Verwaltungsgericht Lüneburg
Urt. v. 30.01.2017, Az.: 4 A 231/16

Flüchtling; Homs; Reservist; Syrien; Wehrdienst

Bibliographie

Gericht
VG Lüneburg
Datum
30.01.2017
Aktenzeichen
4 A 231/16
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2017, 53845
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Die illegale Ausreise aus Syrien trotz militärdienstpflichtigen Alters und die Asylantragstellung im westlichen Ausland begründen die beachtliche Wahrscheinlichkeit der politischen Verfolgung des Ausländers durch den syrischen Staat.
Dies gilt erst recht, wenn weitere erschwerende Umstände (hier: Herkunft aus einem vom syrischen Staat als regimekritisch wahrgenommenen Gebiet) hinzukommen.

Tatbestand:

Der am E. geborene Kläger ist syrischer Staatsangehöriger. Er reiste nach eigenen Angaben am 12. September 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 21. April 2015 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) einen Asylantrag.

Im Rahmen seiner Anhörung vor dem Bundesamt gab er zur Begründung unter anderem an, er sei in Homs geboren und habe dort bis zu seiner Ausreise gelebt. Von 2006 bis 2008 habe er Wehrdienst in Syrien geleistet. Er habe erneut beim Militär dienen müssen. Zweimal habe man ihn bereits aufgesucht und versucht ihn als Reservisten für die Armee einzuziehen.

Mit Bescheid vom 15. Juli 2016 erkannte die Beklagte dem Kläger den subsidiären Schutzstatus zu (Ziffer 1) und lehnte den Antrag im Übrigen ab (Ziffer 2).

Daraufhin hat der Kläger am 28. Juli 2016 Klage erhoben. Zur Begründung macht er im Wesentlichen geltend, dass ihm derzeit wegen seiner illegalen Ausreise und der Asylantragstellung im westlichen Ausland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung durch den syrischen Staat drohe. Zudem habe er sich geweigert, den Militärdienst abzuleisten, da er nicht gewollt habe, gegen seine eigenen Leute zu kämpfen.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung von Ziffer 2 des Bescheides vom 15. Juli 2016 zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung bezieht sie sich auf die angefochtene Entscheidung.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die Klage, über die das Gericht trotz Nichterscheinens der Beklagten in der mündlichen Verhandlung entscheiden kann, da hierauf in der Ladung hingewiesen worden ist (vgl. § 102 Abs. 2 VwGO), hat Erfolg.

Die zulässige Klage ist begründet. Ziffer 2 des angefochtenen Bescheides des Bundesamtes vom 15. Juli 2016 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gem. § 3 AsylG.

Anzuwenden ist vorliegend das AsylG in der derzeit geltenden Fassung (Bekanntmachung als Asylverfahrensgesetz vom 02. September 2008, BGBl. I, 2008, S. 1798, zuletzt geändert durch Art. 2 des Gesetzes vom 04. November 2016, BGBl. I, 2016, S. 2460). Gem. § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG stellt das Gericht in Streitigkeiten nach diesem Gesetz auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung ab; ergeht die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung, ist der Zeitpunkt maßgebend, in dem die Entscheidung gefällt wird.

Gem. § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, wenn er Flüchtling im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG ist. Nach dieser Vorschrift ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (Genfer Flüchtlingskonvention - GFK -, BGBl. II, 1953, S. 560), wenn er sich 1. aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe 2. außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann (a.) oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will, oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will (b.). Weitere Einzelheiten zum Begriff der Verfolgung, den maßgeblichen Verfolgungsgründen sowie zu den in Betracht kommenden Verfolgungs- bzw. Schutzakteuren regeln die §§ 3 a - d AsylG. Die Verfolgung kann gemäß § 3c AsylG ausgehen von dem Staat (Nr. 1), Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen (Nr. 2) oder nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten (Nr. 3). Nach § 3e AsylG wird die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn eine interne Schutzmöglichkeit besteht.

Unter dem Begriff der politischen Überzeugung ist gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG insbesondere zu verstehen, dass der Ausländer in einer Angelegenheit, die die in § 3c AsylG genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob er aufgrund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist. Es kommt auch nicht darauf an, ob er diese Merkmale tatsächlich aufweist. Vielmehr reicht es aus, wenn ihm diese von seinem Verfolger zugeschrieben werden (vgl. § 3b Abs. 2 AsylG).

Ob eine Verfolgung droht, das heißt der Ausländer sich im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG aus begründeter Furcht vor einer solchen Verfolgung außerhalb des Herkunftslandes befindet, ist anhand einer Verfolgungsprognose zu beurteilen, die auf der Grundlage einer zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die Wahrscheinlichkeit künftiger Geschehensabläufe bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr des Schutzsuchenden in seinen Heimatstaat zum Gegenstand hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 6.3.1990 - 9 C 14.89 -, juris, m. w. N.). Die Prognose in Bezug auf eine bei Rückkehr in den Heimatstaat drohende Verfolgung hat am Maßstab der „beachtlichen Wahrscheinlichkeit“ zu erfolgen (vgl. BVerwG, Urteil vom 1.3.2012 - 10 C 7/11 - sowie Urteil vom 1.6.2011 - 10 C 25/10 -, zitiert jeweils nach juris). Der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht aller Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann. Dabei ist eine qualifizierende bzw. bewertende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen (vgl. zu Vorstehendem: BVerwG, Urteil vom 20.2.2013 - 10 C 23/12 -, Urteil vom 1.3.2012 - 10 C 7/11 -, Vorlagebeschluss vom 7.2.2008 - 10 C 33/07 - sowie Urteil vom 23.2.1988 - 9 C 32/87 -; Nds. OVG, Urteil vom 19.9.2016 - 9 LB 100/15 - und Urteil vom 21.9.2015 - 9 LB 20/14 -, zitiert jeweils nach juris).

Ausgangspunkt der Prognose ist das bisherige Schicksal des Ausländers. Ist der Ausländer aus seinem Herkunftsland vorverfolgt ausgereist, ist dies ein ernsthafter Hinweis auf die Begründetheit seiner Furcht vor Verfolgung und begründet eine (widerlegbare) Vermutung, dass sich eine frühere Verfolgung bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen wird (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.4.2010 - 10 C 5/09 -; EuGH, Urteil vom 2.3.2010 - C-175/08 -, zitiert jeweils nach juris; vgl. auch Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011). Die begründete Furcht vor Verfolgung kann nach § 28 Abs. 1a AsylG aber auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Für subjektive Nachfluchttatbestände, die bereits während eines Erstverfahrens oder durch das Erstverfahren verwirklicht worden sind, greift damit keine Einschränkung. Für die Flüchtlingsanerkennung müssen diese - anders als bei der Asylanerkennung - nicht einmal auf einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung beruhen (vgl. OVG Sachsen-​Anhalt, Urteil vom 18.7.2012 - 3 L 147/12 -, juris). Erst für nach dem erfolglosen Abschluss des Erstverfahrens selbst geschaffene Nachfluchtgründe wird ein Missbrauch der Inanspruchnahme des Flüchtlingsschutzes in der Regel vermutet (vgl. § 28 Abs. 2 AsylG; BVerwG, Urteil vom 18.12.2008 - 10 C 27/07 -, juris).

Ist der Ausländer unverfolgt ausgereist, liegt eine Verfolgungsgefahr und damit eine begründete Furcht vor Verfolgung vor, wenn ihm bei verständiger Würdigung der gesamten Umstände seines Falles mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Heimatstaat zu bleiben oder dorthin zurückzukehren. Die Zumutbarkeit bildet das vorrangig qualitative Kriterium, das bei der Beurteilung anzulegen ist, ob die Wahrscheinlichkeit einer Gefahr „beachtlich“ ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 5.11.1991 - 9 C 118/90 -, juris Rn. 17). Zu prüfen ist, ob aus Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in das Herkunftsland als unzumutbar erscheint. Dies kann auch dann der Fall sein, wenn nur ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 Prozent für eine politische Verfolgung gegeben ist. In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die „reale Möglichkeit“ („real risk“) einer Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. So macht es etwa für die Erwägungen eines besonnenen Menschen einen erheblichen Unterschied, ob er bei Rückkehr in seinen Herkunftsstaat (lediglich) eine geringe Freiheitsstrafe oder eine Geldbuße zu erwarten hat, oder aber ob ihm Folter, Misshandlung oder gar die Todesstrafe drohen (vgl. BVerwG, Urteil vom 30.10.1990 - 9 C 60.89 -, Urteil vom 5.11.1991 - 9 C 118.90 - und Vorlagebeschluss vom 7.2.2008 - 10 C 33.07 -, zitiert jeweils nach juris). An die Wahrscheinlichkeit einer tatsächlichen Verfolgung im Falle der Rückkehr sind umso geringere Anforderungen zu stellen, je schwerer und einschneidender die zu erwartende Verfolgungshandlung ist.

Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe und der dem Gericht vorliegenden Erkenntnisse hat der Kläger einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG, § 3 Abs. 4 AsylG. Bei verständiger Würdigung der gesamten Umstände droht dem Kläger im Falle der hypothetischen Rückkehr nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung durch den syrischen Staat wegen einer ihm unterstellten politischen Überzeugung, so dass ihm nicht zuzumuten ist, in den Heimatstaat zurückzukehren.

Dabei kann vorliegend dahinstehen, ob die Flüchtlingseigenschaft schon deshalb zuzuerkennen ist, weil der Kläger Syrien illegal verlassen, sich im westlichen Ausland aufgehalten und hier einen Asylantrag gestellt hat. Festzuhalten ist insoweit indes, dass nach (bisheriger) gefestigter Rechtsprechung der Kammer davon auszugehen war, dass der syrische Staat infolge einer sämtliche Lebensbereiche umfassenden autoritären Struktur und seiner totalitären Ausrichtung in so hohem Maße unduldsam ist, dass er schon im Grunde belanglose Handlungen wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und den langjährigen Aufenthalt im Ausland als Ausdruck einer von seiner Ideologie abweichenden Gesinnung ansieht und zum Anlass von Verfolgungsmaßnahmen nimmt (vgl. zuletzt nur VG Lüneburg, Urteil vom 18.11.2014 - 4 A 224/12 - sowie Urteil vom 10. Oktober 2014 - 4 A 28/14 -, beide n.v., in Anlehnung an: OVG Magdeburg, Urteil vom 18.7.2012 - 3 L 147/12 -, juris). Bis zum Frühjahr 2016 entsprach dies auch der ständigen Entscheidungspraxis der Beklagten (vgl. u.a. Pro Asyl, „BAMF-Entscheidungspraxis geändert: Für immer mehr SyrerInnen wird der Familiennachzug ausgesetzt“ vom 23. Mai 2016).

In der Person des Klägers vereinen sich nämlich darüber hinaus weitere Risikomerkmale, die unter Berücksichtigung der gegenwärtigen politischen Verhältnisse in Syrien zu der Annahme führen, dass dem Kläger bei einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung durch den syrischen Staat droht.

Grundsätzlich besteht weiterhin für jeden nach Syrien Einreisenden die reale Gefahr, Opfer eines willkürlichen Übergriffs durch die syrischen Sicherheitsbeamten am Flughafen Damaskus zu werden. Die Sicherheitsbeamten, die dort eingesetzt sind und die Einreise überwachen, haben nach den vorliegenden Erkenntnismitteln eine „carte blanche“ für Maßnahmen aller Art, wenn sie eine Person aus irgendeinem Grund für missliebig erachten, insbesondere können sie diese jederzeit festnehmen.

Bereits in dem Bericht des Auswärtigen Amtes vom 27. September 2010 wird darüber berichtet, dass bei einer Einreise nach Syrien, insbesondere am Flughafen Damaskus, umfangreiche Einreisekontrollen durch die Geheimdienste stattfänden, die die Einreisenden teilweise willkürlich verhaften und ohne Kontakt zur Außenwelt zum Teil mehrwöchig inhaftieren sowie körperlich und psychisch misshandeln würden (vgl. Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27. September 2010). Seit Beginn der Unruhen im März 2011 kam es weiterhin systematisch zu willkürlichen Verhaftungen durch die Sicherheitsdienste. Im Gewahrsam der außerhalb jeder Kontrolle agierenden Geheimdienste kam es in den vergangenen Jahren fortwährend zu Drohungen, körperlichen Misshandlungen, Folterungen sowie zu ungeklärten Todesfällen (vgl. Ad hoc-Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 17. Februar 2012). Dies ist auch heute noch der Fall. An den syrischen Flughäfen, insbesondere Damaskus, finden weiterhin umfangreiche Personen- und Grenzkontrollen durch die Geheimdienste statt, wobei den dort tätigen Sicherheitskräften Listen gesuchter Personen (darunter Mitglieder und Sympathisanten bewaffneter regimefeindlicher Gruppierungen, Kriminelle, politisch Verfolgte, Wehrdienstverweigerer) zur Verfügung gestellt werden (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Trier vom 12. Oktober 2016). Die Sicherheitsbeamten unterliegen bei ihren Kontrollen keinen strengen Regeln und agieren de facto im rechtsfreien Raum. Sie können Personen insbesondere jederzeit ohne Angabe von Gründen festnehmen und foltern (vgl. u.a. Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Düsseldorf vom 02. Januar 2017 - Antwort auf das Schreiben vom 18. Juli 2016; Canada: Immigration and Refugee Board of Canada vom 19. Januar 2016: “Syria: Treatment of returnees upon arrival at Damascus International Airport and international land border crossing points, including failed refugee claimants, people who exited the country illegally, and people who have not completed military service; factors affecting treatment, including age, ethnicity and religion”. In diesem Bericht heißt es unter anderem: “In a telephone interview with the Research Directorate, a program officer […] said that the screening process by border officials may include looking through phones and other personal items to check for any “signs of dissent” that might implicate the person, but that there are “no hard and fast rules” for the way in which officials treat returnees […]. The same source said that if a security official suspects someone, they might detain the person immediately, in which case the person could disappear and be tortured or the official might allow the person to enter Syria but require that the person report to them at a later time, at which point the person might disappear.”).

Die Befragungen, dauerhaften Inhaftierungen sowie Folterungen bis hin zu Tötungen beschränken sich nicht nur auf Personen, bei denen eine regierungsfeindliche Haltung bereits durch die Teilnahme an öffentlichen Kundgebungen, Internetaktivitäten oder sonstige Handlungen (bspw. journalistischer Art) nachweislich kundgetan worden ist. In zunehmendem Maße werden vielmehr menschenrechtsrelevante Eingriffe auf Grundlage von Vermutungen, Denunziationen, bestehender Verwandtschaft mit anderen Verdächtigen oder kraft reiner Willkür vorgenommen. Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR), dessen Berichten ein besonderes Gewicht zukommt, da er gem. Art. 35 Nr. 1 GFK zur Überwachung der Durchführung der Genfer Flüchtlingskonvention berufen ist (vgl. u.a. BVerfG, Beschluss vom 12.3.2008 - 2 BvR 378/05 -, juris), führt insoweit in seinen Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen (4. aktualisierte Fassung vom November 2015) aus, dass eine Besonderheit des Konflikts darin bestehe, dass die verschiedenen Konfliktparteien oftmals größere Personengruppen, einschließlich Familien, Stämmen, religiösen bzw. ethnischen Gruppen sowie ganzen Städten, Dörfern und Wohngebieten, eine politische Meinung unterstellen würden. So seien die Mitglieder größerer Einheiten, ohne dass sie individuell ausgewählt worden seien, aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Unterstützung einer gegnerischen Konfliktpartei zum Ziel von Gegenschlägen verschiedener Akteure geworden, einschließlich Streitkräften der Regierung, der ISIS und bewaffneter oppositioneller Gruppen. Die Annahme, dass eine Person eine bestimmte politische Meinung habe, oder eine bestimmte Konfliktpartei unterstütze, basiere oft nur auf wenig mehr als der physischen Anwesenheit dieser Person in einem bestimmten Gebiet oder ihrer Abstammung aus diesem Gebiet oder auf ihrem ethnischen oder religiösen Hintergrund oder ihrer Stammeszugehörigkeit.

Neben der Gefahr der Folter, des plötzlichen „Verschwindens“ und der willkürlichen Tötung sind die Inhaftierten Haftbedingungen ausgesetzt, die ihrerseits Menschenrechtsverletzungen im Sinne von § 3a Abs. 1 AsylG darstellen. Eine Recherche von Amnesty International, die in ihrem aktuellen Bericht die Haftbedingungen in Syrien anhand zahlreicher Beispiele umfassend darlegt, bestätigt, dass die Verhörpraktiken der syrischen Behörden maßgeblich auf Folter und Erniedrigung beruhen und dass die Häftlinge in überfüllten Gefängnissen keinen Zugang zu medizinischer Versorgung, Wasser und Nahrung sowie adäquaten Unterkünften und sanitären Einrichtungen haben (vgl. Amnesty International, „It breaks the human, torture, disease and death in Syria’s prisons“, 2016, S. 37 ff.). In dem vorgenannten Bericht der Menschenrechtsorganisation Amnesty International wird in Ziffer 4.2. „Profiles of people targeted“ unter anderem ausgeführt, dass für jedermann, der als oppositionell wahrgenommen werden könnte, die Gefahr bestehe, willkürlich inhaftiert oder „verschwinden gelassen“ zu werden und ferner die Gefahr bestehe, in der Haft Folter oder andere Misshandlungen zu erleiden oder aber auch getötet zu werden.

Diese allgemeine Gefahr informatorischer Befragungen unter Folter ohne erkennbaren individuellen (und sei es auch nur gruppenableitenden) Grund knüpft zwar nicht an asylerhebliche Merkmale an. Folter kann ein Indiz für eine asylrechtsrelevante Gerichtetheit der Verfolgung sein, führt aber, und insoweit ist der Beklagten zu folgen, nicht als solche zur Annahme einer politischen Verfolgung, sondern auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes. Zur Annahme der politischen Verfolgung eines durch Folter Bedrohten ist, wenn nicht in seiner Person an asylerhebliche Merkmale angeknüpft wird, jedenfalls dessen Zurechnung zur Gegenseite des Verfolgungsstaates oder zu einer anderen Person, die ihrerseits Objekt politischer Verfolgung ist, erforderlich (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 13.2.2014 - 14 A 215/14.A -, juris, m.w.N.).

Im Einzelfall des Klägers hat sich die alle Reisenden gleichermaßen treffende Möglichkeit, Opfer von (willkürlichen) Übergriffen zu werden, jedoch zu einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit verdichtet, während der Überprüfung durch die Sicherheitsbehörden - bei der Wiedereinreise oder bei einem späteren Überqueren von sog. Kontrollpunkten - als vermeintlicher Oppositioneller gefoltert oder verhaftet zu werden. Der Kläger unterliegt einem erhöhten Risiko, von den syrischen Sicherheitsbeamten als Oppositioneller, und damit als Gegner des syrischen Staates in dem auf syrischem Boden geführten Bürgerkrieg, eingestuft zu werden und deswegen Misshandlungen, Folter und menschenrechtswidriger Inhaftierung ausgesetzt zu sein. Denn er hat sich durch seine (illegale) Ausreise dem Militär- bzw. Reservedienst entzogen, was ihn aus der Gruppe aller Einreisenden heraushebt (1.). Ferner stammt er aus einem als regimekritisch eingestuften Gebiet (2.) und seine illegale Ausreise rückt ihn in den Fokus der syrischen Sicherheitsbehörden und Geheimdienste (3.).

1. Der 34-jährige Kläger hat nach eigenen Angaben von 2006 bis 2008 Wehrdienst abgeleistet und steht als Reservist in den gegenwärtigen Kriegszeiten zur Einberufung an. Er gehört aus Sicht des syrischen Staates zu einer Altersgruppe von Reservisten, deren Heranziehung zum Kriegsdienst bevorzugt konkret in Betracht kommt. In Syrien können Männer zwischen 18 und 42 Jahren zum Wehrdienst einberufen werden, in Ausnahmesituationen auch bis zum 52. Lebensjahr. Die Reservistenpflicht besteht bis zum 52. Lebensjahr bzw. bis zum 54. Lebensjahr bei einem Bachelorabschluss (vgl. u.a. Auskunft der Deutschen Botschaft Beirut vom 03. Februar 2016 an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge; Finnish Immigration Service, Fact-Finding Mission Report, „Syria: Military service, national defense forces, armed groups supporting syrian regime and armed opposition“, Helsinki, 23. August 2016, Seite 5). Dieser Umstand setzt ihn wegen seiner ungenehmigten Ausreise dem Verdacht der Kriegsdienstentziehung und in besonderer Weise dem Risiko aus, im Fall seiner Rückkehr als (potentieller) Gegner des syrischen Regimes angesehen zu werden.

Die erneute Einberufung des Klägers stand in Syrien unmittelbar bevor. Der Kläger hat zwar nach eigenen Angaben (bisher) keinen erneuten Einberufungsbescheid vom syrischen Regime erhalten. Er hat jedoch gegenüber dem Bundesamt und dem Gericht angegeben, dass die örtliche Polizei bereits zweimal bei ihm gewesen sei, um ihn zu rekrutieren. Zweifel an der Glaubhaftigkeit dieser Angaben bestehen vor dem Hintergrund der aktuellen Auskünfte über die politische Situation in Syrien nicht.

Nach Auskunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe habe das syrische Regime die Suche nach Refraktären, jungen Männern, die sich dem Militärdienst entzogen haben, intensiviert. Es seien mehrere mobile Checkpoints errichtet worden und die Sicherheitskräfte führten anhand von Listen Razzien durch. Es wird berichtet, dass die syrische Armee seit Ausbruch des Krieges aufgrund von Desertionen und Verlusten um die Hälfte reduziert worden sei und Präsident al-Assad dringend auf den Einsatz von Reservisten angewiesen sei (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, „Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee“, vom 28. März 2015; Schweizerische Flüchtlingshilfe, „Syrien: Rekrutierung durch die Syrische Armee“, vom 30. Juli 2014). Es gebe keine offiziellen Entlassungen aus dem Militärdienst mehr. Reservistendienst könne von jedermann verlangt werden, der in der oben genannten Altersgrenze liege (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, „Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee“, vom 28. März 2015; Finnish Immigration Service, Fact-Finding Mission Report, „Syria: Military service, national defense forces, armed groups supporting syrian regime and armed opposition“, Helsinki, 23. August 2016, Seite 11). Nach Angaben der Schweizerischen Flüchtlingshilfe habe das syrische Regime seit Herbst 2014 an verschiedenen Orten des Landes die Mobilisierung von Reservisten intensiviert. Die syrische Armee und die regierungstreuen Milizen hätten neue Checkpoints etabliert und verstärkt Razzien im öffentlichen und privaten Bereich durchgeführt, um diejenigen Reservisten zu finden, die sich bis dahin dem Dienst entzogen hätten. An den Checkpoints der syrischen Armee würden Listen mit über 70.000 Namen von Personen zirkulieren, die als Reservisten eingezogen werden sollen (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, „Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee“, vom 28. März 2015). Zudem wird über mehrere Generalmobilmachungen in verschiedenen Städten berichtet.

In den vergangenen Jahren erließ das syrische Regime ferner verschiedene Maßnahmen, um die Ausreise wehrdienstpflichtiger Männer zu verhindern. Bereits seit Ausbruch des Krieges verlangen die syrischen Behörden bei der Ausreise von Männern, die zwischen 18 und 42 alt sind, eine offizielle Beglaubigung des Militärs, dass sie vom Dienst freigestellt sind, auch wenn diese bereits ihren Wehrdienst abgeleistet haben. Den syrischen Männern im wehrfähigen Alter ist seit dem 20. Oktober 2014 durch ein Verbot der General Mobilisation Administration des Verteidigungsministeriums die Ausreise verboten, so dass diese seither nicht mehr die Möglichkeit der legalen Ausreise haben (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, „Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee“, vom 28. März 2015; Auskunft des Deutschen Orient-Institutes an das Schleswig-Hosteinische Oberverwaltungsgericht vom November 2016).

Dass für eine Person, die sich dem Militär- bzw. Reservedienst entzogen hat, eine deutlich erhöhte Gefahr besteht, als Oppositioneller eingestuft zu werden, ergibt sich schon daraus, dass die Mobilisierung der syrischen Armee gerade der Bekämpfung der („oppositionellen“) Rebellengruppen dient (so zu Recht: VG Stade, Urteil vom 2.11.2016 - 10 A 2183/16 -, juris Rn. 38). Dementsprechend führt der UNHCR in seinem aktuellsten Bericht zum Schutzbedarf syrischer Flüchtlinge unter anderem aus, dass insbesondere Wehrdienstverweigerern und Deserteuren der Streitkräften der Regierung eine asylrelevante Verfolgung drohe (vgl. UNHCR, „Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen“, 4. aktualisierte Fassung, November 2015). Rückkehrmöglichkeiten existieren faktisch nur über von der Regierung kontrollierte Flughäfen (insbesondere Damaskus) oder offizielle Grenzstationen, sodass eine Einreise nach Syrien für Rückkehrer ohne Kenntniserlangung der syrischen Behörden nicht möglich ist. Da die Grenzbeamten und Geheimdienste über Listen gesuchter Personen (darunter Mitglieder und Sympathisanten bewaffneter regimefeindlicher Gruppierungen, Kriminelle, politisch Verfolgte, Wehrdienstverweigerer) verfügen (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Trier vom 12. Oktober 2016), könnte der Kläger nicht unerkannt nach Syrien zurückkehren. Doch selbst wenn ihm dies gelingen würde, dann steht zu befürchten, dass er an einem der zahlreich vorhandenen Kontrollpunkte (Checkpoints), denen ebenfalls Namenslisten zu denjenigen vorliegen, die sich der Einberufung in den Militärdienst bzw. der Mobilmachung entzogen haben (vgl. u.a. Schweizerische Flüchtlingshilfe, „Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee“, vom 28. März 2015; Schweizerische Flüchtlingshilfe, „Syrien: Rekrutierung durch die syrische Armee“, vom 30. Juli 2014), aufgegriffen wird. Auch das Auswärtige Amt führt in seiner aktuellen Auskunft an das Verwaltungsgericht Düsseldorf aus, dass es in Syrien keine Möglichkeit gebe, sich dem Militärdienst durch sicher zu erreichende inländische Fluchtalternativen, das heißt verfolgungsfreie Teile Syriens, zu entziehen (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Düsseldorf vom 02. Januar 2017 - Antwort auf das Schreiben vom 23. Juni 2016).

Da sich der Kläger nach wie vor in einem wehrpflichtigen Alter befindet, erfüllt er ein vom UNHCR beschriebenes Risikoprofil (vgl. UNHCR, „Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen“, 4. aktualisierte Fassung, November 2015, S. 26). Eine Auswertung der vorliegenden Erkenntnisse begründet im Falle des Klägers die beachtliche Gefahr, dass die syrischen Behörden seine illegale Flucht aus Syrien als Wehrdienstverweigerung und damit als Illoyalität gegenüber dem syrischen Regime auslegen werden. Bei einer zusammenfassenden Würdigung überwiegen vorliegend die für eine Verfolgung sprechenden Umstände. Aus Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Klägers ist nach Abwägung aller bekannten Umstände und unter Berücksichtigung der Schwere des befürchteten Eingriffs (Misshandlung, Folter, „Verschwindenlassen“ oder gar Tötung) eine Rückkehr in das Herkunftsland für den Kläger unzumutbar.

Zusätzlich droht dem Kläger im Falle einer Rückkehr nach Syrien Verfolgung im Sinne der § 3 Abs. 1 AsylG, § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG. Er müsste mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit seiner erneuten Einberufung in den Militärdienst rechnen, die er nach seinen glaubhaften Angaben in der mündlichen Verhandlung verweigern wird und weswegen ihm Bestrafung droht. Diese Weigerung wird der syrische Staat mit großer Wahrscheinlichkeit als Ausdruck einer politischen Gegnerschaft zum syrischen Regime auffassen und den Kläger daher inhaftieren, foltern und gar „verschwinden lassen“.

Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung auf Nachfrage der Einzelrichterin glaubhaft dargelegt, dass er nicht in einer derartigen Militäreinheit dienen möchte, dass er sich von den begangenen Kriegsverbrechen distanziert und er - trotz des Wissens um die Strafbarkeit der Wehrdienstverweigerung - die erneute Ableistung des Militärdienstes im Falle einer Rückkehr nach Syrien verweigern wird. Damit würde ihm eine Strafverfolgung drohen, was als Verfolgungshandlung nach § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG zu qualifizieren ist.

§ 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG zählt als Verfolgungshandlung ausdrücklich die Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt auf, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklausel des § 3 Abs. 2 AsylG (u.a. Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, etc.) fallen. Ausreichend ist dabei, dass der Militärdienst derartige Kriegsverbrechen umfasst. Nicht erforderlich ist dagegen, dass der Ausländer persönlich solche Verbrechen begehen müsste (vgl. EuGH, Urteil vom 26.2.2015 - C-472/13 -, juris, zur unionsrechtlichen Vorgängernorm des Art. 9 Abs. 2 Buchst. e) der Richtlinie 2004/83/EG).

Das syrische Militärstrafrecht sieht für verschiedene Abstufungen der Entziehung von der militärischen Dienstpflicht gemäß dem Military Penal Code von 1950, der 1973 angepasst wurde, unterschiedliche Strafmaße vor. In Artikel 68 ist festgehalten, dass mit einer Haftstrafe von einem bis sechs Monaten in Friedenszeiten und bis zu fünf Jahren in Kriegszeiten bestraft wird, wer sich der Einberufung entzieht. Wer das Land ohne eine Adresse zu hinterlassen verlässt und sich so der Einberufung entzieht, wird mit drei Monaten bis zu zwei Jahren Haft und einer Geldbuße bestraft. Gemäß Artikel 101 wird Desertion mit fünf Jahren Haft oder mit fünf bis zehn Jahren Haft bestraft, wenn der Deserteur das Land verlässt. Deserteure, die militärisches Material mitgenommen haben, die in Kriegszeiten oder während des Kampfes desertieren oder bereits früher desertiert sind, werden mit 15 Jahren Haft bestraft. In Artikel 102 ist festgehalten, dass ein Deserteur, der im Angesicht des Feindes desertiert, mit lebenslanger Haft bestraft wird. Exekution ist entsprechend Artikel 102 bei Überlaufen zum Feind und gemäß Artikel 105 bei geplanter Desertion im Angesicht des Feindes vorgesehen. Seit dem Ausbruch des Krieges werden syrische Armeeangehörige erschossen, gefoltert, geschlagen und inhaftiert, wenn sie Befehle nicht befolgen (vgl. zu Vorstehendem: Schweizerische Flüchtlingshilfe, „Syrien: Rekrutierung durch die syrische Armee“, vom 30. Juli 2014; Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Düsseldorf vom 02. Januar 2017 - Antwort auf das Schreiben vom 23. Juni 2016).

Der Dienst in der syrischen Armee beinhaltet ferner Handlungen, welche die Grundsätze der Menschlichkeit und des humanitären Völkerrechts missachten. Dass auch von der syrischen Armee solche Kriegsverbrechen, wie beispielsweise die gezielte Bombardierung von Wohngebieten, Krankenhäusern oder anderen zivilen Versorgungseinrichtungen oder auch die Folter von Kriegsgefangenen, begangen werden, steht aufgrund der allgemein zugänglichen täglichen Berichterstattung in Rundfunk, Fernsehen und Printmedien sowie der aktuellen Erkenntnismittel zur ausreichenden Überzeugung des Gerichts fest (ebenso: VG Freiburg, Urteil vom 16.12.2016 - A 1 K 3898/16 -; VG Osnabrück, Urteil vom 5.12.2016 - 7 A 35/16 -; VG Oldenburg, Urteil vom 18.11.2016 - 2 A 5162/16 -; VG Stade, Urteil vom 2.11.2016 - 10 A 2183/16 -; VG Magdeburg, Urteil vom 12.10.2016 - 9 A 175/16 -; VG Ansbach, Urteil vom 19.10.2016 - AN 9 K 16.30474 -, zitiert jeweils nach juris). So führt die Botschaft Beirut in ihrer Auskunft vom 03. Februar 2016 unter anderem aus, dass seit 2012 tausende Fassbomben von der syrischen Armee über Oppositionsgebieten eingesetzt und dabei Opfer unter der Zivilbevölkerung zumindest billigend in Kauf genommen würden bzw. gerade auch Ziel dieser Angriffe (Beispiel: zahlreiche dokumentierte Angriffe auf Märkte, auf Schulen und Krankenhäuser) seien (vgl. Auskunft der Deutschen Botschaft Beirut an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 03. Februar 2016). Auch der UNHCR klassifiziert das Verhalten der Kriegsparteien in Syrien als „aktuellen Beweis für die Rohheit von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die nach Gerechtigkeit, Verantwortung und Frieden verlangen” (vgl. UNHCR, „Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen“, 4. aktualisierte Fassung, November 2015, Seite 9).

Dabei bedarf es vorliegend keiner Entscheidung darüber, ob Verfolgungsgrund im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG in dem Fall des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG stets die Kriegsdienstverweigerung als Ausdruck einer politischen Überzeugung ist, und Bestrafungen solcher Verweigerungs- und Desertionshandlungen tendenziell immer auch die Merkmale der Religion und/oder politischen Überzeugung tangieren (so etwa VG Stade, Urteil vom 2.11.2016 - 10 A 2183/16 -, juris Rn. 39; Treiber in: GK-AufenthG, Stand: 86. Lfg., Dezember 2016, § 60 Rn. 167 ff.; vgl. auch UNHCR, Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft gemäß dem Abkommen von 1951 und dem Protokoll von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, Genf, September 1979, Ziffer 170, abrufbar unter http://www.unhcr.de/fileadmin/user_upload/ dokumente/03_profil_begriffe/fluechtlinge/Handbuch.pdf) oder ob es zusätzlich einer Prüfung bedarf, ob die Verfolgung wegen Militärdienstverweigerung im Einzelfall an Verfolgungsgründe anknüpft (so etwa Marx, Handbuch zum Flüchtlingsschutz, 2. Aufl., 2012, Kapitel 4 Rn. 149). Denn es besteht aufgrund der oben dargestellten Erkenntnislage und den glaubhaften Angaben des Klägers, dass er den Militärdienst im Falle einer Rückkehr verweigern werde, die reale Möglichkeit („real risk“), dass der syrische Staat den Kläger aufgrund einer derartigen aktiven Weigerung (zusätzlich zu der vorherigen illegalen Ausreise im wehrpflichtigen Reservistenalter) als (potentiellen) politischen Gegner des syrischen Regimes ansieht, womit er einer erhöhten Gefahr der Bestrafung, Inhaftierung, Folter und ggf. auch des „Verschwindenlassens“ ausgesetzt ist.

Unabhängig von der Qualifizierung als Verfolgung nach § 3 Abs. 1 AsylG, § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG sind etwaige an die Wehrdienstentziehung anknüpfende Maßnahmen aufgrund der derzeitigen politischen Lage in Syrien generell nicht allein als asylrechtlich neutral zu bewerten und dienen nicht lediglich der Sicherstellung der Wehrpflicht. Zwar begründet allein die Bestrafung wegen der Entziehung vom Wehrdienst nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts grundsätzlich keine Asylerheblichkeit (vgl. BVerfG, Urteil vom 11.12.1985 - 2 BvR 361/83, 2 BvR 449/83 -; BVerwG, Urteil vom 31.03.1981 - 9 C 6/80 -, zitiert jeweils nach juris). Dennoch kann auch einer generellen Maßnahme oder Regelung wie gerade der Verpflichtung zum Waffendienst eine (nicht offen zutage tretende) politische Verfolgungstendenz innewohnen, etwa dann, wenn zugleich eine politische Disziplinierung und Einschüchterung von politischen Gegnern in den eigenen Reihen, eine Umerziehung von Andersdenkenden oder eine Zwangsassimilation von Minderheiten bezweckt wird. Anhaltspunkte für derartige Intentionen können sich aus der besonderen Ausformung der die Wehrpflicht begründenden Regelungen, aus ihrer praktischen Handhabung, aber auch aus ihrer Funktion im allgemeinen politischen System der Organisation ergeben. Der totalitäre Charakter einer Organisation oder einer Staatsform, die Radikalität ihrer Ziele, der Rang, den sie dem Einzelnen und seinen Belangen einräumen, sowie das Maß an geforderter und durchgesetzter Unterwerfung sind wichtige Gradmesser für Verfolgungstendenzen in Regelungen, denen eine gezielte Diskriminierung nicht ohne weiteres anzusehen ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 31.03.1981 - 9 C 6/80 -, juris). Angesichts der besonderen politischen Lage in Syrien, namentlich dass das Land seit Jahren zwischen den verschiedenen Konfliktparteien tief zerrissen ist, ist davon auszugehen, dass der syrische Staat mit der Einziehung zum Wehrdienst zugleich eine politische Disziplinierung und Einschüchterung von politischen Gegnern in den eigenen Reihen bezweckt und dass Verweigerer seitens des syrischen Regimes als Verräter an der gemeinsamen Sache angesehen und deswegen menschenrechtswidrig behandelt werden (ebenso: VG Sigmaringen, Urteil vom 23.11.2016 - A 5 K 1372/16 -; VG Oldenburg, Urteil vom 18.11.2016 - 2 A 5162/16 -; VG Magdeburg, Urteil vom 12.10.2016 - 9 A 175/16 -, zitiert jeweils nach juris).

2. Gefahrerhöhend ist weiter zu berücksichtigen, dass der Kläger aus Homs stammt. In Homs hat der Aufstand gegen das syrische Regime seinen Anfang genommen. Mit Beginn des „Arabischen Frühlings“ kam es insbesondere in Homs zu regelmäßigen Massendemonstrationen gegen die syrische Regierung. Die Stadt gilt als „Hauptstadt der Revolution" und war einer jahrelangen Belagerung durch Regierungskräfte ausgesetzt, die erst in jüngster Zeit beendet zu sein scheint (vgl. u.a. die Presseberichterstattungen vom 09. Dezember 2015: https://www.welt.de/politik/ausland/article149 777280/Ganz-langsam-kehrt-das-Leben-nach-Homs-zurueck.html). Da, wie bereits ausgeführt, eine Besonderheit des Konflikts gerade darin besteht, dass die verschiedenen Konfliktparteien oftmals größeren Personengruppen eine politische Meinung unterstellen und diese Annahme oft nur auf wenig mehr als der physischen Anwesenheit dieser Person in einem bestimmten Gebiet oder ihrer Abstammung aus diesem Gebiet basiert, besteht die beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass die Herkunft des Klägers aus der Region Homs in den Augen der syrischen Sicherheitskräfte als oppositionelle Einstellung gewertet wird und der Kläger daran anknüpfend (menschenrechtswidrig) behandelt wird.

3. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass der Kläger illegal aus Syrien ausgereist ist, sich länger im westlichen Ausland aufgehalten und hier einen Asylantrag gestellt hat. Die illegale Ausreise wirkt sich vorliegend schon deshalb risikoerhöhend aus, weil sie den Kläger - und damit die von ihm im Übrigen verwirklichten Risikomerkmale - in den Fokus der Sicherheitsbehörden und Geheimdienste bei der Prüfung rückt, ob der Betroffene in einer Verbindung zu Regimegegnern steht, dies umso mehr vor dem Hintergrund, als das syrische Regime die gegnerischen Bürgerkriegsparteien als vom Ausland gesteuert ansieht (vgl. auch VG Stade, Urteil vom 2.11.2016 - 10 A 2183/16 -, juris).

Aufgrund einer umfassenden Gesamtwürdigung aller eine Verfolgungsgefahr begründenden Umstände, namentlich dass der Kläger illegal aus Syrien ausgereist ist, sich länger im westlichen Ausland aufgehalten und hier einen Asylantrag gestellt hat, seine Entziehung vom Reservistendienst sowie seine Herkunft aus Homs, war dem Kläger im Ergebnis die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

Eine innerstaatliche Fluchtalternative im Sinne des § 3e AsylG steht nicht zur Verfügung. Nach dieser Vorschrift wird die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn der Ausländer in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d hat (1.) und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (2.). Dies ist nicht der Fall. Das Gericht folgt insoweit der entsprechenden Annahme der Beklagten in dem angefochtenen Bescheid bzgl. des zuerkannten subsidiären Schutzes. Gemäß § 4 Abs. 3 AsylG kann auch subsidiärer Schutz nicht zuerkannt werden, wenn interner Schutz gem. § 3e AsylG gegeben ist. Anhaltspunkte dafür, dass interner Schutz zwar nicht hinsichtlich der Gefährdungen nach § 4 AsylG, jedoch für Gefährdungen nach § 3 AsylG vorliegt, sind nicht erkennbar (ebenso VG Stade, Urteil vom 2.11.2016 - 10 A 2183/16 -; VG Oldenburg, Urteil vom 4.1.2017 - 2 A 5738/16 -, zitiert jeweils nach juris; ebenso das österreichische Bundesverwaltungsgericht in seiner Entscheidung vom 13. März 2015, Az. W227 2104997-1, abrufbar unter www.ris.bka.gv.at). Es sind derzeit auch weder Zonen bekannt, in welchen eine sichere Zuflucht ohne Risiko von Luftangriffen besteht (vgl. auch Auskunft der Deutschen Botschaft Beirut an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 03. Februar 2016) noch Zonen, in denen die Möglichkeit besteht, sich dem Militärdienst zu entziehen (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Düsseldorf vom 02. Januar 2017 - Antwort auf das Schreiben vom 23. Juni 2016). Aber selbst wenn man annehmen würde, dass es dennoch Gebiete innerhalb Syriens gibt, die als zumutbare Fluchtalternative dienen könnten, lässt sich jedenfalls nicht feststellen, dass der Kläger ein solches Gebiet in zumutbarer Weise und sicher erreichen könnte. Wie bereits ausgeführt, sind die vom syrischen Regime errichteten Checkpoints derart verbreitet, dass mehr dafür spricht, dass der Kläger an einem solchen Checkpoint aufgegriffen wird, als dagegen, wenn er nicht schon beim Versuch der Einreise nach Syrien erfasst und ergriffen wird (vgl. auch VG Freiburg, Urteil vom 16.12.2016 - A 1 K 3898/16 -, juris).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 83 b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.