Verwaltungsgericht Braunschweig
Urt. v. 05.06.2023, Az.: 2 A 222/19

exilpolitische Aktivität; Gewissensfreiheit; Politische Verfolgung; Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft für exilpolitisch aktiven Iraner aufgrund zu erwartender Protestbeteiligung bei Rückkehr in den Iran

Bibliographie

Gericht
VG Braunschweig
Datum
05.06.2023
Aktenzeichen
2 A 222/19
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2023, 21892
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGBRAUN:2023:0605.2A222.19.00

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Das Kriterium der exponierten Stellung bei exilpolitischen Aktivitäten kann nicht abschließend über die Frage drohender staatlicher Verfolgung regimekritischer Iraner entscheiden, weil es prognostische Elemente weitgehend außer Acht lässt.

  2. 2.

    Aus aktuellen Erkenntnismitteln ergibt sich, dass die iranischen Sicherheitsbehörden spätestens seit dem Ausbruch der Proteste im Iran im September 2022 einen weiten Maßstab bei der Beobachtung und Verfolgung potenzieller Regimegegner anlegen.

  3. 3.

    Für politische Aktivisten aus dem Iran sind dieselben Maßstäbe anzulegen wie für christliche Konvertiten.

  4. 4.

    Maßgeblich ist demnach, ob sich der jeweilige Asylantragsteller in Deutschland ernsthaft, offen und kontinuierlich regimekritisch betätigt und ob diese Betätigung die Annahme rechtfertigt, dass der freie Ausdruck seiner regimekritischen Haltung für seine Identität so wichtig ist, dass er auch bei einer Rückkehr in den Iran den Drang verspüren würde, sich aktiv an regimekritischen Protesten zu beteiligen.

  5. 5.

    Wenn man davon ausgehen muss, dass der Asylantragsteller sich den Protesten offen anschließen würde, so ergibt sich daraus insoweit unabhängig von den in der Vergangenheit liegenden exilpolitischen Aktivitäten die ernsthafte Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung durch die iranischen Sicherheitsbehörden.

Tatbestand

Der Kläger ist iranischer Staatsangehöriger, persischer Volkszugehörigkeit und nach eigenen Angaben christlichen Glaubens aus Teheran.

Im Iran lebte der Kläger mit seiner Mutter zusammen und arbeitete nach dem Abschluss seiner Schulausbildung mit dem Abitur als Taxifahrer. Er verließ den Iran am XX.XX.2018 und reiste auf dem Landweg u. a. über die Türkei am 13.08. oder 14.08.2018 nach Deutschland ein. Am 27.08.2018 stellte er einen förmlichen Asylantrag bei der Beklagten. Im Iran leben noch seine drei Brüder und seine Großfamilie.

Die persönliche Anhörung des Klägers erfolgte am 06.09.2018. Er berichtete, er habe im Jahr 2006 eine Eigentumswohnung in G-Stadt erworben und sei mit seiner Mutter von Teheran dorthin umgezogen. Die wirtschaftlichen Verhältnisse, in denen sie gelebt hätten, seien durchschnittlich gewesen. Am 22.12.2009, während des heiligen Monats Muharram, sei er mit seiner Mutter in Teheran bei seinem Bruder zu Besuch gewesen, um dort die traditionellen Rituale zu begehen. An dem Tag habe es in der Stadt aber Demonstrationen gegeben, nachdem Ahmadinejad am 12.06.2009 die Wahl gewonnen hatte und seine politischen Konkurrenten inhaftiert worden waren. Er sei zu Fuß auf dem Weg zum Haus seines Bruders gewesen. Kurz bevor er dort angekommen sei, habe er mitbekommen, wie zwei junge Leute ein Mädchen gewaltsam bedrängten und mit sich zu nehmen versuchten. Er habe sie für Sittenwächter oder Polizisten in Zivil gehalten.

Das Mädchen habe ihn um Hilfe angefleht und, obwohl er selbst Angst gehabt habe, habe er sich schließlich überwunden, die beiden jungen Männer zu bitten, das Mädchen in Ruhe zu lassen. Einer der Männer sei mit einem elektrischen Stock bewaffnet gewesen. Er habe ihm damit gedroht und ihn aufgefordert, sich nicht einzumischen. Als er insistiert habe, habe der Mann ihn mit dem elektrischen Stock geschlagen. Schließlich seien beide Männer auf ihn losgegangen und hätten sogar noch Unterstützung von anderen bekommen. Sie hätten ihm ins Gesicht geschlagen, er sei zu Boden gefallen und sie hätten ihn weiter geschlagen. Er habe stark geblutet, als sie ihn schließlich in einen Omnibus verfrachteten, in dem schon zehn andere Personen eingesperrt gewesen seien. Dort sei er ohnmächtig geworden.

Als er wieder zu sich gekommen sei, sei er auf einer Liege festgeschnallt gewesen. Weiß gekleidete Personen hätten sich um ihn gekümmert, aber kein Wort zu ihm gesagt und auf seine Fragen nicht geantwortet. Als er sich aufgeregt habe, hätten sie ihm eine Spritze gegeben und er sei wieder bewusstlos geworden. Am frühen Morgen des nächsten Tages habe er sich auf einer Straße wiedergefunden. Er habe Passanten angesprochen, die seine Mutter angerufen hätten. Sein Bruder und sein Neffe seien dann gekommen, um ihn abzuholen. Er sei voller Blut und blauer Flecken gewesen, doch sie hätten sich nicht getraut, ein staatliches Krankenhaus aufzusuchen. Er sei sodann in einem Privatkrankenhaus operiert worden, wo ihm wegen seiner Gesichtsverletzung eine Platine unter dem Auge eingesetzt worden sei.

Er habe zwei Monate lang Bettruhe wahren müssen, um sich zu erholen, und habe in der Zeit die Sendungen politischer Oppositioneller, die von Amerika aus sendeten, und religiöse Kanäle im Fernsehen verfolgt. In dieser Zeit habe sich seine Sichtweise auf Religion und Politik vollkommen gewandelt. Er habe begonnen, verbotene, regierungskritische, im Iran verbotene Bücher von Reza Fazili, Bahram Mushri und Ahmad Kasrawi zu lesen. Dann habe er auch begonnen, die verbotenen Bücher in Form von PDF-Dateien und DVDs an die Menschen zu verteilen. Seine Familie habe ihn nunmehr für einen Ungläubigen gehalten. Vor einigen Jahren sei er dann auch auf Telegram und Instagram aktiv geworden. Er habe bei Telegram eine Gruppe gegründet, welche 160 bis 170 Mitglieder gehabt habe, welche er über aktuelle Proteste informiert habe.

Im April oder Mai 2018 habe er eine Aufforderung des Taxiunternehmens, für das er arbeitete, erhalten, dass er sich an der Taxistelle melden solle. Bei dem Termin habe man ihn befragt, ob er schon einmal mit der Polizei oder dem Geheimdienst in Konflikt geraten sei. Es habe Beschwerden gegen ihn gegeben, weil er im Taxi politische Diskussionen führe und CDs an seine Kundschaft verteile. Man habe ihm dann seine Taxilizenz entzogen, offiziell unter dem Vorwand, dass er als lediger Mann nicht als Taxifahrer tätig sein dürfe. Er sei danach jedoch weiter als Taxifahrer tätig gewesen, ohne Lizenz über ein Internetprogramm namens Esnap. Am 16.07.2018 sei ein Freund zu ihm ins Auto gestiegen. Der Freund wohne im Haus gegenüber und arbeite auch als Taxifahrer. Er habe ihn gewarnt, dass er nicht nach Hause fahren solle, denn dort seien Beamte. Die Beamten hätten auch seine Bücher und seinen Computer mitgenommen. Seiner Mutter gehe es sehr schlecht.

Er vermute, dass einer seiner Nachbarn, ein religiöser Mann, dessen Sohn für den Geheimdienst arbeitete, ihn verraten habe, weil er die CDs verteilt habe. Er habe dann die SIM-Karte seines Handys entfernt und sei nach Teheran zu einem Freund gefahren. Einen Tag später habe ihm sein Bruder seinen Pass und den Schlüssel zu seiner Ferienwohnung im Norden des Iran gebracht. Er sei zwei Tage in der Ferienwohnung geblieben und dann mit dem Linienbus von Teheran nach Ankara in der Türkei gefahren. Die Schleuser, die ihn bis nach Deutschland gebracht hätten, habe er mit seinen Ersparnissen bezahlt.

Zum Ende der Anhörung gab der Kläger an, er habe die Wahrheit erzählt und nicht, wie so viele andere, eine Konversion behauptet. Seine 82-jährige Mutter zurücklassen zu müssen sei ihm sehr schwergefallen. Bei einer Rückkehr in den Iran befürchte er, wegen der Bücher, die er besessen habe, verhaftet und verurteilt zu werden.

Im Nachgang der Anhörung legte der Kläger der Beklagten eine Taufurkunde der H-Kirche in I-Stadt vom 07.09.2018 vor.

Mit Bescheid vom 14.08.2019 lehnte die Beklagte die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Ziffer 1), die Anerkennung als Asylberechtigter (Ziffer 2) sowie die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus (Ziffer 3) ab, stellte das Fehlen von Abschiebungsverboten fest (Ziffer 4), drohte die Abschiebung in den Iran an (Ziffer 5) und befristete das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate (Ziffer 6). Sie begründete die Ablehnung im Wesentlichen damit, dass der Kläger seine Verfolgungsgeschichte nicht glaubhaft gemacht habe. Es sei nicht nachvollziehbar, warum er, obwohl er in der Vergangenheit bereits in Konflikt mit staatlichen Stellen geraten war, das Risiko eingegangen sei, CDs mit regierungskritischen Inhalten an Fahrgäste in seinem Taxi zu verteilen, deren Vertrauenswürdigkeit er nach einer typischerweise nur sehr kurzen Bekanntschaft nicht zuverlässig einschätzen konnte. Es sei widersprüchlich, dass der Kläger zunächst angab, es sei sehr schwierig, im Iran an regierungskritische Bücher zu kommen, dann aber erklärte, er habe die Bücher schlicht aus dem Internet heruntergeladen. Zu dem Zeitraum, der zwischen seiner Befragung im Taxiunternehmen und der Durchsuchung seiner Wohnung gelegen habe, habe er wechselnde und widersprechende Angaben gemacht. Ferner sei nicht ersichtlich, warum der Freund des Klägers zwei Stunden gewartet haben solle, um ihn persönlich wegen der Durchsuchung seiner Wohnung zu warnen, anstatt ihn einfach anzurufen. Was die Taufe des Klägers angehe, so habe er nicht glaubhaft dargelegt, dass dieser Glaubensübertritt auf Grundlage einer religiösen Überzeugung erfolgte. In seiner persönlichen Anhörung habe der Kläger ein Interesse am christlichen Glauben noch nicht einmal angedeutet.

Der Kläger hat am 23.08.2019 Klage erhoben.

Er legte ein pfarramtliches Zeugnis der J-Kirche C-Stadt vom 22.08.2019 vor, demzufolge er seit Herbst 2018 ein aktives Mitglied der Gemeinde ist und regelmäßig die Gottesdienste und die Bibelstunde besucht. In einem weiteren pfarramtlichen Zeugnis vom 02.11.2021 wird dies noch einmal bestätigt. Der Kläger legte ferner zwei Bescheinigungen des Vorsitzenden der Organisation Iranischer Parlamentarischen Monarchie (O.I.P.M.) vom 30.08.2021 und vom 05.06.2023 vor, in denen ausgeführt wird, dass der Kläger seit dem Jahr 2021 aktives Mitglied der Organisation ist.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, hilfsweise den subsidiären Schutzstatus, weiter hilfsweise, festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG im Hinblick auf den Iran vorliegen, und den Bescheid der Beklagten vom 14.08.2019 aufzuheben, sofern er dem entgegensteht.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie bezieht sich zur Begründung auf den angefochtenen Bescheid.

In der mündlichen Verhandlung berichtete der Kläger, er sei auch in Deutschland exilpolitisch gegen das iranische Regime aktiv. Er strebe die Einführung einer konstitutionellen Monarchie im Iran an, in der die Menschenrechte der Bürger und die Gleichberechtigung der Frau gewahrt würden und in der Staat und Kirche strikt getrennt seien. Seine Mutter sei nach seiner Ausreise aus dem Iran an Corona verstorben.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte und die elektronische Asylakte der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die Einzelrichterin (§ 76 Abs. 1 AsylG) konnte über die Klage verhandeln und entscheiden, ohne dass die Beklagte an der mündlichen Verhandlung vom 05.06.2023 teilgenommen hat, weil sie ordnungsgemäß geladen und in der Ladung auf diese Folge hingewiesen worden ist (§ 102 Abs. 2 VwGO).

Die zulässige Klage ist begründet. Der Ablehnungsbescheid des Bundesamtes vom 14.08.2019 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).

Dem Kläger steht im hier maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (vgl. § 77 Abs. 1 AsylG) ein Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu.

Ein Ausländer ist Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.

Die Furcht vor Verfolgung ist im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG begründet, wenn dem Ausländer die genannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d. h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ("real risk"), drohen (OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 29.10.2020 - 9 A 1980/17.A -, juris Rn. 32). Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit in diesem Sinne liegt vor, wenn sich die Rückkehr in den Heimatstaat aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen als unzumutbar erweist, weil bei Abwägung aller in Betracht kommenden Umstände die für eine bevorstehende Verfolgung streitenden Tatsachen ein größeres Gewicht besitzen als die dagegen sprechenden Gesichtspunkte (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23/12 -; Urteil vom 05.11.1991 - 9 C 118/90 -, juris).

Es obliegt dabei dem Schutzsuchenden, sein Verfolgungsschicksal zur Überzeugung des Gerichts glaubhaft darzulegen. Er muss daher die in seine Sphäre fallenden Ereignisse, insbesondere seine persönlichen Erlebnisse, in einer Art und Weise schildern, die geeignet ist, seinen geltend gemachten Anspruch lückenlos zu tragen. Dazu bedarf es der Schilderung eines in sich stimmigen Sachverhaltes, aus dem sich bei unterstellter Wahrheit ergibt, dass bei verständiger Würdigung seine Furcht vor Verfolgung begründet ist.

Nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU vom 13.12.2011 (Qualifikationsrichtlinie) ist die Tatsache, dass ein Geflüchteter bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von einer solchen Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass er erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Diese Regelung begünstigt den von ihr erfassten Personenkreis bei einer Vorschädigung durch eine Beweiserleichterung und begründet eine widerlegliche Vermutung, dass sich ein früherer Schadenseintritt bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen wird.

Die Einzelrichterin ist nach umfassender Befragung des Klägers in der mündlichen Verhandlung und aufgrund der von ihm vorgelegten Nachweise über seine regimekritischen Aktivitäten überzeugt davon, dass ihm bei einer Rückkehr in den Iran mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung bis hin zur Todesstrafe wegen seiner politischen Überzeugung droht.

Nach § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG ist unter dem Begriff der politischen Überzeugung insbesondere zu verstehen, dass der Ausländer in einer Angelegenheit, die die in § 3c genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob er auf Grund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist. Nach § 28 Abs. 1 Satz 1 AsylG wird ein Ausländer in der Regel nicht als Asylberechtigter anerkannt, wenn die Gefahr politischer Verfolgung auf Umständen beruht, die er nach Verlassen seines Herkunftslandes aus eigenem Entschluss geschaffen hat, es sei denn, dieser Entschluss entspricht einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung.

Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung eindringlich geschildert, dass er die derzeitige iranische Regierung sowie auch die Staatsform der islamischen Republik bereits ablehne, seit er im Jahr 2009 Opfer gewalttätiger Übergriffe durch Regierungskräfte geworden sei und sich daraufhin intensiv mit den Werken politischer Oppositioneller befasst habe. Er sei nunmehr überzeugt, dass es keine Verbindung zwischen Staat und Religion geben dürfe, denn der Islam sei mit der Freiheit der Bürger nicht vereinbar. Der Islam negiere Frauenrechte und die islamischen Gesetze seien hart und führten oft zur Tötung von Menschen. Er halte stattdessen die konstitutionelle Monarchie für die einzige geeignete Staatsform für den Iran. Der Iran sei über Tausende von Jahren eine Monarchie gewesen. Deswegen gehe davon aus, dass der Sohn des früheren Schahs als Regierungsoberhaupt auch heute noch in der Lage sei, die Iraner wieder zusammenzuführen. Er unterstütze auch andere iranische exilpolitische Gruppierungen, sofern diese nur versuchten, dem iranischen Regime zu schaden, doch mit religiös islamischen Menschen wie etwa den Mudschaheddin komme er nicht zurecht. Die Ausführungen des Klägers waren insofern stringent und nachvollziehbar. Die Einzelrichterin hat keine Zweifel daran, dass er mit großer Ernsthaftigkeit eine regime- und islamkritische Haltung vertritt, und dass diese seiner festen, bereits im Herkunftsland betätigten Überzeugung entspricht.

Der Kläger hat den Iran vorverfolgt verlassen. Die Einzelrichterin ist überzeugt davon, dass er bereits vor seiner Ausreise von Inhaftierung durch die iranischen Sicherheitsbehörden und damit von unverhältnismäßiger oder diskriminierender Strafverfolgung oder Bestrafung nach § 3a Abs. 2 Nr. 3 AsylG unmittelbar bedroht war. Dies beruhte darauf, dass die iranischen Sicherheitsbehörden Kenntnis davon erlangt hatten, dass er sich gegenüber einer Vielzahl von Personen regimekritisch geäußert und oppositionelle Schriften verbreitet hatte, mithin auf dem Verfolgungsgrund einer abweichenden politischen Überzeugung. Gegen Regimekritiker und Aktivisten wird im Iran unerbittlich vorgegangen und es kommt regelmäßig zu "ungeklärten" Todesfällen in Gefängnissen (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Iran, 30.11.2022, S. 5). Die Einzelrichterin hält die Schilderungen des Klägers dennoch nicht deshalb für unglaubhaft, weil dieser bei seinen Aktivitäten ein unnötiges Risiko eingegangen wäre. Zum einen dürfte politische Opposition im Iran kaum möglich sein, ohne ein ernsthaftes Risiko von Entdeckung und Verfolgung einzugehen. Zum anderen erläuterte der Kläger glaubhaft, er sei "zielstrebig, aber nicht verrückt". Er habe seine politischen Überzeugungen nicht wahllos mit den Menschen geteilt, die er in seinem Taxi transportiert habe, sondern nur mit solchen, die er regelmäßig oder mehrere Stunden lang gefahren habe und die er deshalb habe einschätzen können. Dass jemand dabei gewesen sei, der ihn habe aushorchen wollen, habe er zwar nicht ausschließen können und auch seine Mutter und sein Bruder hätten ihm die Gefahren vorgehalten. Doch davon habe er sich nicht einschüchtern lassen. Dass sein Freund ihn nach der Durchsuchung bei ihm zu Hause nicht telefonisch, sondern persönlich kontaktiert habe, erklärte der Kläger plausibel damit, dass er ihn zuvor telefonisch nicht erreicht habe, um ihn zu warnen. Der Kläger hatte ein enges Verhältnis zu seiner Mutter und quälte sich noch in der mündlichen Verhandlung sichtlich damit, dass er sie im Iran zurücklassen musste und sie nicht einmal besuchen konnte, als sie schließlich an Corona erkrankte und verstarb. Auch dies ist ein weiterer Anhaltspunkt dafür, dass der Kläger den Iran nicht verlassen hätte, wenn er sich nicht in ernsthafter Gefahr gesehen hätte.

Es fehlt an stichhaltigen Gründen, welche dagegensprechen würden, dass der Kläger bei einer Rückkehr in den Iran erneut von Verfolgung bedroht sein wird. Vielmehr hat sich das Vorgehen der iranischen Sicherheitsbehörden gegen politische Gegner nach seiner Ausreise und insbesondere seit dem Beginn der Massenproteste im Iran unter der Parole "Frau, Leben, Freiheit" (in kurdischer Sprache: "Jin, Jîyan, Azadî") im Jahr 2022 noch weiter verschärft.

Unabhängig von der Vorverfolgung des Klägers ist die Einzelrichterin im Übrigen überzeugt davon, dass er anknüpfend an seine exilpolitische Betätigung in Deutschland auch im Iran politisch aktiv bleiben würde und deswegen mit Inhaftierung und Misshandlung durch die Sicherheitsbehörden zu rechnen hätte.

Der Kläger schilderte in der mündlichen Verhandlung, dass er mit großer Regelmäßigkeit an Demonstrationen gegen das iranische Regime teilnehme. Er spende den Veranstaltern Geld und organisiere Busse oder Zugverbindungen, um mit anderen Iranern aus C-Stadt auch zu Demonstrationen in weiter entfernten Städten wie München, Hamburg oder Köln reisen zu können. Bei Demonstrationen in C-Stadt beteilige er sich auch aktiv an der Organisation, etwa bei der Auswahl des Veranstaltungsorts oder beim Entwurf von Plakaten. Seine Teilnahme an den Demonstrationen sei auch schon in der Presse dokumentiert worden. Tatsächlich findet sich ein Foto des Antragstellers online in einem Bericht der Times of Israel vom XX.XX.2021 mit der Unterschrift "Demonstranten ... gegen das iranische Regime..." (übersetzt mit DeepL-Translator) (https://www.timesofisrael.com/XXX/). Ein weiteres Foto, auf dem der Kläger auf einer Demonstration Fotos von zwei bedrohten Aktivisten aus dem Iran in der Hand hält, sind enthalten in einem Artikel der Online-Ausgabe der Times vom XX.XX.2020 (https://www.thetimes.co.uk/XXX).

Darüber hinaus beschrieb der Kläger umfassend seine regime- und islamkritischen Aktivitäten auf verschiedenen Internetplattformen wie Instagram, Facebook, Twitter und Clubhouse sowie in Chatgruppen bei Telegram. Er gab an, auf Instagram über 15.000 Follower zu haben und zeigte die Seite in der mündlichen Verhandlung auf seinem Smartphone vor. Möglicherweise handelte es sich dabei um das nach Angaben des Klägers mittlerweile gesperrte Instagram-Profil, zumindest war es in der Google-Recherche nicht mehr auffindbar. Der Kläger ergänzte, dass er auf Instagram auch bereits massiven Anfeindungen durch ihm unbekannte Personen ausgesetzt gewesen sei und legte Ausdrucke entsprechender Chatprotokolle vor, in welchen Personen Beleidigungen und Bedrohungen äußern. Auf Twitter ist der Kläger jedenfalls nachweislich seit November 2020 mit mittlerweile 156 Followern unter seinem Klarnamen aktiv und teilt und verbreitet dort seither ersichtlich regimekritische Inhalte (https://twitter.com/XXX, aufgerufen am 05.06.2023). Zugleich räumte der Kläger ein, das Auftreten nach außen als Organisator von Demonstrationen und die Anmeldung bei der Polizei überlasse er lieber Iranern, deren Deutschkenntnisse besser seien als seine eigenen.

Weil der Kläger somit in Deutschland, abgesehen von seinen umfangreichen Online-Aktivitäten, vorwiegend entweder als bloßer Teilnehmer von regimekritischen Demonstrationen in Erscheinung getreten ist oder organisatorische Tätigkeiten im Hintergrund ausgeführt hat, ist fraglich, ob man davon sprechen kann, dass er "in exponierter Weise" oder "in herausgehobener Stellung" für eine regimefeindliche Organisation auftritt, wie es die herrschende Rechtsprechung voraussetzt, um einem iranischen Antragsteller Flüchtlingsschutz wegen exilpolitischer Betätigung zuzuerkennen (so etwa VG Aachen, Urteil vom 05.12.2022 - 10 K 2406/20.A -, juris Rn. 50; VG Düsseldorf, Urteil vom 27.04.2023 - 9 K 3234/21.A -, juris; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 22.08.2019 - 6 A 300/19.A -, juris Rn. 14; Nds. OVG, Urteil vom 20.01.2009 - 4 LA 216/07, 5147974 -, juris). Richtigerweise kann es darauf aber auch nicht ankommen. Der Maßstab der "exponierten Stellung" ist bedenklich vage und wird von aktuellen Erkenntnismitteln nicht bestätigt. Er steht ferner im Widerspruch zu den in der Rechtsprechung anerkannten Voraussetzungen der Zuerkennung des Flüchtlingsstatus für zum Christentum konvertierte Iraner oder von "Verwestlichung" betroffene Iranerinnen. Soweit die Anforderung der "exponierten Stellung" vor dem Hintergrund der aktuellen politischen Entwicklungen im Iran überhaupt beibehalten werden sollte, kann sie jedenfalls nicht abschließend über die Frage drohender Verfolgung aufgrund politischer Aktivitäten entscheiden, weil sie prognostische Elemente weitgehend außer Acht lässt.

Das Kriterium der exponierten Stellung ist deswegen zu ungenau, weil sich kaum feststellen lässt, was es aus Sicht der iranischen Sicherheitsbehörden braucht, damit sich eine politisch aktive Person "aus der Masse der mit dem iranischen Regime Unzufriedenen heraushebt". So führt auch das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen aus, es ließe "sich nicht allgemein beantworten, welche Anforderungen dabei in tatsächlicher Hinsicht an eine exilpolitische Tätigkeit gestellt werden müssen, damit sie in diesem Sinne als exponiert anzusehen ist" (OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 22.08.2019 - 6 A 300/19.A -, juris Rn. 14). Ein Iraner, welcher sich in der deutschen Gemeinde, in der er wohnt, regelmäßig und aktiv an politischen Aktionen beteiligt, wird in der dortigen iranischen Community voraussichtlich gut bekannt und damit "exponiert" sein. Das heißt aber noch nicht zwingend, dass sein Engagement auch von den iranischen Sicherheitsbehörden wahrgenommen wird und dass diese ihn aufgrund dessen als ernsthaften und gefährlichen Regimegegner einstufen, solange er im Iran noch keine vergleichbaren Aktivitäten entfaltet hat. Auch wenn Gerichte den Maßstab durch Kriterien wie öffentliche Aktivitäten, namentliche Kennzeichnung von Publikationen, das Auftreten als Organisator von Demonstrationen, Kundgebungen und Veranstaltungen, Dauer, Kontinuität und Intensität der Aktivitäten zu konkretisieren versuchen (so VG Ansbach, Urteil vom 20.04.2023 - AN 10 K 19.30283 -, juris Rn. 66; VG Würzburg, Urteil vom 31.01.2022 - W 8 K 21.31264 -, juris Rn. 48), bleibt es bei Anwendung dieses Maßstabs dem entscheidenden Gericht überlassen, weitgehend ungesicherte Spekulationen über die mutmaßliche Wahrnehmung und Bewertung dieser Aktivitäten durch die iranischen Sicherheitskräfte anzustellen.

Außerdem lässt sich aktuellen Erkenntnismitteln entnehmen, dass die iranischen Sicherheitsbehörden spätestens seit dem Ausbruch der Proteste im Iran im Jahr 2022 einen weiteren Maßstab bei der Beobachtung und Verfolgung potenzieller Regimegegner anlegen (ebenso VG Würzburg, Urteil vom 20.03.2023 - W 8 K 22.30683 -, juris Rn. 28). Das Vorgehen der Sicherheitsbehörden und der Justiz im Iran ist oftmals willkürlich und gerade der prominente Fall der Kurdin Jina Mahsa Amini zeigt, dass mitunter schon das nicht vorschriftsmäßige Tragen eines Kopftuches dazu führen kann, von der iranischen Sittenpolizei tödlich misshandelt zu werden (t-online, 15.03.2023, https://www.t-online.de/nachrichten/ausland/id_100144366/iran-tod-von-jina-mahsa-amini-grausame-details-ueber-ihre-letzten-stunden.html). Dementsprechend geben sowohl das Auswärtige Amt als auch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreichs in ihren aktuellen Berichten die Einschätzung ab, dass Iraner, welche im Ausland leben und sich dort öffentlich regimekritisch äußern, von Repressionen bedroht sind - ohne dabei eine einschränkende Aussage zur notwendigen Intensität der politischen Betätigung zu treffen (AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Iran, 30.11.2022, S. 19; BFA, Kurzinformation der Staatendokumentation Iran, Proteste, exilpolitische Tätigkeiten und Vorgehen der iranischen Behörden, 23.02.2023, S. 3). Auch das Immigration and Refugee Board of Canada (IRB) vertritt die Auffassung, dass die iranischen Sicherheitsbehörden eine weit gefasste Definition der Personen, die eine Bedrohung für den Iran darstellen, anwenden und dass iranische Geheimdienste eine breite Palette von "Exil-Oppositionellen" ins Visier genommen haben, darunter etwa Monarchisten und kurdische Separatistenorganisationen (Iran: Monitoring of Iranian citizens outside of Iran, including political opponents and Christians, by Iranian authorities, 02.03.2023, S. 2). Nach Angaben der EU-Geheimdienste sind Vertreter des iranischen Geheimdienstministeriums und der al-Quds-Brigaden in Europa präsent und halten die iranische Diaspora unter genauer Beobachtung. Laut der NGO MENA-Watch interessieren sich die iranischen Staatsorgane für das gesamte Spektrum der Oppositionsgruppen in Deutschland (MENA - MENA Studies, 04.02.2023, https://mena-studies.org/iranians-in-europe-intimidation-and-threats-from-spies-and-agents-of-the-mullahs-regime-in-tehran/). Demnach erscheint es auch ungerechtfertigt, politisches Engagement nur dann als asylrechtlich relevant zu betrachten, wenn der Betroffene für eine regimefeindliche Organisation auftritt. Zweifellos ist es im Zeitalter des Internets auch möglich, größere Personenkreise zu erreichen und deren politische Meinung zu beeinflussen, ohne dabei in eine feste Organisationsstruktur eingebunden zu sein und als Vertreter einer bestimmten politischen Gruppierung aufzutreten.

Nichtsdestotrotz kann nicht davon ausgegangen werden, dass die iranischen Sicherheitsbehörden über ausreichende Kapazitäten verfügen, um sämtliche Menschen, die sich im Ausland - gleichgültig wie intensiv und in welcher Stellung - regimekritisch betätigt haben, zu identifizieren und bei Rückkehr in die islamische Republik zu befragen oder gar zu inhaftieren (ähnlich VG Aachen, Urteil vom 05.12.2022 - 10 K 2406/20.A -, juris Rn. 59). Nach Auskunft des Danish Immigration Service haben sich die Einreiseverfahren für Iraner, die nach dem Ausbruch der Proteste im September 2022 in den Iran einreisen, nicht geändert (DIS, Iran, Protests 2022-2023, 31.03.2023, S. 26). Nach den Maßstäben, welche in der Rechtsprechung auf zum Christentum konvertierte Iraner angewandt werden, ist aber auch nicht entscheidend, ob die Rückkehrer schon aufgrund ihrer Taufe oder ihrer sonstigen Glaubensausübung in Deutschland mit Verfolgung rechnen müssen. Maßgeblich ist stattdessen, ob die in Deutschland ausgelebte konkrete Glaubenspraxis für den Einzelnen ein zentrales Element seiner religiösen Identität und in diesem Sinne für ihn unverzichtbar ist, ob also die Intensität seiner Glaubensausübung in Deutschland die Annahme rechtfertigt, dass er sich im Iran ähnlich verhalten oder sich zumindest aufgrund einer empfundenen inneren Verpflichtung ähnlich verhalten wollen und nur aus Angst vor Verfolgung davon absehen würde (OVG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 02.03.2022 - 4 LB 785/20 OVG -, juris Rn. 34 ff.; Sächs. OVG, Urteil vom 30.11.2021 - 2 A 488/19.A -, juris Rn. 31 ff.). Dementsprechend verlangt die Rechtsprechung auch im Hinblick auf die "Verwestlichung" als Verfolgungsgrund für weibliche Antragstellerinnen, dass der westliche Lebensstil die betreffende Frau in ihrer Identität maßgeblich prägt, das heißt, auf einer ernsthaften und nachhaltigen inneren Überzeugung beruht, und eine Aufgabe dieser Lebenseinstellung nicht (mehr) möglich oder zumutbar ist (zu Afghanistan: Nds. OVG, Urteil vom 21.09.2015 - 9 LB 20/14 -, juris Rn. 38; zu Iran: VG Hamburg, Urteil vom 20.07.2021 - 10 A 5156/18 -, juris Rn. 34).

Gerade im Hinblick auf einen Staat, in dem Politik und Religion derart eng miteinander verwoben sind, ist es nicht nachvollziehbar, für politische Aktivisten strengere Maßstäbe anzulegen als für christliche Konvertiten. Dies ist auch deswegen widersprüchlich, weil einerseits ein Konvertit mit seiner Abkehr vom Islam in aller Regel auch die Ablehnung des konservativ islamisch geprägten iranischen Regimes zum Ausdruck bringt und andererseits politische Gegner des iranischen Regimes den Islam jedenfalls in der Art und Weise, wie das iranische Regime ihn für seine Zwecke missbraucht, regelmäßig ablehnen dürften. Dementsprechend werden christliche Konvertiten oftmals wegen "Verbrechen gegen die nationale Sicherheit", also als Oppositionelle und Regimegegner, verfolgt und verurteilt (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich (BFA), Länderinformation der Staatendokumentation Iran, 13.04.2023, S. 71).

Maßgeblich für die Frage, ob ein Iraner bei einer Rückkehr in den Iran mit Verfolgung wegen seiner politischen Überzeugung rechnen müsste, ist folglich, ob dieser sich in Deutschland ernsthaft, offen und kontinuierlich regimekritisch betätigt und ob diese Betätigung die Annahme rechtfertigt, dass der freie Ausdruck seiner regimekritischen Haltung für die Identität des Betroffenen so wichtig ist, dass er auch bei einer Rückkehr in den Iran den Drang verspüren würde, sich aktiv an regimekritischen Protesten zu beteiligen. Denn wenn man davon ausgehen muss, dass der jeweilige Kläger sich den Protesten offen anschließen würde, so ergibt sich daraus - insoweit unabhängig von den in der Vergangenheit liegenden exilpolitischen Aktivitäten - die ernsthafte Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung durch die iranischen Sicherheitsbehörden.

Laut Menschenrechtsaktivisten wurden im Zeitraum September 2022 bis Februar 2023 im Iran über 500 Demonstranten getötet und fast 20.000 inhaftiert. Festgenommene Protestteilnehmer berichteten von Folter während ihrer Inhaftierung. Bis zum 18.01.2023 wurden 18 Personen im Zusammenhang mit den Protesten zum Tod verurteilt und vier Todesurteile vollstreckt (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) Österreich, Kurzinformation der Staatendokumentation Iran, Proteste, exilpolitische Tätigkeiten und Vorgehen der iranischen Behörden, 23.02.2023, S. 1). Die im September 2022 ausgebrochenen Proteste halten wie auch die Repressionen der iranischen Regierung bis heute an. So erlitten während einer Demonstration am 04.06.23 in Abdanan (Provinz Ilam) mindestens zehn Personen mutmaßlich Schussverletzungen durch Sicherheitskräfte (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Briefing Notes, 05.06.2023, S. 6). Am 19.05.2023 ließ das Regime drei Männer hinrichten, die in den Tod von drei Mitgliedern der Sicherheitskräfte während der Proteste gegen die Regierung verwickelt gewesen sein sollen (Patrick Wintour, The Guardian, 19.05.2023, https://www.theguardian.com/world/2023/may/19/iran-executes-three-men-accused-of-killing-members-of-security-forces). Noch am selben Tag kam es als Reaktion auf die Hinrichtungen zu zehn erneuten Protesten gegen das Regime (Johanna Moore u. a., Institute for the Study of War (ISW), 19.05.2023, https://understandingwar.org/backgrounder/iran-update-may-19-2023). Auch die von iranischen Studenten organisierten Proteste gegen das Regime haben im Mai zugenommen (Johanna Moore u. a., Institute for the Study of War (ISW), 23.05.2023, https://understandingwar.org/backgrounder/iran-update-may-23-2023).

Die Einzelrichterin ist, zum einen aufgrund der nachgewiesenen exilpolitischen Aktivitäten des Klägers in Deutschland, zum einen aufgrund des persönlichen Eindrucks von dem Kläger in der mündlichen Verhandlung, überzeugt davon, dass der offene und aktive Einsatz für Freiheit und Menschenrechte für ihn Ausdruck einer ernsthaften Gewissensentscheidung und einer tiefgehenden politischen Überzeugung ist und ihn in seiner Identität prägt. Gerade zu einem Zeitpunkt, in dem sich sein Heimatland in einem politischen Umbruch befindet, besteht kein vernünftiger Zweifel daran, dass der Kläger sich auch bei einer Rückkehr in den Iran mit den verfolgten Regimegegnern solidarisch zeigen und sich an den anhaltenden Protesten beteiligen würde. Dafür spricht auch, dass der Kläger sich bereits vor seiner Ausreise, ungeachtet drohender Repressionen und des Unverständnisses seiner Angehörigen, über lange Jahre immer wieder regimekritisch geäußert und oppositionelle Schriften verbreitet hat, wenn auch nur online und in Vier-Augen-Gesprächen. An diese Betätigung hat er sodann nach seiner Einreise nach Deutschland angeknüpft und seine Aktivitäten, unter dem hiesigen Schutz der Meinungs- und Versammlungsfreiheit, ausgeweitet. Der Kläger hat sich in der Vergangenheit von Anfeindungen irantreuer Mitbürger und der Bedrohung durch die iranischen Sicherheitskräfte nicht einschüchtern lassen und vermittelte eine große Entschlossenheit, seine Aktivitäten auch in Zukunft nicht reduzieren zu wollen. Demnach kann dem Kläger nicht zugemutet werden, in den Iran zurückzukehren, wo er seine politischen Überzeugungen in dem Maße, wie es ihm sein Gewissen gebietet, nur noch unter Lebensgefahr ausleben könnte.

Obwohl der Kläger in seiner persönlichen Anhörung noch angab, kein Konvertit zu sein, hat er in den folgenden Jahren offenbar Anschluss an eine christliche Gemeinde und dort Zugang zum christlichen Glauben gefunden. Weil ihm im Iran aber bereits Verfolgung aufgrund seiner politischen Überzeugung droht, lässt die Einzelrichterin offen, ob dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft ergänzend auch wegen seiner Konversion zum christlichen Glauben zuzuerkennen ist.

Die Ziffer 1 des Bescheides ist aufzuheben, da sie der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft entgegensteht. Demnach besteht für eine weitere Entscheidung über die Zuerkennung subsidiären Schutzes oder die Feststellung von Abschiebungsverboten kein Anlass mehr. Der Bescheid war auch insoweit aufzuheben.