Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 27.10.2022, Az.: 3 A 5642/18

Irak; verwestlichte Frau; Verwestlichung bejaht

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
27.10.2022
Aktenzeichen
3 A 5642/18
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2022, 59689
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Der Begriff der "Verwestlichung" im flüchtlingsrechtlichen Sinn ist allgemein definierbar (entgegen VG Köln, VG Köln, Urteil vom 16. Juli 2021 3 K 8062/17.A ).

2. Frauen, die eine "verwestlichte" Denk- und Lebensweise angenommen und verinnerlicht haben, droht im Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine flüchtlingsschutzrelevante Verfolgung als Mitglied einer sozialen Gruppe im Sinne der §§ 3 Abs. 1 Nr. 1, 3b Abs 1 Nr. 4 AsylG.

Tenor:

Die Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG zuzuerkennen. Der Bescheid der Beklagten vom 27.08.2018 wird aufgehoben, soweit er dieser Verpflichtung entgegensteht.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Die Entscheidung ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Vollstreckungsschuldnerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Vollstreckungsgläubigerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.

Tatbestand:

Die Klägerin ist aktuell 23 Jahre alt, irakische Staatsangehörige und kurdischer Volks- sowie yesidischer Religionszugehörigkeit. Sie stammt nach eigenen Angaben ursprünglich aus dem Ort E. (F.), einem yesidischen Dorf südlich des Sindschargebirges ca. 30 km südwestlich der Stadt G..

Die Klägerin reiste im Wege der Familienzusammenführung zu ihrem Vater am 12.07.2017 mit ihrer Mutter und weiteren Geschwistern auf dem Luftweg direkt aus dem Irak in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 03.04.2018 einen Asylantrag. Bei ihrer Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) am 18.05.2018 trug sie im Wesentlichen vor: Vor dem Angriff des sog. „IS“ auf die yesidischen Siedlungen südlich des Sindschargebirges habe ihre Familie gerade noch rechtzeitig in die Berge fliehen können. Sie seien von dort in das Flüchtlingslager H. im Westen der Provinz Dohuk gelangt, wo sie sich bis zu ihrer Ausreise aufgehalten habe. Sie hätten dort in Zelten gelebt; das Leben sei sehr hart gewesen. Wegen der weiteren Einzelheiten der klägerischen Angaben wird auf das Protokoll der Anhörung verwiesen.

Mit Bescheid vom 27.08.2018 lehnte das Bundesamt die Anerkennung der Klägerin als Asylberechtigte und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sowie subsidiären Schutzes ab, stellte aber ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG fest. Wegen der Einzelheiten der Begründung wird auf den Bescheid verwiesen.

Die Klägerin hat am 05.09.2018 Klage erhoben, zu deren Begründung sie im Wesentlichen vorträgt: Sie wäre bei einer Rückkehr in den Irak als Yesidin weiterhin einer flüchtlingsrelevanten Verfolgung aus religiösen Gründen ausgesetzt, die nicht allein vom sog. „IS“ ausgehe, sondern auch von der sonstigen muslimischen Bevölkerung und vor der sie keinen ausreichenden Schutz bei den irakischen Behörden oder einer sonst schutzbereiten und -fähigen Macht erlangen könne. Im Übrigen habe sie im Laufe ihres mehrjährigen Aufenthaltes in Deutschland einen „verwestlichten“ Lebensstil angenommen und für sich in einer Weise verinnerlicht, dass ihr dessen Aufgabe nicht zugemutet werden könne. Dieser Lebensstil sei geprägt davon, dass sie als ledige Frau über ihr äußeres Erscheinungsbild und auch im Übrigen über ihre Lebensweise eigenständig und autonom entscheide, auf Grund eigener Entscheidung eine berufliche Ausbildung absolviert habe und in dem erlernten Beruf arbeite und sich in die deutsche, pluralistische Gesellschaft integriert habe. Sie kleide sich ebenso wie europäische Frauen, treffe sich mit Freundinnen und Freunden und plane, einen führerschien zu machen. Eine Unterordnung unter die konservativ-patriarchalisch geprägten Moral- und Verhaltensvorstellungen der Gesellschaft in ihrem Herkunftsland komme für sie nicht mehr in Betracht; insbesondere lehne sie es u.a. aus innerer Überzeugung ab, sich nur in Begleitung eines Mannes in der Öffentlichkeit zu bewegen. Auf Grund ihrer auch in ihrem nach außen wirkenden Verhalten erkennbar von den gesellschaftlichen Anschauungen im Irak zur Rolle von Frauen abweichenden Lebensführung müsse sie im Irak mit gewalttätigen Angriffen von Seiten der dort operierenden bewaffneten Gruppierungen aber auch aus der Zivilbevölkerung rechnen, vor denen sie keinen Schutz erlangen könnte. Denn als in diesem Sinne „verwestlichte“ Frau werde sie nach den dortigen gesellschaftlichen Vorstellungen als „haram“, also als „schmutzig“, ehrlos und schandhaft, angesehen. Sie sei insoweit als Mitglied einer sozialen Gruppe im Sinne von §§ 3 Abs.1 Nr. 1, 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG anzusehen.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte zu verpflichten, sie als Asylberechtigte anzuerkennen und ihr die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,

hilfsweise die Beklagte zu verpflichten, ihr subsidiären Schutz zuzuerkennen,

und den Bescheid vom 27.08.2018 aufzuheben, soweit er dem entgegensteht.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie verweist auf den angegriffenen Bescheid und meint ergänzend, dass die Klägerin auch als ein „verwestlichte“ Frau nicht als Mitglied einer sozialen Gruppe im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG angesehen werden könne. Eine im Sinne dieses Tatbestandsmerkmals eindeutig abgrenzbare Gruppe gebe es aus ihrer Sicht in der irakischen Gesellschaft nicht. Die Beklagte verweist insoweit auf eine Entscheidung des VG Köln vom 16.07.2021 (Az. 3 K 8062/17.A, juris).

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

I.

Die zulässige Klage bleibt erfolglos, soweit die Klägerin ihre Anerkennung als Asylberechtigte begehrt.

Nach Art. 16a Abs. 1 GG genießen politisch Verfolgte Asyl. Auch nach dem eigenen Vortrag der Klägerin ist sie aber nicht als politisch verfolgt anzusehen. Denn sie macht eine Verfolgung aus religiösen Gründen und eine geschlechtsspezifische bzw. soziale Verfolgung als „verwestlichte“ Frau gelten. Dabei handelt es sich aber nicht um politische Verfolgungsgründe. Die Zugehörigkeit zu einer im Herkunftsland abgrenzbaren sozialen Gruppe als Verfolgungsgrund und die Verfolgung aus religiösen Gründen wird vielmehr in §§ 3 Abs.1 Nr. 1, 3b Abs. 1 AsylG, auf die zur Auslegung des Art. 16a Abs. 1 GG zurückgegriffen werden kann, von einer Verfolgung aus politischen Gründen sprachlich ausdrücklich unterschieden.

II.

Die Klage hat demgegenüber Erfolg, soweit damit die Verpflichtung der Beklagten, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, begehrt wird.

1.

Nach § 3 Abs. 1 Nr. 1, 2a) AsylG ist eine Ausländerin als Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28.07.1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskonvention, im Folgenden GFK) u.a. dann anzusehen, wenn sie sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb ihres Herkunftslandes befindet und dessen Schutz nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Diese Voraussetzungen sind im Falle der Klägerin erfüllt. Ihr drohen als alleinstehender „verwestlichter“ Frau bei einer Rückkehr in den Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit als Mitglied einer sozialen Gruppe im Sinne von § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG Verfolgungshandlungen im Sinne des § 3a AsylG, vor denen sie keinen ausreichenden Schutz erlangen könnte.

a)

Der Einzelrichter folgt nicht der Auffassung der Beklagten, bereits unabhängig von den individuellen Lebensverhältnissen der Klägerin müsse eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft insoweit daran scheitern, dass es bezogen auf die irakische Gesellschaft eine soziale Gruppe „verwestlichter Frauen“ im Sinne der §§ 3 Abs. 1 Nr. 1, 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG mangels hinreichender Bestimmbarkeit des Begriffs der „Verwestlichung“ und hinreichender Abgrenzbarkeit einer solchen Gruppe nicht gebe (ebenso aber VG Köln, Urt. vom 16.07.2021, 3 K 8062/17.A, juris Rn. 32 ff.).

aa)

Falsch ist bereits die von der Beklagten übernommene Auffassung des Verwaltungsgerichts Köln (a.a.O.), der Begriff der „Verwestlichung“ bzw. einer „westlichen Prägung“ sei in dem hier maßgebenden rechtlichen Kontext nicht allgemein definierbar.

Der Begriff der „Verwestlichung“ wird in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen, u.a. in der Geschichtswissenschaft, der Soziologie, den Religionswissenschaften, der Politologie, den Wirtschaftswissenschaften, den Rechtswissenschaften, den Kulturwissenschaften, verwendet und hat insoweit auch (teilweise) unterschiedliche Bedeutungsinhalte (vgl. zur Übersicht etwa https://de.wikipedia.org/wiki/Verwestlichung#Begrifflichkeit, m. w. N., abgerufen am 28.10.2022). In dem hier maßgebenden flüchtlingsrechtlichen Zusammenhang meint der Begriff die individuelle Übernahme von sozio-kulturellen und/oder religiösen bzw. weltanschaulichen Vorstellungen und Verhaltensweisen, wie sie für die gesellschaftlichen Verhältnisse der Gegenwart in säkulär und demokratisch organisierten Staaten, namentlich in Europa und auf dem (nord-)amerikanischen Kontinent sowie in Australien und Neuseeland, im Allgemeinen kennzeichnend sind. Dazu gehören insbesondere die Vorstellung einer grundlegenden Freiheit zur individuellen Persönlichkeitsentfaltung und gleichberechtigten Eigenverantwortlichkeit jeder Person, insbesondere aber von Frauen, in religiöser, politischer, sozialer, wirtschaftlicher und sexueller Hinsicht und das Recht jeder (erwachsenen) Person, über ihre persönliche Lebensführung insgesamt, namentlich aber in den zuvor benannten Bereichen, autonom entscheiden zu dürfen, ohne dabei an lediglich gesellschaftlich vorherrschende, aber nicht formal-gesetzlich vorgeschriebene Verhaltensregeln gebunden zu sein. Weiterhin kennzeichnend für den hier streitbefangenen Begriff der „Verwestlichung“ ist zudem die Idee und grundsätzliche Akzeptanz einer gesellschaftlichen Pluralität insbesondere in sozio-kulturellen, weltanschaulich-religiösen und auf die Sexualmoral bezogenen Anschauungen. Zumindest teilweise hat der Begriff der „Verwestlichung“ mit diesem Inhalt sogar Eingang in die Sprache im Herkunftsland gefunden, so insbesondere in Afghanistan mit dem Begriff „qarb-zadeh“ in der Sprache Dari (vgl. dazu „Afghanistan: Rückkehrgefährdung aufgrund von «Verwestlichung»“, Themenpapier der SFH vom 26.03.2021, https://www.fluechtlingshilfe.ch/fileadmin/user_upload/Publikationen/Herkunftslaenderberichte/Mittlerer_Osten_-_Zentralasien/Afghanistan/210326_AFG_Verwestlichung.pdf).

bb)

Ausgehend von diesem Begriffsverständnis besteht für den Einzelrichter nicht der geringste Zweifel daran, dass Frauen, die im vorbeschriebenen Sinne in ihrer Denk- und Verhaltensweise „verwestlicht“ bzw. „westlich geprägt“ sind bzw. denen von der (Mehrheits-)Gesellschaft im Irak eine derartige Prägung zugeschrieben wird, in der irakischen (Mehrheits-)Gesellschaft nach deren Verständnis, auf das es diesbezüglich ankommt, eine hinreichend deutlich abgrenzbare Gruppe bilden. Denn in diesem Sinne als „verwestlicht“ wahrgenommene Frauen widersprechen geradezu diametral den in der irakischen (Mehrheits-)Gesellschaft herrschenden Vorstellungen von der sozialen und individualen Rolle bzw. Stellung einer Frau und den daraus abgeleiteten Anforderungen an ihr Verhalten. Diese Vorstellungen sind insbesondere davon geprägt, dass Frauen über ihre persönliche Lebensführung und -gestaltung, namentlich in den oben genannten Bereichen, grundsätzlich nicht autonom entscheiden dürfen, sondern sich den vorherrschenden konservativ-patriachalischen Sozialregeln und Verhaltensvorgaben und den darauf fußenden Anweisungen ihrer männlichen Familienmitglieder unterzuordnen haben. „Verwestlichte“ Frauen werden demzufolge in der irakischen (Mehrheits-)Gesellschaft als „haram“ im Sinne von „schmutzig, schandhaft“ und damit als Schande und ehrverletzend für die eigene Familie bzw. den Familienverband angesehen, verbunden mit der Vorstellung, dass daraus insbesondere jenseits eines staatlichen Gewaltmonopols Strafmaßnahmen bis hin zur Tötung resultieren dürfen bzw. sogar müssen, um die Ehre der Familie bzw. des Familienverbandes wiederherzustellen.

Falsch ist im Weiteren die Annahme des VG Köln (a.a.O, Rn. 34), es fehle einer so bezeichneten Gruppe „verwestlichter“ Frauen im Irak an der insoweit flüchtlingsrechtlich erforderlichen deutlich abgegrenzten Identität im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4b) AsylG. Die dahingehende Argumentation des VG Köln beruht vielmehr auf einem gravierenden Denkfehler. Denn für die allgemeine Frage, ob Personen, die unter § 3b Abs. 1 Nr. 4a) AsylG fallen, etwa weil ihnen nicht zugemutet werden kann, auf gemeinsame, grundsätzlich veränderliche Merkmale zu verzichten, da sie für ihre jeweilige Identität bedeutsam sind, in ihrem Herkunftsland im flüchtlingsrechtlichen Sinn eine bestimmte soziale Gruppe bilden, weil diese Gruppierung nach § 3b Abs. 1 Nr. 4b) AsylG in dem betreffenden Land infolge einer ihr zugeschriebenen Andersartigkeit eine deutlich abgegrenzte Identität hat, kommt es nicht darauf an, ob eine konkrete Person im Einzelfall ein solches Merkmal nach § 3b Abs. 1 Nr. 4a) AsylG tatsächlich aufweist bzw. ihr dieses Merkmal in dem betreffenden Land zugeschrieben wird. Entscheidend für die Erfüllung von § 3b Abs. 1 Nr. 4b) AsylG ist vielmehr, ob Personen, denen in dem betreffenden Land ein bestimmtes Merkmal im Sinne von § 3b Abs. 1 Nr. 4a) AsylG zugeschrieben wird – im vorliegenden Kontext das Merkmal einer „Verwestlichung“ –, als Teil einer „andersartigen“ Gruppierung angesehen werden. Die Zuschreibung zu einer Mehrzahl von Personen (Gruppe) als „andersartig“ und damit eine eindeutig abgrenzbare Identität dieser Gruppe im Sinne von § 3b Abs. 1 Nr. 4b) AsylG setzt mithin (nur) voraus, dass die dortige (Mehrheits-)Gesellschaft überhaupt Personen ein im Sinne von § 3b Abs. 1 Nr. 4a) AsylG relevantes Merkmal konkret zuschreibt, um sie darüber als „andersartig“ einzustufen.

Dabei kann es – anders als das VG Köln meint (a.a.O., Rn. 34) – für die Frage, ob „verwestlichte“ Frauen im Irak als Personenmehrheit im Sinne von § 3b Abs. 1 Nr. 4b) AsylG eine deutlich abgegrenzte Identität haben, ersichtlich nicht darauf ankommen, dass eine „Abgrenzung von "verwestlichten" Irakerinnen, denen eine Anpassung an die irakischen Verhältnisse bereits unzumutbar ist, von jenen, denen eine Anpassung noch zumutbar ist, … im Einzelfall äußerst schwierig“ sein mag. Denn es liegt auf der Hand, dass es für die Zuschreibung der Andersartigkeit zu einer Personenmehrheit im Sinne von § 3b Abs. 1 Nr. 4b) AsylG – hier zu als „verwestlicht“ angesehenen Frauen – seitens der irakischen (Mehrheits-)Gesellschaft vollkommen irrelevant ist, ob nach der Beurteilung der Normanwenderinnen und -anwender des § 3b Abs. 1 Nr. 4a) AsylG einer konkreten Frau im Einzelfall der Verzicht auf eine „verwestlichte“ Denk- und Lebensweise zumutbar erscheint oder nicht. Maßgebend für die deutlich abgrenzbare Identität im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4b) AsylG sind allein die Vorstellungen und Verhältnisse in der (Mehrheits-)Gesellschaft in dem entsprechenden Land. Die irakische (Mehrheits-)Gesellschaft trifft aber die vom VG Köln benannte Unterscheidung überhaupt nicht. Vielmehr wird eine „Verwestlichung“ von Frauen im oben beschriebenen Sinne dort ausnahmslos nicht akzeptiert. Alle Frauen, denen eine solche „Verwestlichung“ zugeschrieben wird, werden als „andersartig“ im Sinne von § 3b Abs. 1 Nr. 4b) AsylG betrachtet und zweifelsfrei wird seitens der irakischen (Mehrheits-)Gesellschaft von allen Frauen ein Verzicht auf eine entsprechende Denk- und Lebensweise verlangt. Die Frage, ob im Einzelfall eine konkrete Frau im Sinne von § 3b Abs. 1 Nr. 4a) AsylG Mitglied der Gruppe „verwestlichter“ Frauen ist, weil sie die entsprechende Denk- und Lebensweise in einer Weise als identitätsstiftend verinnerlicht hat, dass sie „nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten“, stellt sich demgegenüber nicht in der irakischen (Mehrheits-)Gesellschaft, sondern allein in Deutschland, wobei dabei auch § 3b Abs. 2 AsylG zu beachten ist.

cc)

Nach der ständigen Rechtsprechung aller für Asylverfahren irakischer Staatsangehöriger zuständigen Kammern des VG Hannover werden Frauen, die sich der bestehenden rechtlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Diskriminierung von Frauen im Irak auf Grund einer „westlichen Prägung“ entgegenstellen oder denen ein solches Verhalten von der irakischen (Mehrheits-)Gesellschaft im Sinne von § 3b Abs. 2 AsylG zugeschrieben wird, wegen ihrer deutlich abgegrenzten Identität von der irakischen (Mehrheits-)Gesellschaft als andersartig betrachtet und können einer beachtlichen Verfolgungsgefahr ausgesetzt sein (vgl. u.a. Urt. der 12. Kammer v. 30.05. 2022 – 12 A 12267/17 –, juris; vom 02.02.2022 - 12 A 12106/17 -, juris; Urt. der 6. Kammer v. 10.05.2022 - 6 A 3221/17 -, Urt. der 3. Kammer v. 16.05.2021 - 3 A 5361/19 -, jeweils V. n. b.). Dem liegen maßgebend folgende Erwägungen zu Grunde (vgl. schon VG Hannover, Urt. v. 18.03.2021 - 12 A 1130/18 -, n.v., UA S. 6 ff.).:

„Auf Basis dieses rechtlichen Maßstabes bilden irakische Frauen eine bestimmte soziale Gruppe, sofern sie - beispielsweise infolge eines längeren Aufenthalts in Europa - in einem solchen Maße in ihrer Identität westlich geprägt worden sind, dass sie entweder nicht mehr dazu in der Lage wären, bei einer Rückkehr in den Irak ihren Lebensstil den dort erwarteten Verhaltensweisen und Traditionen anzupassen, oder denen dies infolge des erlangten Grads ihrer westlichen Identitätsprägung nicht mehr zugemutet werden kann (VG Hannover, Urt. v. 22.6.2020 - 12 A 773/18 - n.v., Urt. v. 10.04.2019 - 6 A 2689/17 -, juris Rn. 27, und Urt. v. 10.12.2018 - 6 A 6837/16 -, juris Rn. 58; VG Stade, Urt. v. 23.07.2019 - 2 A 19/17 -, juris Rn. 39 ff.; VG Aachen, Urt. v. 03.05.2019 - 4 K 3092/17.A -, juris Rn. 30; VG Gelsenkirchen, Urt. v. 08.06.2017 - 8a K 1971/16.A -, juris Rn. 33; VG Göttingen, Urt. v. 05.07.2011 - 2 A 215/09 -, juris Rn. 24 ff.; vgl. auch Nds. OVG, Beschl. v. 16.02.2006 - 9 LB 27/03 -, juris Rn. 13). Derart in ihrer Identität westlich geprägte Frauen teilen sowohl einen unveränderbaren gemeinsamen Hintergrund als auch bedeutsame Merkmale im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 AsylG. Sie werden wegen ihrer deutlich abgegrenzten Identität von der irakischen Gesellschaft als andersartig betrachtet.

Nach den vorliegenden Erkenntnissen (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Irak, 17.03.2020, S. 96-108, Auswärtiges Amt, Lagebericht v. 02.03.2020, S. 14 f.; ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Autonome Region Kurdistan: Lage alleinstehender Frauen; Sicherheitslage, 12.08.2019; UNHCR, Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus dem Irak fliehen, Mai 2019, S. 99-112; EASO, Gezielte Gewalt gegen Individuen, März 2019, S. 175-189; ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Lage westlich orientierter Frauen, 30.04.2018; Human Rights Watch, No one is safe. Abuses of women in Iraq’s crimi-nal justice system, Februar 2014) sind Frauen im Irak weitreichender Diskriminierung ausgesetzt. Konservative, patriarchalische soziale Normen und die Dominanz religiöser Werte in den verschiedenen Gemeinschaften im Irak verhindern die effektive und gleichberechtigte Teilnahme von Frauen am politischen, sozialen und wirtschaftlichen Leben.

In der Verfassung ist die Gleichstellung der Geschlechter festgeschrieben und eine Frauenquote von 25 % im Parlament (Autonome Region Kurdistan-Irak: 30 %) verankert. Nach Angaben der Unabhängigen Hohen Wahlkommission haben 2.009 Kandidatinnen an den letzten Parlamentswahlen teilgenommen. Während des Wahlkampfs wurden die Plakate der Kandidatinnen beschädigt, und es wurden Fotos online gestellt, die die Kandidatinnen scheinbar in freizügiger Kleidung zeigten. Einige Kandidatinnen zogen ihre Kandidatur zurück, nachdem sie Drohungen und Einschüchterungen erhalten hatten. Im Präsidium des Parlaments ist keine Frau vertreten. Im Regierungskabinett gibt es seit Oktober 2019 eine Frau, die Bildungsministerin. Die Hauptstadt Bagdad hatte von 2015 bis 2020 eine Frau als Bürgermeisterin, der Posten gilt allerdings als wenig einflussreich. In Kurdistan ist eine Frau Parlamentspräsidentin, es gibt drei Ministerinnen und einige hochrangige Richterinnen. Gleichwohl stellen diese Frauen Ausnahmen in einer männerdominierten Berufswelt dar. Frauen sind auf Gemeinde- und Bundesebene, in Verwaltung und Regierung unterrepräsentiert. Sie werden selten in Entscheidungspositionen und einflussreiche Positionen ernannt. Die traditionelle Rollenverteilung in der Familie lässt wenig Möglichkeiten für Frauen, sich im Studium oder im Beruf weiter zu entwickeln. Dies wird zum Teil mit der religiösen Tradition begründet, beruht aber auch auf den weit verbreiteten patriarchalischen Strukturen. Dabei stellt die Quote zwar sicher, dass Frauen zahlenmäßig vertreten sind, sie führt aber nicht dazu, dass Frauen einen wirklichen Einfluss auf Entscheidungsfindungsprozesse haben bzw. dass das Interesse von Frauen auf der Tagesordnung der Politik steht.

Frauen sind weit verbreiteter gesellschaftlicher Diskriminierung ausgesetzt und werden unter mehreren Aspekten der Gesetzgebung ungleich behandelt. Laut Art. 14 und 20 der Verfassung ist jede Art von Diskriminierung aufgrund des Geschlechtes verboten. Art. 41 bestimmt jedoch, dass Iraker Personenstandsangelegenheiten ihrer Religion entsprechend regeln dürfen. Viele Frauen kritisieren diesen Artikel als Grundlage für eine Re-Islamisierung des Personenstandsrechts und damit eine Verschlechterung der Stellung der Frau. Zudem findet auf einfachgesetzlicher Ebene die verfassungsrechtlich garantierte Gleichstellung häufig keine Entsprechung. Defizite bestehen insbesondere im Familien-, Erb- und Strafrecht sowie im Staatsangehörigkeitsrecht. In der Praxis ist die Bewegungsfreiheit für Frauen stärker eingeschränkt als für Männer. So hindert das Gesetz Frauen beispielsweise daran, ohne die Zustimmung eines männlichen Vormunds oder gesetzlichen Vertreters einen Reisepass zu beantragen oder ein Dokument zur Feststellung des Personenstands zu erhalten, welches für den Zugang zu Beschäftigung, Bildung und einer Reihe von Sozialdiensten erforderlich ist.

Die Gewalt gegen Frauen und Mädchen ist seit 2003 gestiegen und setzt sich unvermindert fort. Frauen und Mädchen sind im Irak Opfer von gesellschaftlichen, rechtlichen und wirtschaftlichen Diskriminierungen, Entführungen und Tötungen aus politischen, religiösen oder kriminellen Gründen, sexueller Gewalt, erzwungener Umsiedlung, häuslicher Gewalt, "Ehrenmorden" und anderen schädlichen traditionellen Praktiken, wie etwa (Sex-)Handel und erzwungener Prostitution. In den Familien sind patriarchische Strukturen weit verbreitet; Frauen werden immer noch in Ehen gezwungen. Mehr als 20 % der Frauen werden vor ihrem 18. Lebensjahr verheiratet, viele davon im Alter von 10 bis 14 Jahren.

Frauen wird überproportional der Zugang zu Bildung und Teilnahme am Arbeitsmarkt verwehrt. Je höher die Bildungsstufe ist, desto weniger Mädchen sind vertreten. Frauen und Mädchen sind im Bildungssystem deutlich benachteiligt und haben noch immer einen schlechteren Bildungszugang als Jungen und Männer. Schätzungen zufolge sind Frauen etwa doppelt so stark von Analphabetismus betroffen wie Männer. In ländlichen Gebieten ist die Einschulungsrate für Mädchen weit niedriger als jene für Jungen. Häufig lehnen die Familien eine weiterführende Schule für Mädchen ab oder ziehen eine „frühe Ehe“ für sie vor.

Frauen sind außerdem wirtschaftlicher Diskriminierung hinsichtlich des Zugangs zum Arbeitsmarkt, Kredit und Lohngleichheit ausgesetzt. Die geschätzte Erwerbsquote von Frauen lag 2014 bei nur 14%, der Anteil an der arbeitenden Bevölkerung bei 17%. Jene rund 85% der Frauen, die nicht an der irakischen Arbeitswelt teilhaben, sind einem erhöhten Armutsrisiko ausgesetzt, selbst wenn sie in der informellen Wirtschaft mit Arbeiten wie Nähen oder Kunsthandwerk beschäftigt sind. Den Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation von 2010 zufolge führt der Irak die Liste der Länder mit der niedrigsten Erwerbsbeteiligung von Frauen an. In einem Artikel von Al-Monitor vom Dezember 2017 wird berichtet, dass für viele Menschen im Irak die einzig akzeptablen Arbeitsplätze für Frauen in bestimmten häuslichen Bereichen oder Regierungsabteilungen zu finden sind. Frauen und Mädchen, die in Geschäften, Cafés, im Unterhaltungssektor, in der Krankenpflege oder im Transportsektor (Taxi-/LKW-Fahrer) arbeiten, sind verpönt.

Weiblich geführte Haushalte haben nicht unbedingt Zugang zu Finanzanlagen, Sozialleistungen oder dem öffentlichen Verteilungssystem. Viele sind auf Unterstützung durch ihre Familien, Behörden und Nichtregierungsorganisationen angewiesen. Während die meisten Frauen im Irak theoretisch Anspruch auf öffentliche oder NGO-Hilfe haben, erhalten in der Praxis nur 20-25% von ihnen diese Hilfe. Darüber hinaus deckt die Hilfe nur einen Teil des jeweiligen Haushaltsbedarfs ab. Haushalte mit weiblichen Familienoberhäuptern sind besonders anfällig für Unsicherheit bei der Nahrungsmittelversorgung. Aufgrund vieler Hindernisse beim Zugang zu Beschäftigung müssen Frauen auf andere Mittel zurückgreifen, um ihren Lebensunterhalt zu sichern, wie Geld leihen, Essen rationieren und ihre Kinder zur Arbeit schicken. Im Kontext einer Gesellschaft, in der die Erwerbstätigkeit von Frauen traditionell gering ist, sind solche Haushalte mit erhöhten bürokratischen Hindernissen und sozialer Stigmatisierung, insbesondere auch im Rückkehrprozess konfrontiert. Ohne männliche Angehörige erhöht sich das Risiko für diese Familien, Opfer von Kinderheirat und sexueller Ausbeutung zu werden.

Die Stellung der Frau hat sich im Vergleich zur Zeit des Saddam-Regimes dramatisch verschlechtert. Mit der Erosion von Sicherheit und Stabilität einhergehend haben frauenfeindliche Ideologien propagierende Milizen Frauen und Mädchen zur Zielscheibe von Angriffen gemacht und sie eingeschüchtert, sich aus dem öffentlichen Leben fernzuhalten. Frauen sehen sich dem Risiko ausgesetzt, von Mitgliedern der ausschließlich männlichen Polizei oder anderen Sicherheitskräften belästigt und misshandelt zu werden. Die größten Opfer der fortdauernden Unsicherheit sind junge Frauen. Die prekäre Sicherheitslage in Teilen der irakischen Gesellschaft und insbesondere unter Binnenflüchtlingen hat negative Auswirkungen auf das Alltagsleben und die politischen Freiheiten der Frauen. Frauen, die in politischen und sozialen Bereichen tätig sind, darunter Frauenrechtsaktivistinnen, Wahlkandidatinnen, Geschäftsfrauen, Journalistinnen sowie Models und Teilnehmerinnen an Schönheitswettbewerben, sind Einschüchterungen, Belästigungen und Drohungen ausgesetzt. Dadurch sind sie oft gezwungen, sich aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen oder aus dem Land zu fliehen.

Sowohl Männer als auch Frauen stehen unter Druck, sich an konservative Normen zu halten, was das persönliche Erscheinungsbild betrifft. Vor allem im schiitisch geprägten Südirak werden auch nicht gesetzlich vorgeschriebene islamische Regeln, z.B. Kopf-tuchzwang an Schulen und Universitäten, stärker durchgesetzt. Frauen werden unter Druck gesetzt, ihre Freizügigkeit und Teilnahme am öffentlichen Leben einzuschränken. Einige Muslime bedrohen Frauen und Mädchen, unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit, wenn sich diese weigern, ein Hijab zu tragen, bzw. wenn sie sich in westlicher Kleidung kleiden oder sich nicht an die strengen Auslegungen islamischer Normen, die das Verhalten in der Öffentlichkeit dominieren, halten. Vertreter christlicher Nichtregierungsorganisationen gaben an, zahlreiche Frauen, auch Christinnen, hätten berichtet, sie würden nach Schikanen ein Hijab tragen. Der Kleidungsstil, der von Frauen erwartet wird, ist im Irak über die letzten zwei Dekaden konservativer geworden. Dieses Phänomen hat sich nach 2003 dadurch beschleunigt, dass sunnitische und schiitische religiöse Kräfte im Irak auf dem Vormarsch sind. Im IS-Gebiet gibt es einen strengen Dresscode, der strikt durchgesetzt wird. In schiitischen Gebieten, einschließlich Basra und Bagdad, versuchen schiitische Milizen ebenfalls strikte Bekleidungsvorschriften durchzusetzen und sind für gewalttätige Übergriffe auf Frauen verantwortlich, deren Kleidungsstil als unangebracht angesehen wird. Über die Jahre 2006 und 2007 ist bekannt, dass Milizen in Basra und Diyala hunderte Frauen töteten, weil sie den „Dresscode“ nicht eingehalten hatten. Es gibt Befürchtungen, dass ein solches Ausmaß erneut droht.

In Gebieten, in denen es eine starke Präsenz von Milizen gibt, kommt es vor, dass diese Milizen in Bezug auf Frauen (aber auch ganz allgemein) konservativere kulturelle Normen und Konventionen einführen bzw. sogar gewaltsam erzwingen. Einige Milizen schränken die Rechte von Frauen systematisch ein. Ob und wie weit dies geht, hängt nicht nur von der jeweiligen Miliz ab, sondern auch von den jeweiligen lokalen Kommandanten. Betroffen sind nicht nur Frauen in Gebieten, die unter der Kontrolle der Milizen stehen, sondern auch Frauen in anderen Städten wie z.B. Bagdad und Basra, in denen der Einfluss der Milizen sehr groß ist. Die Milizen operieren diesbezüglich ungestraft, zum Teil auch in Komplizenschaft mit den lokalen Behörden. So berichtet EASO von einem (datumsmäßig nicht näher bezeichneten) Vorfall in Bagdad, bei dem Mitglieder einer Miliz ein angebliches Bordell gestürmt und sämtliche Anwesenden getötet hätten. Überdies seien in Basra Frauen von unbekannten Milizionären getötet worden, wo-bei man an ihren Leichnamen Bekennerschreiben gefunden habe, denen zufolge die Frauen anstößige Kleidung getragen hätten oder in kompromittierenden Situationen gefunden worden seien. Nach Auskunft der Iraq Civil Solidarity Initiative wurden im schiitisch dominierten Basra im Sommer 2016 mehrere Cafés im Stadtzentrum, die Frauen beschäftigten und sich zum Teil nur wenige Meter von der Residenz des Gouverneurs und anderen Sicherheitseinrichtungen entfernt befanden, von religiösen Extremisten in die Luft gesprengt. Als Reaktion hierauf hätten viele in örtlichen Cafés oder der Tourismusindustrie beschäftigte Frauen ihren Arbeitsplatz aufgegeben.

Im Jahr 2018 gab es eine Reihe von Morden an Frauen, die in der Öffentlichkeit standen und als gegen soziale Gebräuche und traditionelle Geschlechterrollen verstoßend wahrgenommen wurden, darunter Frauenrechtsaktivistinnen und Personen, die mit der Beauty- und Modebranche in Verbindung standen. Im September 2018 wurde Tara Fares, eine ehemalige Schönheitskönigin, die als Model und als Social Media Influence-rin arbeitete, einen westlichen Lebensstil pflegte und sich gegen die traditionellen Rollenbilder der irakischen Gesellschaft stellte, in Bagdad auf offener Straße von unbekannten Tätern erschossen. Der irakische Premierminister Haider al-Abadi ordnete eine Untersuchung durch das Innenministerium und die Geheimdienste mit der Begründung an, es bestehe im Hinblick auf vergleichbare Tötungen und Entführungen von Frauen der Verdacht einer gezielten Kampagne. Dem Guardian zufolge hatten alle Opfer eine öffentliche Präsenz und eine Stimme, die jene Elemente der irakischen Gesellschaft verunsicherten, die nach wie vor starre Ansichten darüber hegen, wie Frauen sich zu verhalten haben. Die Leiterin des Forums für irakische Journalistinnen teilte der New York Times mit, dass die gezielte Gewalt gegen prominente und einflussreiche Frauen im Irak drastisch angestiegen sei.

In der Autonomen Region Kurdistan führten die Behörden verschiedene Gesetzesreformen und institutionelle Reformen zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen durch. So wurden im Innenministerium vier Abteilungen zum Schutz von weiblichen Opfern von (familiärer) Gewalt sowie drei staatliche Frauenhäuser eingerichtet. Zwei weitere werden von Nichtregierungsorganisationen betrieben. Seit 2011 gibt es ein kurdisches Gesetz gegen häusliche Gewalt, in dem weibliche Genitalverstümmelung, Zwangsverheiratung von Frauen und andere Gewalt innerhalb der Familie unter Strafe gestellt werden. Trotz dieser Bemühungen ist geschlechtsspezifische Gewalt, unter anderem wegen der schwachen und nicht durchgängigen Gesetzesumsetzung und der vorherrschenden patriarchalen Geschlechternormen, noch immer weitverbreitet. In der Autonomen Region Kurdistan sind Frauen ähnlichen Risiken der Diskriminierung vonseiten der Behörden und der Gesellschaft ausgesetzt wie in anderen Teilen des Landes. Ihnen wird in mancher Hinsicht zwar zusätzlicher Schutz gewährt, in den meisten Bereichen entspricht die Gesetzgebung der kurdischen Regionalregierung jedoch der Bundesgesetzgebung und Frauen sind Diskriminierung ausgesetzt. In Kurdistan ist es alleinstehenden Frauen aus kulturellen Gründen beispielsweise nicht möglich, selbst Eigentum zu mieten oder sich in Hotels aufzuhalten. Die sich verschlechternde finanzielle Lage in Kombination mit gesellschaftlichen Einschränkungen für Frauen im Irak hat die Möglichkeiten für Frauen, alleine zu leben, verringert. Insbesondere Erbil und Dohuk sind beide als konservative Regionen mit strenger Kontrolle über Frauen bekannt.

Frauen, die sich der vorbeschriebenen rechtlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Diskriminierung der Frauen im Irak aufgrund ihrer westlichen Prägung entgegenstellen, werden wegen ihrer deutlich abgegrenzten Identität von der irakischen Gesellschaft als andersartig betrachtet und können einer beachtlichen Verfolgungsgefahr ausgesetzt sein.“

An dieser Beurteilung ist auch nach der aktuellen Auskunftslage festzuhalten (so zuletzt u. a. VG Hannover, Urt. vom 01.09.2022, 3 A 5062/18, n. v.).

b)

Nach der informatorischen Anhörung der Klägerin in der mündlichen Verhandlung hat der Einzelrichter die Überzeugung gewonnen, dass diese in den vergangenen Jahren in Deutschland eine „westlich geprägte Identität“ entwickelt hat, die für sie von zentraler Bedeutung ist, so dass es ihr nicht zuzumuten wäre, sie bei einer Rückkehr in den Irak wieder abzulegen.

Die Klägerin trat in der mündlichen Verhandlung selbstbewusst auf und verfügt über gute Deutschkenntnisse, so dass sie an der Verhandlung ohne Dolmetschung teilnehmen konnte. Sie trug kein Kopftuch und war in ihrem Erscheinungsbild auch sonst von demjenigen junger erwachsener Frauen westeuropäischer Herkunft nicht zu unterscheiden (geschminkt und farbig lackierte Fingernägel, modische Hose, T-Shirt mit offenem Dekollete`, modischer Ohr- und Fingerschmuck u. a. am Daumen). Sie hat nach ihren glaubhaften Angaben im Rahmen der informatorischen Anhörung schon sehr bald nach ihrer Einreise eigeninitiativ Möglichkeiten gesucht, eine Schule zu besuchen, und dieses Ziel nach dem Besuch eines Deutschkurses zielstrebig in die Tat umgesetzt, indem sie zunächst eine einjährige Hauswirtschaftsklasse und anschließend eine zweijährige Fachschule zur Ausbildung als Pflegeassistentin erfolgreich absolviert und zugleich den Realschulabschluss erlangt hat. Seit dem Mai 2002 arbeitet sie als Pflegehelferin auf 450,- EUR-Basis an den Wochenenden und ist derzeit aktiv auf der Suche nach einer heimatnahen Vollzeitarbeitsstelle. Ihr bereits angebotene Teilzeitstellen hat sie nach eigenen Angaben bisher nicht angenommen, da sie Vollzeit arbeiten will.

Die Klägerin lebt zwar nach eigenen Angaben zusammen mit ihren Geschwistern und ihren Eltern noch in einem Haushalt, gestaltet aber ihre eigene Lebensführung autonom und trifft dazu ihre eigenen Entscheidungen, ohne sich insoweit ggf. abweichenden Vorstellungen ihrer Brüder oder ihres Vaters unterzuordnen. Anschaulich, inhaltlich schlüssig und nachvollziehbar hat die Klägerin dazu im Rahmen ihrer Anhörung geschildert, dass diese Verselbständigung in ihrer persönlichen Lebensführung in Deutschland auch im familiären Rahmen ein Prozess gewesen ist und sie dabei gerade am Anfang auch durchaus innerfamiliäre Widerstände überwinden musste. Im Irak sei es noch so gewesen, dass sie etwa nicht allein zu einer Freundin habe gehen dürfen. Ihre Familie habe aber erkannt und inzwischen auch akzeptiert, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse in Deutschland in Bezug auf die Stellung von Frauen so seien, dass diese ihre eigenen Entscheidungen treffen könnten. Auch gegenwärtig gebe es zwar gelegentlich innerfamiliäre Diskussionen über ihre Aktivitäten, aber ihre Familienmitglieder akzeptierten ihre Entscheidungsautonomie.

Die Klägerin konnte im Rahmen ihrer informatorischen Anhörung dabei authentisch vermitteln, dass die darin zum Ausdruck kommende „Verwestlichung“ in ihrer Persönlichkeit mittlerweile so tief verwurzelt ist, dass sie diese nicht mehr ablegen kann, jedenfalls aber, dass es ihr nicht mehr zumutbar wäre, sich dem im Irak vorherrschenden traditionellen Sitten- und Rollenbild von Frauen zu unterwerfen, da sie hierfür einen wesentlichen Kerngehalt ihrer Persönlichkeit aufgeben müsste. Sie hat sehr plastisch geschildert, wie wichtig es ihr nach den entgegengesetzten Erfahrungen im Irak ist, als Frau berufstätig zu sein und eigenständige Entscheidungen zu treffen, sich ohne männliche Begleitung frei bewegen, sich westlich und modisch kleiden und vielfältige Freiheiten nutzen zu können.

c)

Das weitergehend fast durchgehend in der Rechtsprechung geprüfte Merkmal eines fehlenden wirksamen Schutzes durch einen Familien- oder Stammesverbund (vgl. z. B. VG Hannover, Urt. v. 18.03.2021 - 12 A 1130/18 -, n.v., UA S. 6 ff mit Hinweis auf Nds. OVG, Urt. v. 21.09.2015 - 9 LB 20/14 -, juris Rn. 38 f.; VG Hannover, Urt. vom 30.05.2022, 12 A 1267/17, juris Rn. 45) ist vorliegend auch gegeben, da im Irak aus ihrer Familie nur noch zwei Brüder und eine Schwester Bruder anwesend aufhältig sind, was schon zahlenmäßig für einen wirksamen Schutz nicht ausreichen würde.

d)

Aus Sicht des Einzelrichters ist es unabhängig davon allerdings in der vorliegenden Konstellation auch unerheblich, ob noch Familienangehörige im Irak vorhanden sind, die zahlenmäßig in der Lage und grundsätzlich auch willens wären, der Klägerin Schutz zu gewähren. Denn wenn – wie vorliegend – eine so starke „westliche Prägung“ vorliegt, dass es der Flüchtlingsschutz begehrenden Frau nicht zumutbar ist, diese abzulegen, gehört zu dieser „westlichen Prägung“ mitbestimmend auch gerade der Anspruch, die eigene Lebensführung autonom und eben nicht (nur) unter dem Schutz anderer Familienmitglieder gestalten zu können. Es würde deshalb dem Wesenskern einer zunächst gerichtlicherseits festgestellten flüchtlingsrelevant verinnerlichten „verwestlichten“ Lebenseinstellung und -führung geradezu diametral widersprechen, wenn die betroffene Frau zur Vermeidung einer flüchtlingsrelevanten Verfolgung gleichwohl etwa darauf verwiesen würde, sich nur in Begleitung im Herkunftsland lebender schutzfähiger und -bereiter (männlicher) Familienmitglieder in der Öffentlichkeit zu bewegen.

e)

Ausreichender anderweitiger Schutz vor Verfolgung als Mitglied der sozialen Gruppe „verwestlichter Frauen“ durch staatliche oder nichtstaatliche Akteure ist für die Klägerin im Irak nicht erreichbar. Das beschriebene Verhalten gegenüber „westlich“ orientierten Frauen geht sowohl von staatlichen als auch nicht-staatlichen Akteuren aus und ist in sämtlichen Provinzen des Irak – lediglich in unterschiedlichem Ausmaß der hieraus folgenden traditionellen Richtsätze und Gepflogenheiten – fest in der männlich dominierten Gesellschaft verankert, sodass der Klägerin die vorbeschriebenen Gefahren landesweit drohen. Dabei ist festzustellen, dass der irakische Staat trotz der generellen Zielsetzungen in der Verfassung bislang weder im einfachen Recht noch in der Praxis effektive Maßnahmen zum Schutz von Frauen ergriffen hat (vgl. auch VG Gelsenkirchen, Urteil vom 8. Juni 2017 - 8a K 1971/16.A -, juris Rn. 74 ff.).

e)

Da der Klägerin nach den vorherigen Ausführungen bereits als Mitglied der sozialen Gruppe der „verwestlichen Frauen“ wegen deshalb drohender Verfolgungsgefahr im Irak die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist, kann dahinstehen, ob dies auch auf Grund der Tatsache der Fall wäre, dass sie Yesidin ist.

2.

Mit der Verpflichtung der Beklagten zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erübrigt sich eine Entscheidung über den Hilfsantrag auf Verpflichtung zur Gewährung subsidiären Schutzes. Der Bescheid des Bundesamtes vom 27.08.2018 ist in den Ziffern 1. und 3. aufzuheben, da er insoweit der ausgesprochenen Verpflichtung zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft widerspricht.

III.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG. Dass der Klageantrag auf Verpflichtung zur Anerkennung als Asylberechtigte abzuweisen ist, hat kostenrechtlich keine Folgen, da das dahingehende Verpflichtungsbegehren materiell gegenüber dem Begehren auf Verpflichtung zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft keinen weitergehenden Inhalt hat. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 und § 711 Satz 1 und 2 ZPO.