oder Stammesverbund kann die Klägerin nicht zurückgreifen, denn im Irak lebt nach den glaubhaften Angaben der Klägerin und ihrer Mutter lediglich ein alter und kranker Onkel. Auch ihre Mutter und ihre drei minderjährigen Geschwister könnten ihr bei - unterstellter - gemeinsamer Rückkehr keinen Schutz bieten. Mit ihrem Bruder H. besteht - anders als die Beklagte meint - keine gemeinsame Rückkehrperspektive, da dieser eine eigene Familie und daher auch eigene nach Art. 6 GG schützenswerte Bindungen in die Bundesrepublik hat.

4.

Ausreichender staatlicher Schutz oder interner Schutz vor Verfolgung durch staatliche oder nichtstaatliche Akteure ist für die Klägerin nicht erreichbar. Das beschriebene Verhalten gegenüber "westlich" orientierten Frauen geht sowohl von staatlichen als auch nichtstaatlichen Akteuren aus und ist in sämtlichen Provinzen des Irak - lediglich in unterschiedlichem Ausmaß der hieraus folgenden traditionellen Richtsätze und Gepflogenheiten - fest in der irakischen, männlich dominierten Gesellschaft verankert, sodass den Klägerinnen die vorbeschriebenen Gefahren landesweit drohen. Dabei ist festzustellen, dass der irakische Staat trotz der generellen Zielsetzungen in der Verfassung bislang weder im einfachen Recht noch in der Praxis effektive Maßnahmen zum Schutz von Frauen ergriffen hat (vgl. VG Gelsenkirchen, Urt. v. 8.6.2017 - 8a K 1971/16.A -, juris Rn. 74-77 und siehe auch die vorstehenden Ausführungen).

II.

Neben der Ablehnung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in Ziffer 1 des angegriffenen Bescheids müssen im Zuge der Verpflichtung zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft auch die Ablehnung der Gewährung subsidiären Schutzes und der Feststellung von Abschiebungsverboten sowie die Abschiebungsandrohung und die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes in den Ziffern 3 bis 6 des angegriffenen Bescheids aufgehoben werden.

III.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 83b gerichtskostenfrei. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 und § 711 Satz 1 und 2 ZPO.