Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 02.02.2022, Az.: 12 A 12106/17

Familienflüchtlingsschutz; Familienflüchtlingsschutz; Frau; Soziale Gruppe; verwestlicht

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
02.02.2022
Aktenzeichen
12 A 12106/17
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2022, 59447
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tenor:

Die Beklagte wird unter Aufhebung der Bescheide des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 22.11.2017 und vom 28.11.2017 verpflichtet, den Klägerinnen zu 2. und 3. die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen und dem Kläger zu 1. die Flüchtlingseigenschaft unter der Bedingung zuzuerkennen, dass der Verpflichtungsausspruch in Bezug auf die Klägerin zu 2. rechtskräftig wird.

Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Die Entscheidung ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages leisten.

Tatbestand:

Die Kläger begehren die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise die Gewährung subsidiären Schutzes und weiter hilfsweise die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG).

Der Kläger zu 1. ist am J. 1968 in K. und die Klägerin zu 2. am L. 1981 ebenfalls in K. (Irak) geboren. Sie sind miteinander verheiratet und die am M. 2000 geborene Klägerin zu 3. ist ihre Tochter. Alle Kläger sind irakische Staatsangehöriger arabischer Volks- und sunnitischer Glaubenszugehörigkeit. Im Oktober 2015 reisten der Kläger zu 1. und die Klägerin zu 3. über den Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein, erhielten zunächst Bescheinigungen über die Meldung als Asylsuchende und stellten am 04.08.2016 einen Asylantrag. Die Klägerin zu 2. reiste im Mai 2016 ins Bundesgebiet ein und stellte am 25.05.2016 einen Asylantrag.

Der Kläger zu 1. berichtete in seiner Anhörung vor dem E. (Bundesamt) am 16.02.2017, er habe den Irak verlassen, weil sein Sohn von einem Mitglied der Assaib Ahil Al-Haq- Miliz (AAH-Miliz) getötet worden sei und er Angst gehabt habe, dass ihm dasselbe geschehen würde. Er sei in K. als Autohändler tätig gewesen und habe einen Kleinwagen im Wert von ungefähr 15.000 Dollar an einen Mann namens N. O. verkauft. N. habe bar gezahlt und das Auto an einen P. weiterverkauft, dem N. 60.000 Dollar geschuldet habe. N. habe das Auto nicht auf seinen Namen anmelden wollen. P. habe das Auto im Tausch gegen ein Grundstück an einen Q. weitergegeben. Nach ungefähr 8 Monaten habe Q. den Kläger angerufen. Der Bruder von Q. sei inhaftiert worden, weil er mit dem Auto unterwegs gewesen sei, ohne Papiere dafür zu haben. Q. habe den Kläger unter Druck gesetzt, so dass er bei der Polizei und bei Gericht ausgesagt habe, dass es sein Wagen (der des Klägers) sei. Daraufhin sei der Bruder von Q. freigelassen worden. Der Kläger habe dem Käufer dann eine Kopie des Kaufvertrags gegeben, und dieser habe Wagen auf sich umgemeldet. Später habe der Kläger erfahren, dass N. Mitglied der AAH-Miliz gewesen sei. N. sei mit der Ummeldung nicht einverstanden gewesen. Er habe gewollt, dass der Wagen auf seinen Wagen gemeldet sei, damit er sein Geld von P. bekomme. Er habe erreichen wollen, dass das Auto auf den Namen des Klägers gemeldet bleibt, um den Kläger erpressen zu können. Er habe vom Kläger gefordert, dass er die 60.000 Dollar bezahlen solle, die er P. schulde, und ihn mehrfach bedroht. Dann sei der Sohn des Klägers entführt worden, als er mit Freunden unterwegs war. N. habe telefonisch Kontakt mit dem Kläger aufgenommen und 60.000 Dollar Lösegeld verlangt. Der Kläger habe die Summe auf 30.000 Dollar heruntergehandelt. Bei der Lösegeldübergabe habe N. ihn mit einer Waffe bedroht, ihm das Geld abgenommen und auf Nachfrage gesagt, dass der Sohn bei ihm sei. Obwohl der Kläger das Geld bezahlt habe, hätten sie seinen Sohn am 22.09.2015 getötet. Er habe die Leiche nicht selbst gesehen, weil er aus Angst nicht ins Krankenhaus gegangen sei. Nachbarn hätte die Leiche aber besichtigt und berichtet, er sei voller Blut gewesen, habe mehrere Schusswunden gehabt und sei vorher gefoltert worden. Er sei nicht zur Polizei gegangen, weil die Milizen mächtiger seien als der Staat. Die Sunniten würden im Irak unterdrückt und könnten sich nicht an den Staat wenden. Er habe keine Sterbeurkunde, weil er sich beobachtet gefühlt und Angst gehabt habe. Keiner aus seiner Familie würde die Urkunde für ihn beantragen, weil die Lage so gefährlich sei. Nach seiner Ausreise sei mit Blut auf sein Haus geschrieben worden, er werde getötet, wenn er zurückkehre. Grund dafür sei, dass er nicht den vollen Betrag gezahlt habe. Er habe den Irak am 24.09.2015 verlassen.

Die Klägerin zu 2. teilte in ihrer Anhörung am 14.03.2017 mit, ihr Mann sei Autohändler gewesen. Er habe ein Auto an einen Käufer verkauft, der nicht gewollt habe, dass der Wagen auf ihn umgemeldet werde, und ihn immer wieder gebeten habe, noch etwas zu warten. Ungefähr ein halbes Jahr nach dem Verkauf sei die Geduld ihres Mannes am Ende gewesen und er habe das Auto abgemeldet. Danach habe er Drohanrufe erhalten, die sie miterlebt habe. Er habe eine Strafe von 60.000 Dollar für die Abmeldung zahlen sollen. Ihr Mann habe sich deshalb nicht mehr aus dem Haus getraut und Schlafstörungen bekommen. Einmal seien diese Leute zu ihnen gekommen und hätten auf ihre Haustür geschossen. Eines Tages sei ein gelber Handabdruck an der Eingangstür gewesen und darunter habe gestanden, dass die Bewohner gesucht würden. Deshalb hätten die Eltern die Kinder nicht mehr in den von ihr und ihrer Schwiegermutter betriebenen Kindergarten gebracht. Sie habe den Kindergarten aufgeben müssen, weil es immer wieder Drohanrufe gegeben habe. Der Käufer habe sich als Mitglied der AAH-Miliz vorgestellt und ihrem Ehemann erklärt, dass er ihn ganz schnell verschwinden lassen könne. Am 14.09.2015 sei ihr Sohn entführt worden, als er mit seinem besten Freund und dessen Cousin auf dem Weg von einem Café in der Stadt nachhause gewesen sei. Ein Auto habe neben dem Sohn und seinen Begleitern angehalten und Männer in schwarzer Kleidung hätten den Sohn mitgenommen. Direkt danach habe N. ihren Ehemann angerufen und 60.000 Dollar Lösegeld verlangt. Ihr Mann habe schnell seine Autos sehr günstig verkauft und so 30.000 Dollar zusammenbekommen und am 20.09.2015 an die Entführer gezahlt. Der Sohn sei aber nicht zurückgekommen. Dann habe ihr Ehemann einen weiteren Anruf bekommen und der Entführer habe gesagt: Du hast die 60.000 Dollar nicht bezahlt, jetzt wirst Du sehen, was passiert. Ein Nachbar arbeite in einer Leichenhalle und habe ihren Sohn erkannt, der mit einem Kopfschuss hingerichtet worden sei. Ihr Mann habe nicht mehr schlafen können und sie habe Migräne bekommen. Sie seien zu ihren Eltern geflohen und am 24.09.2015 sei ihr Mann mit ihrer Tochter ausgereist. Auch ihre Tochter sei stark traumatisiert. Sie habe die Leiche ihres Sohnes nicht gesehen, da die Leichenhalle von Milizen umzingelt gewesen sei. Eine Sterbeurkunde hätten sie ebenfalls nicht bekommen, weil sie Angst gehabt habe sich bei den Behörden zu melden. Weil bekannt sei, dass die Milizen und die Polizei zusammenarbeiten, hätten sie auch keine Anzeige erstattet. Nach der Ermordung des Sohnes seien sie weiter bedroht worden. Die Entführer hätten die zweite Hälfte des Geldes verlangt und sie habe Angst, dass jetzt ihre Tochter entführt werden würde. Als sie zu ihren Eltern gezogen seien, habe die Gruppe herausgefunden, wo sie wohnen. Ihre Eltern hätten ihr Haus verkaufen und wegziehen müssen. Ihr Haus stehe jetzt leer, der Bruder und die Schwester ihres Ehemannes hätten den Irak ebenfalls verlassen. Nach R., woher ihr Ehemann und sie stammen würden, könnten sie nicht, weil die Verwandtschaft dort vom IS bedroht würde. Sie habe den Irak ungefähr am 07.02.2016 verlassen.

Mit Bescheid vom 22.11.2017 lehnte das Bundesamt es ab, den Klägern zu 1. und 3. die Flüchtlingseigenschaft oder subsidiären Schutz zuzuerkennen (Nrn. 1 und 2). Es stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 3). Nach Ablauf einer Ausreisefrist 30 Tagen drohte es den Klägern die Abschiebung in den Irak oder in einen anderen aufnahmebereiten Staat an und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Nrn. 4 und 5). Zur Begründung führte das Bundesamt aus, der Vortrag des Klägers zu 1. sei nicht glaubhaft. Die Angaben zu den fluchtauslösenden Details seien detailarm, vage und oberflächlich geblieben und seien zudem nicht nachvollziehbar. Insbesondere zu der Entführung des Sohnes, den Gesprächen mit N., zur Lösegeldübergabe und zum Tod des Sohnes sei der Kläger zu 1. auch auf Nachfragen oberflächlich geblieben, habe keine Details, Gefühle oder Reflexionen der Erlebnisse mitgeteilt. Er habe nicht nachvollziehbar erklärt, weshalb sie keinen Umzug innerhalb S. erwogen hätten. Es sei unglaubhaft, dass der Kläger zu 1. bei der Flugabwehr in K. gewesen sei, denn er habe angegeben, nicht gekämpft zu haben, obgleich K. im ersten Golfkrieg schweren Bombardements ausgesetzt gewesen sei. Es sei auch nicht glaubhaft, dass er als einfacher Soldat in einem der wohlhabendsten Bezirke in K. gelebt habe, wo Generäle, Offiziere und Piloten gelebt hätten. Den Klägern drohe auch kein ernsthafter Schaden im Sinne von § 4 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 Asylgesetz (AsylG). Hinsichtlich eines drohenden Schadens durch Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung sei auf die Ausführungen zum Flüchtlingsschutz zu verweisen. Die willkürliche Gewalt im innerstaatlichen Konflikt erreiche in der Region K. nicht generell das für eine Schutzgewährung erforderliche Niveau und individuelle gefahrerhöhende Merkmale lägen bei den Klägern nicht vor. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) bestehe aufgrund der derzeitigen humanitären Bedingungen im Irak auch unter Berücksichtigung der individuellen Umstände der Kläger nicht. Es sei dem Kläger auch vor der Ausreise gelungen, eine Lebensgrundlage für sich zu schaffen. Gefahren im Sinne von § 60 Abs. 7 AufenthG lägen nicht vor. Die beschriebene Medikation begründe kein Abschiebungsverbot und sollte die Erkrankung gravierend sein, sei es nicht nachvollziehbar, weshalb der Kläger seit dem Jahr 2015 keinen Facharzt aufgesucht habe.

Mit Bescheid vom 28.11.2017 traf das Bundesamt die gleichen Entscheidungen hinsichtlich der Klägerin zu 2. Es stütze sich darauf, dass die Klägerin zu 2. weder eine Verfolgung durch den Staat noch aufgrund eines flüchtlingsrechtlich relevanten Anknüpfungsmerkmals vorgetragen habe. Die vorgetragene Schutzgelderpressung sei nicht substantiiert worden, weil die Kläger zu 1. und 2. nicht zur Polizei gegangen seien. Bei einer echten Bedrohungslage wäre zu erwarten gewesen, dass sie sich an Institutionen im Irak gewendet hätten. Zudem hätten sie den Wohnort wechseln können. Die Ablehnung der Gewährung subsidiären Schutzes erfolgte mit derselben Begründung wie bei den Klägern zu 1. und 3.. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK aus humanitären Gründen bestehe nicht, da die Klägerin vor ihrer Ausreise in sehr guten wirtschaftlichen Verhältnissen gelebt und einen Kindergarten betrieben habe und auch noch zahlreiche Verwandte im Irak habe, die sie unterstützen könnten. Abschiebungsverbote im Sinne von § 60 Abs. 7 AufenthG bestünden nicht.

Am 04.12.2017 haben die Kläger zu 1. und 3. und am 08.12.2017 hat die Klägerin zu 2. Klage erhoben. Sie wiederholen ihren Vortrag aus dem Verwaltungsverfahren und ergänzen, sie müssten befürchten, von Angehörigen des IS, der Taliban oder anderer regimefeindlicher Gruppen getötet oder verletzt zu werden.

Die Kläger beantragen,

die Beklagte unter Aufhebung der Bescheide vom 22.11.2017 und vom 28.11.2017 zu verpflichten, ihnen die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,

hilfsweise, ihnen subsidiären Schutz zu gewähren,

weiter hilfsweise, festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Irak vorliegen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung verweist sie auf den angefochtenen Bescheid.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge sowie auf die Sitzungsniederschrift vom 02.02.2022 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Trotz des Ausbleibens der Beklagten im Termin zur mündlichen Verhandlung kann ein Urteil ergehen, da sie gemäß § 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) mit der Ladung darauf hingewiesen worden ist, dass auch ohne sie verhandelt und entschieden werden kann.

Die Klage ist zulässig und begründet. Die Beklagte ist zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu verpflichten, vgl. § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO. Daher sind die Bescheide vom 22.11.2017 und vom 28.11.2017 aufzuheben, vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.

I. Die Klägerinnen zu 2. und 3. haben Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aus § 3 Abs. 4 i.V.m. Abs. 1 AsylG.

Danach wird einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG oder das Bundesamt hat nach § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG von der Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG abgesehen. Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28.07.1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.

Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten gemäß § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die (1.) aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist, oder (2.) in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher Weise betroffen ist. Als derartige Verfolgung kann nach § 3a Abs. 2 Nr. 1 unter anderem die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt gelten.

Gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 4 gilt eine Gruppe insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn (a) die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und (b) die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 4 AsylG kann eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht anknüpft.

Die Verfolgung kann gemäß § 3c Nr. 3 AsylG auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat oder Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, wirksamen und dauerhaften Schutz vor Verfolgung zu bieten.

Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer - bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr - die genannten Gefahren mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Hierfür ist erforderlich, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine individuelle Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab gilt unabhängig von der Frage, ob der Ausländer vorverfolgt ausgereist ist oder nicht. Vorverfolgte werden nach den unionsrechtlichen Vorgaben nicht über einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab, sondern über die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU privilegiert. Danach besteht bei ihnen eine tatsächliche Vermutung, dass ihre Furcht vor Verfolgung begründet ist. Diese Vermutung kann widerlegt werden. Hierfür ist es erforderlich, dass stichhaltige Gründe dagegen sprechen, dass ihnen erneut eine derartige Verfolgung droht (vgl. ausführlich u. m.w.N. zum Wahrscheinlichkeitsmaßstab BVerwG, Urt. v. 04.07.2019 - 1 C 31/18 - juris Rn. 16 ff.).

Gemäß § 3e AsylG wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft allerdings nicht zuerkannt, wenn er (1.) in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d hat und (2.) sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.

Nach diesen Maßgaben ist den Klägerinnen zu 2. und 3. die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, weil sie aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu der sozialen Gruppe irakischer Frauen, deren Identität westlich geprägt ist im Falle einer Rückkehr in den Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung ausgesetzt wären. Nach der ständigen Rechtsprechung der Kammer werden Frauen, die sich der bestehenden rechtlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Diskriminierung der Frauen im Irak aufgrund ihrer westlichen Prägung entgegenstellen, wegen ihrer deutlich abgegrenzten Identität von der irakischen Gesellschaft als andersartig betrachtet und können einer beachtlichen Verfolgungsgefahr ausgesetzt sein (vgl. zuletzt Beschl. v. 18.10.2021 - 12 B 5685/21 -, n.v.). Dem liegen folgende Erwägungen zugrunde (VG Hannover, Urt. v. 18.03.2021 - 12 A 1130/18 -, n.v., UA S. 6 ff.).:

„Auf Basis dieses rechtlichen Maßstabes bilden irakische Frauen eine bestimmte soziale Gruppe, sofern sie - beispielsweise infolge eines längeren Aufenthalts in Europa - in einem solchen Maße in ihrer Identität westlich geprägt worden sind, dass sie entweder nicht mehr dazu in der Lage wären, bei einer Rückkehr in den Irak ihren Lebensstil den dort erwarteten Verhaltensweisen und Traditionen anzupassen, oder denen dies infolge des erlangten Grads ihrer westlichen Identitätsprägung nicht mehr zugemutet werden kann (VG Hannover, Urt. v. 22.6.2020 - 12 A 773/18 -, n.v., Urt. v. 10.04.2019 - 6 A 2689/17 -, juris Rn. 27, und Urt. v. 10.12.2018 - 6 A 6837/16 -, juris Rn. 58; VG Stade, Urt. v. 23.07.2019 - 2 A 19/17 -, juris Rn. 39 ff.; VG Aachen, Urt. v. 03.05.2019 - 4 K 3092/17.A -, juris Rn. 30; VG Gelsenkirchen, Urt. v. 08.06.2017 - 8a K 1971/16.A -, juris Rn. 33; VG Göttingen, Urt. v. 05.07.2011 - 2 A 215/09 -, juris Rn. 24 ff.; vgl. auch Nds. OVG, Beschl. v. 16.02.2006 - 9 LB 27/03 -, juris Rn. 13). Derart in ihrer Identität westlich geprägte Frauen teilen sowohl einen unveränderbaren gemeinsamen Hintergrund als auch bedeutsame Merkmale im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 AsylG. Sie werden wegen ihrer deutlich abgegrenzten Identität von der irakischen Gesellschaft als andersartig betrachtet.

Nach den vorliegenden Erkenntnissen (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Irak, 17.03.2020, S. 96-108, Auswärtiges Amt, Lagebericht v. 02.03.2020, S. 14 f.; ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Autonome Region Kurdistan: Lage alleinstehender Frauen; Sicherheitslage, 12.08.2019; UNHCR, Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus dem Irak fliehen, Mai 2019, S. 99-112; EASO, Gezielte Gewalt gegen Individuen, März 2019, S. 175-189; ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Lage westlich orientierter Frauen, 30.04.2018; Human Rights Watch, No one is safe. Abuses of women in Iraq’s crimi-nal justice system, Februar 2014) sind Frauen im Irak weitreichender Diskriminierung ausgesetzt. Konservative, patriarchalische soziale Normen und die Dominanz religiöser Werte in den verschiedenen Gemeinschaften im Irak verhindern die effektive und gleichberechtigte Teilnahme von Frauen am politischen, sozialen und wirtschaftlichen Leben.

In der Verfassung ist die Gleichstellung der Geschlechter festgeschrieben und eine Frauenquote von 25 % im Parlament (Autonome Region Kurdistan-Irak: 30 %) verankert. Nach Angaben der Unabhängigen Hohen Wahlkommission haben 2.009 Kandidatinnen an den letzten Parlamentswahlen teilgenommen. Während des Wahlkampfs wurden die Plakate der Kandidatinnen beschädigt, und es wurden Fotos online gestellt, die die Kan-didatinnen scheinbar in freizügiger Kleidung zeigten. Einige Kandidatinnen zogen ihre Kandidatur zurück, nachdem sie Drohungen und Einschüchterungen erhalten hatten. Im Präsidium des Parlaments ist keine Frau vertreten. Im Regierungskabinett gibt es seit Oktober 2019 eine Frau, die Bildungsministerin. Die Hauptstadt Bagdad hatte von 2015 bis 2020 eine Frau als Bürgermeisterin, der Posten gilt allerdings als wenig einflussreich. In Kurdistan ist eine Frau Parlamentspräsidentin, es gibt drei Ministerinnen und einige hochrangige Richterinnen. Gleichwohl stellen diese Frauen Ausnahmen in einer männerdominierten Berufswelt dar. Frauen sind auf Gemeinde- und Bundesebene, in Verwaltung und Regierung unterrepräsentiert. Sie werden selten in Entscheidungspositionen und einflussreiche Positionen ernannt. Die traditionelle Rollenverteilung in der Familie lässt wenig Möglichkeiten für Frauen, sich im Studium oder im Beruf weiter zu entwickeln. Dies wird zum Teil mit der religiösen Tradition begründet, beruht aber auch auf den weit verbreiteten patriarchalischen Strukturen. Dabei stellt die Quote zwar sicher, dass Frauen zahlenmäßig vertreten sind, sie führt aber nicht dazu, dass Frauen einen wirklichen Einfluss auf Entscheidungsfindungsprozesse haben bzw. dass das Interesse von Frauen auf der Tagesordnung der Politik steht.

Frauen sind weit verbreiteter gesellschaftlicher Diskriminierung ausgesetzt und werden unter mehreren Aspekten der Gesetzgebung ungleich behandelt. Laut Art. 14 und 20 der Verfassung ist jede Art von Diskriminierung aufgrund des Geschlechtes verboten. Art. 41 bestimmt jedoch, dass Iraker Personenstandsangelegenheiten ihrer Religion entsprechend regeln dürfen. Viele Frauen kritisieren diesen Artikel als Grundlage für eine Re-Islamisierung des Personenstandsrechts und damit eine Verschlechterung der Stellung der Frau. Zudem findet auf einfachgesetzlicher Ebene die verfassungsrechtlich garantierte Gleichstellung häufig keine Entsprechung. Defizite bestehen insbesondere im Familien-, Erb- und Strafrecht sowie im Staatsangehörigkeitsrecht. In der Praxis ist die Bewegungsfreiheit für Frauen stärker eingeschränkt als für Männer. So hindert das Gesetz Frauen beispielsweise daran, ohne die Zustimmung eines männlichen Vormunds oder gesetzlichen Vertreters einen Reisepass zu beantragen oder ein Dokument zur Feststellung des Personenstands zu erhalten, welches für den Zugang zu Beschäftigung, Bildung und einer Reihe von Sozialdiensten erforderlich ist.

Die Gewalt gegen Frauen und Mädchen ist seit 2003 gestiegen und setzt sich unvermindert fort. Frauen und Mädchen sind im Irak Opfer von gesellschaftlichen, rechtlichen und wirtschaftlichen Diskriminierungen, Entführungen und Tötungen aus politischen, religiösen oder kriminellen Gründen, sexueller Gewalt, erzwungener Umsiedlung, häuslicher Gewalt, "Ehrenmorden" und anderen schädlichen traditionellen Praktiken, wie etwa (Sex-)Handel und erzwungener Prostitution. In den Familien sind patriarchische Strukturen weit verbreitet; Frauen werden immer noch in Ehen gezwungen. Mehr als 20 % der Frauen werden vor ihrem 18. Lebensjahr verheiratet, viele davon im Alter von 10 bis 14 Jahren.

Frauen wird überproportional der Zugang zu Bildung und Teilnahme am Arbeitsmarkt verwehrt. Je höher die Bildungsstufe ist, desto weniger Mädchen sind vertreten. Frauen und Mädchen sind im Bildungssystem deutlich benachteiligt und haben noch immer einen schlechteren Bildungszugang als Jungen und Männer. Schätzungen zufolge sind Frauen etwa doppelt so stark von Analphabetismus betroffen wie Männer. In ländlichen Gebieten ist die Einschulungsrate für Mädchen weit niedriger als jene für Jungen. Häufig lehnen die Familien eine weiterführende Schule für Mädchen ab oder ziehen eine „frühe Ehe“ für sie vor.

Frauen sind außerdem wirtschaftlicher Diskriminierung hinsichtlich des Zugangs zum Arbeitsmarkt, Kredit und Lohngleichheit ausgesetzt. Die geschätzte Erwerbsquote von Frauen lag 2014 bei nur 14%, der Anteil an der arbeitenden Bevölkerung bei 17%. Jene rund 85% der Frauen, die nicht an der irakischen Arbeitswelt teilhaben, sind einem erhöhten Armutsrisiko ausgesetzt, selbst wenn sie in der informellen Wirtschaft mit Arbeiten wie Nähen oder Kunsthandwerk beschäftigt sind. Den Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation von 2010 zufolge führt der Irak die Liste der Länder mit der niedrigsten Erwerbsbeteiligung von Frauen an. In einem Artikel von Al-Monitor vom Dezember 2017 wird berichtet, dass für viele Menschen im Irak die einzig akzeptablen Arbeitsplätze für Frauen in bestimmten häuslichen Bereichen oder Regierungsabteilungen zu finden sind. Frauen und Mädchen, die in Geschäften, Cafés, im Unterhaltungssektor, in der Krankenpflege oder im Transportsektor (Taxi-/LKW-Fahrer) arbeiten, sind verpönt.

Weiblich geführte Haushalte haben nicht unbedingt Zugang zu Finanzanlagen, Sozialleistungen oder dem öffentlichen Verteilungssystem. Viele sind auf Unterstützung durch ihre Familien, Behörden und Nichtregierungsorganisationen angewiesen. Während die meisten Frauen im Irak theoretisch Anspruch auf öffentliche oder NGO-Hilfe haben, erhalten in der Praxis nur 20-25% von ihnen diese Hilfe. Darüber hinaus deckt die Hilfe nur einen Teil des jeweiligen Haushaltsbedarfs ab. Haushalte mit weiblichen Familienoberhäuptern sind besonders anfällig für Unsicherheit bei der Nahrungsmittelversorgung. Aufgrund vieler Hindernisse beim Zugang zu Beschäftigung müssen Frauen auf andere Mittel zurückgreifen, um ihren Lebensunterhalt zu sichern, wie Geld leihen, Essen rationieren und ihre Kinder zur Arbeit schicken. Im Kontext einer Gesellschaft, in der die Erwerbstätigkeit von Frauen traditionell gering ist, sind solche Haushalte mit erhöhten bürokratischen Hindernissen und sozialer Stigmatisierung, insbesondere auch im Rückkehrprozess konfrontiert. Ohne männliche Angehörige erhöht sich das Risiko für diese Familien, Opfer von Kinderheirat und sexueller Ausbeutung zu werden.

Die Stellung der Frau hat sich im Vergleich zur Zeit des Saddam-Regimes dramatisch verschlechtert. Mit der Erosion von Sicherheit und Stabilität einhergehend haben frauenfeindliche Ideologien propagierende Milizen Frauen und Mädchen zur Zielscheibe von Angriffen gemacht und sie eingeschüchtert, sich aus dem öffentlichen Leben fernzuhalten. Frauen sehen sich dem Risiko ausgesetzt, von Mitgliedern der ausschließlich männlichen Polizei oder anderen Sicherheitskräften belästigt und misshandelt zu werden. Die größten Opfer der fortdauernden Unsicherheit sind junge Frauen. Die prekäre Sicherheitslage in Teilen der irakischen Gesellschaft und insbesondere unter Binnenflüchtlingen hat negative Auswirkungen auf das Alltagsleben und die politischen Freiheiten der Frauen. Frauen, die in politischen und sozialen Bereichen tätig sind, darunter Frauenrechtsaktivistinnen, Wahlkandidatinnen, Geschäftsfrauen, Journalistinnen sowie Models und Teilnehmerinnen an Schönheitswettbewerben, sind Einschüchterungen, Belästigungen und Drohungen ausgesetzt. Dadurch sind sie oft gezwungen, sich aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen oder aus dem Land zu fliehen.

Sowohl Männer als auch Frauen stehen unter Druck, sich an konservative Normen zu halten, was das persönliche Erscheinungsbild betrifft. Vor allem im schiitisch geprägten Südirak werden auch nicht gesetzlich vorgeschriebene islamische Regeln, z.B. Kopf-tuchzwang an Schulen und Universitäten, stärker durchgesetzt. Frauen werden unter Druck gesetzt, ihre Freizügigkeit und Teilnahme am öffentlichen Leben einzuschränken. Einige Muslime bedrohen Frauen und Mädchen, unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit, wenn sich diese weigern, ein Hijab zu tragen, bzw. wenn sie sich in westlicher Kleidung kleiden oder sich nicht an die strengen Auslegungen islamischer Normen, die das Verhalten in der Öffentlichkeit dominieren, halten. Vertreter christlicher Nichtregierungsorganisationen gaben an, zahlreiche Frauen, auch Christinnen, hätten berichtet, sie würden nach Schikanen ein Hijab tragen. Der Kleidungsstil, der von Frauen erwartet wird, ist im Irak über die letzten zwei Dekaden konservativer geworden. Dieses Phänomen hat sich nach 2003 dadurch beschleunigt, dass sunnitische und schiitische religiöse Kräfte im Irak auf dem Vormarsch sind. Im IS-Gebiet gibt es einen strengen Dresscode, der strikt durchgesetzt wird. In schiitischen Gebieten, einschließlich Basra und Bagdad, versuchen schiitische Milizen ebenfalls strikte Bekleidungsvorschriften durchzusetzen und sind für gewalttätige Übergriffe auf Frauen verantwortlich, deren Kleidungsstil als unangebracht angesehen wird. Über die Jahre 2006 und 2007 ist bekannt, dass Milizen in Basra und Diyala hunderte Frauen töteten, weil sie den „Dresscode“ nicht eingehalten hatten. Es gibt Befürchtungen, dass ein solches Ausmaß erneut droht.

In Gebieten, in denen es eine starke Präsenz von Milizen gibt, kommt es vor, dass diese Milizen in Bezug auf Frauen (aber auch ganz allgemein) konservativere kulturelle Normen und Konventionen einführen bzw. sogar gewaltsam erzwingen. Einige Milizen schränken die Rechte von Frauen systematisch ein. Ob und wie weit dies geht, hängt nicht nur von der jeweiligen Miliz ab, sondern auch von den jeweiligen lokalen Kommandanten. Betroffen sind nicht nur Frauen in Gebieten, die unter der Kontrolle der Milizen stehen, sondern auch Frauen in anderen Städten wie z.B. Bagdad und Basra, in denen der Einfluss der Milizen sehr groß ist. Die Milizen operieren diesbezüglich ungestraft, zum Teil auch in Komplizenschaft mit den lokalen Behörden. So berichtet EASO von einem (datumsmäßig nicht näher bezeichneten) Vorfall in Bagdad, bei dem Mitglieder einer Miliz ein angebliches Bordell gestürmt und sämtliche Anwesenden getötet hätten. Überdies seien in Basra Frauen von unbekannten Milizionären getötet worden, wo-bei man an ihren Leichnamen Bekennerschreiben gefunden habe, denen zufolge die Frauen anstößige Kleidung getragen hätten oder in kompromittierenden Situationen gefunden worden seien. Nach Auskunft der Iraq Civil Solidarity Initiative wurden im schiitisch dominierten Basra im Sommer 2016 mehrere Cafés im Stadtzentrum, die Frauen beschäftigten und sich zum Teil nur wenige Meter von der Residenz des Gouverneurs und anderen Sicherheitseinrichtungen entfernt befanden, von religiösen Extremisten in die Luft gesprengt. Als Reaktion hierauf hätten viele in örtlichen Cafés oder der Tourismusindustrie beschäftigte Frauen ihren Arbeitsplatz aufgegeben.

Im Jahr 2018 gab es eine Reihe von Morden an Frauen, die in der Öffentlichkeit standen und als gegen soziale Gebräuche und traditionelle Geschlechterrollen verstoßend wahrgenommen wurden, darunter Frauenrechtsaktivistinnen und Personen, die mit der Beauty- und Modebranche in Verbindung standen. Im September 2018 wurde Tara Fares, eine ehemalige Schönheitskönigin, die als Model und als Social Media Influence-rin arbeitete, einen westlichen Lebensstil pflegte und sich gegen die traditionellen Rollenbilder der irakischen Gesellschaft stellte, in Bagdad auf offener Straße von unbekannten Tätern erschossen. Der irakische Premierminister Haider al-Abadi ordnete eine Untersuchung durch das Innenministerium und die Geheimdienste mit der Begründung an, es bestehe im Hinblick auf vergleichbare Tötungen und Entführungen von Frauen der Verdacht einer gezielten Kampagne. Dem Guardian zufolge hatten alle Opfer eine öffentliche Präsenz und eine Stimme, die jene Elemente der irakischen Gesellschaft verunsicherten, die nach wie vor starre Ansichten darüber hegen, wie Frauen sich zu verhalten haben. Die Leiterin des Forums für irakische Journalistinnen teilte der New York Times mit, dass die gezielte Gewalt gegen prominente und einflussreiche Frauen im Irak drastisch angestiegen sei.

In der Autonomen Region Kurdistan führten die Behörden verschiedene Gesetzesreformen und institutionelle Reformen zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen durch. So wurden im Innenministerium vier Abteilungen zum Schutz von weiblichen Opfern von (familiärer) Gewalt sowie drei staatliche Frauenhäuser eingerichtet. Zwei weitere werden von Nichtregierungsorganisationen betrieben. Seit 2011 gibt es ein kurdisches Gesetz gegen häusliche Gewalt, in dem weibliche Genitalverstümmelung, Zwangsverheiratung von Frauen und andere Gewalt innerhalb der Familie unter Strafe gestellt werden. Trotz dieser Bemühungen ist geschlechtsspezifische Gewalt, unter anderem wegen der schwachen und nicht durchgängigen Gesetzesumsetzung und der vorherrschenden patriarchalen Geschlechternormen, noch immer weitverbreitet. In der Autonomen Region Kurdistan sind Frauen ähnlichen Risiken der Diskriminierung vonseiten der Behörden und der Gesellschaft ausgesetzt wie in anderen Teilen des Landes. Ihnen wird in mancher Hinsicht zwar zusätzlicher Schutz gewährt, in den meisten Bereichen entspricht die Gesetzgebung der kurdischen Regionalregierung jedoch der Bundesgesetzgebung und Frauen sind Diskriminierung ausgesetzt. In Kurdistan ist es alleinstehenden Frauen aus kulturellen Gründen beispielsweise nicht möglich, selbst Eigentum zu mieten oder sich in Hotels aufzuhalten. Die sich verschlechternde finanzielle Lage in Kombination mit gesellschaftlichen Einschränkungen für Frauen im Irak hat die Möglichkeiten für Frauen, alleine zu leben, verringert. Insbesondere Erbil und Dohuk sind beide als konservative Regionen mit strenger Kontrolle über Frauen bekannt.

Frauen, die sich der vorbeschriebenen rechtlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Diskriminierung der Frauen im Irak aufgrund ihrer westlichen Prägung entgegenstellen, werden wegen ihrer deutlich abgegrenzten Identität von der irakischen Gesellschaft als andersartig betrachtet und können einer beachtlichen Verfolgungsgefahr ausgesetzt sein.

Die Annahme eines westlichen Lebensstils ist nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 Buchst. a Halbsatz 1 AsylG jedoch nur beachtlich, wenn er die betreffende Frau in ihrer Identität maßgeblich prägt, d.h. auf einer ernsthaften und nachhaltigen inneren Überzeugung beruht. Ob eine in ihrer Identität westlich geprägte irakische Frau im Fall ihrer Rückkehr in den Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG ausgesetzt ist, bedarf überdies einer umfassenden Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalls. Dabei ist die individuelle Situation der Frau nach ihrem regionalen und sozialen, insbesondere dem familiären Hintergrund zu beurteilen. Dies ist dem Umstand geschuldet, dass sich die konkrete Situation irakischer Frauen je nach regionalem und sozialen Hintergrund stark unterscheiden kann, wobei insbesondere zu berücksichtigen ist, ob und inwieweit die Betreffende voraussichtlich durch einen Familien- oder Stammesverbund vor Verfolgungsmaßnahmen geschützt werden kann (vgl. Nds. OVG, Urt. v. 21.09.2015 - 9 LB 20/14 -, juris Rn. 38-39).“

Nach der Anhörung der Klägerinnen in der mündlichen Verhandlung hat die Einzelrichterin die Überzeugung gewonnen, dass beide in den vergangenen Jahren in Deutschland eine westlich geprägte Identität entwickelt haben, die für sie jeweils von zentraler Bedeutung ist.

Die Klägerin zu 2. hatte bereits im Irak gemeinsam mit ihrer Schwiegermutter langjährig im Bereich ihres Wohnhauses einen Kindergarten betrieben und war zunächst ihrem Ehemann nicht bei der Ausreise gefolgt. Sie verließ den Irak erst Monate später aufgrund eines eigenen Entschlusses und bemühte sich in Deutschland zeitnah nach Abschluss ihres Sprachkurses und anderthalb Jahre früher als ihr Ehemann darum, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen. Seit August 2020 arbeitet sie Bereich der Kundenrücksendungen bei T. und verdient monatlich einen deutlich höheren Betrag als ihr Ehemann. Ausweislich des vorgelegten Zwischenzeugnisses fällt sie bei ihrer Arbeit durch eine hohe Motivation, ausgezeichnete Einsatzbereitschaft und große fachliche Kompetenz auf. In der mündlichen Verhandlung wurde deutlich, dass der Klägerin zu 2. ihre Arbeit und die damit verbundene Anerkennung ausgesprochen wichtig sind. Sie ist noch immer stark emotional berührt von dem Respekt, der Frauen in der Bundesrepublik entgegengebracht wird und ihnen ungehinderte berufliche Tätigkeit und freie Bewegung im öffentlichen Raum ermöglicht. Danach war es glaubhaft, dass sie sich eine Rückkehr in die Frauenrolle im Irak nicht mehr vorstellen kann.

Die Klägerin zu 3. hat nach ihrer Einreise nach Deutschland als Fünfzehnjährige die prägenden Jahre des Erwachsenwerdens hier verlebt und zielstrebig Deutsch gelernt, einen Realschulabschluss erworben und sodann eine selbst gewählte Ausbildung zur Pharmazeutisch-Technischen Assistentin begonnen, die sie bald abschließen wird, um dann in dem Beruf zu arbeiten. Auch sie konnte sehr plastisch schildern, wie wichtig es ihr nach den entgegengesetzten Erfahrungen im Irak ist, als Frau berufstätig zu sein und eigenständig zu leben, sich ohne männliche Begleitung frei bewegen und öffentlich Sport treiben zu können.

Beide Klägerinnen tragen zwar aus religiösen Gründen ein Kopftuch, wiesen aber im Übrigen in der mündlichen Verhandlung mit engen Jeans und modischer Oberbekleidung ein westliches Erscheinungsbild auf.

Nach Überzeugung der Einzelrichterin ist die westliche Lebensweise in der Persönlichkeit beider Klägerinnen mittlerweile so tief verwurzelt, dass sie diese nicht mehr ablegen können, jedenfalls aber, dass es ihnen nicht mehr zumutbar wäre, sich dem im Irak vorherrschenden traditionellen Sitten- und Rollenbild von Frauen zu unterwerfen, da sie hierfür einen wesentlichen Kerngehalt ihrer Persönlichkeit aufgeben müssten.

Bei einer Rückkehr in den Irak würde ihnen kein wirksamer Schutz durch einen Familienverband zur Verfügung stehen. Zwar würde die Rückkehr voraussichtlich mit dem Kläger zu 1. erfolgen. Abgesehen von diesem sind aber nur noch ältere Verwandte und eine Schwester des Klägers zu 1. in K. ansässig, die übrigen Geschwister des Klägers zu 1. sind ausgewandert. Die Mitglieder des großfamiliären Stammes aus R. befinden sich seit der Invasion durch den IS im Exil in Kurdistan.

Ausreichender staatlicher Schutz oder interner Schutz vor Verfolgung durch staatliche oder nichtstaatliche Akteure ist für die Klägerinnen nicht erreichbar. Das beschriebene Verhalten gegenüber „westlich“ orientierten Frauen geht sowohl von staatlichen als auch nichtstaatlichen Akteuren aus und ist in sämtlichen Provinzen des Irak - lediglich in unterschiedlichem Ausmaß der hieraus folgenden traditionellen Richtsätze und Gepflogenheiten - fest in der irakischen, männlich dominierten Gesellschaft verankert, sodass den Klägerinnen die vorbeschriebenen Gefahren landesweit drohen. Dabei ist festzustellen, dass der irakische Staat trotz der generellen Zielsetzungen in der Verfassung bislang weder im einfachen Recht noch in der Praxis effektive Maßnahmen zum Schutz von Frauen ergriffen hat (vgl. VG Gelsenkirchen, Urt. v. 08.06.2017 - 8a K 1971/16.A -, juris Rn. 74-77).

II. Der Kläger zu 1. hat als Ehemann der Klägerin zu 1. einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 26 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Sätze 1 und 2 AsylG.

Der unanfechtbaren Anerkennung des Stammberechtigten, die nach § 26 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 5 AsylG für die Gewährung von Familienflüchtlingsschutz erforderlich ist, steht dabei die rechtskräftige gerichtliche Verpflichtung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge zur Anerkennung des Stammberechtigten gleich (vgl. BVerwG, Urt. v. 5.5.2009 – 10 C 21/08 –, juris Ls. 2.a) u. Rn. 29). Die in § 26 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Abs. 5 AsylG normierte Voraussetzung, dass die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft für den Stammberechtigten unanfechtbar bzw. rechtskräftig geworden sein muss, berücksichtigt die Einzelrichterin dadurch, dass die Beklagte lediglich verpflichtet wird, die positive Entscheidung bezüglich des Klägers zu 1. unter der aufschiebenden Bedingung des Eintritts der Rechtskraft des die Klägerin zu 2. betreffenden Teils des vorliegenden Urteils auszusprechen. Auf diese Weise wird der Eintritt der Voraussetzungen des zu erteilenden Verwaltungsakts gewährleistet.

III. Nach alledem ist die Beklagte zu verpflichten, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Neben der Ablehnung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in Ziffer 1 der angegriffenen Bescheide müssen folglich auch die Ablehnung der Gewährung subsidiären Schutzes und der Feststellung von Abschiebungsverboten sowie die Abschiebungsandrohung und die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes (mit dem damit konkludent angeordneten Einreise- und Aufenthaltsverbot, vgl. dazu Nds. OVG, Urt. v. 06.05.2020 - 13 LB 190/19 -, juris Rn. 55 m.w.N.) in den Ziffern 2 bis 5 aufgehoben werden.

IV. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 83b gerichtskostenfrei. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 und § 711 Satz 1 und 2 ZPO.