Verwaltungsgericht Lüneburg
Urt. v. 27.07.2021, Az.: 3 A 701/17

Bibliographie

Gericht
VG Lüneburg
Datum
27.07.2021
Aktenzeichen
3 A 701/17
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2021, 70908
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise die Zuerkennung des subsidiären Schutzes durch die Beklagte, hilfsweise die Feststellung von Abschiebungsverboten.

Der im Jahr D. geborene Kläger ist afghanischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Hazara an und ist moslemisch-schiitischer Religionszugehörigkeit. Der Kläger stammt nach seinen Angaben aus dem Dorf E. F. im Bezirk G. und der Provinz H. (I.).

Nach seinen Angaben hat der Kläger Afghanistan gemeinsam mit seiner zwischenzeitlich getrenntlebenden Ehefrau (3 A 18/20) am 1. September im Jahr 1395 des muslimischen Kalenders (November 2016) verlassen und ist am 18. Mai 2017 auf dem Landweg über die Länder Iran, Türkei, Griechenland und Italien und von dort über durch unbekannte Länder in die Bundesrepublik Deutschland eingereist. Der Kläger und seine Ex-Ehefrau stellten zunächst in Griechenland am 29. März 2017 einen Antrag auf internationalen Schutz und hier dann am 30. Mai 2017 einen Asylantrag. Die persönliche Anhörung des Klägers als auch seiner Ex-Ehefrau beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge fand am 13. Juni 2017 statt.

Der Kläger gab im Rahmen seiner Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge an, er habe bis in das Jahr 2016 „ganz normal gelebt“. Zunächst habe er bis zum Jahr 2014 eine Logistik-Firma betrieben, die mit ausländischen Firmen zusammengearbeitet habe. Nachdem die „Ausländer“ das Land Afghanistan im Jahr 2014 verlassen hätten, habe er den Betrieb schließen müssen. Im Anschluss habe er Kindern in seinem Heimatort Englisch und Computerkenntnisse beigebracht und Satellitenschüsseln für Fernsehprogramme auf Häusern installiert. Da es dort keinen Internetanschluss gegeben habe, sei der Satellitenempfang die einzige Kontaktmöglichkeit der Menschen zur Außenwelt gewesen. Als die Taliban den Bezirk Passaband im Jahre 2016 eingenommen hätten, sei er in die Stadt J. geflohen. Denn er habe befürchtet, dass seine Tätigkeit, Satellitenschüsseln auf Häusern zu installieren, gegen die islamischen Grundsätze der Taliban verstoße. Der Kläger stellt klar, dass er nicht sicher wisse, ob ihm eine Bestrafung drohe, weil es bei den Taliban kein formales Gesetz gebe, welches diese Tätigkeit unter Strafe stelle. Dazu komme, dass er mit seiner Ex-Ehefrau seinerzeit bereits ein sexuelles Verhältnis gehabt habe; allerdings mit ihr noch nicht verheiratet gewesen sei. Seine Ex-Ehefrau habe ihm, als er in J. geflohen war, eine Nachricht zukommen lassen, wonach ein „großer“ Mann der Taliban sie heiraten wolle. Der größte Anführer der Taliban in „unserem Gebiet“ heiße K. L. und M. N. war seine rechte Hand, der auch Spendengelder für die Taliban eingesammelt habe. Herr M. N. habe seine EX-Ehefrau heiraten wollen. Obwohl es für den Kläger sehr gefährlich gewesen sei, zu ihren Eltern zurückzugehen, um um die Hand ihrer Tochter anzuhalten, habe er dies getan. Daraufhin habe sein Schwiegervater gesagt, dass er seine Tochter bereits mit Herrn M. N. verlobt habe. Daraus folgten zwei Probleme:

Zum einen sei seine Ex-Ehefrau damals noch ein Teenager und Herr M. N. ein älterer Mann gewesen, der auch schon eine Ehefrau gehabt habe. Der Kläger habe diese Heirat nicht zulassen können, weil der Altersunterschied zu groß gewesen sei. Zum anderen sei seine Ex-Ehefrau keine Jungfrau mehr gewesen, weil sie schon ein sexuelles Verhältnis gehabt habe. Der Kläger habe es mit seinem Gewissen nicht vereinbaren können, sie einfach hängen zu lassen. Denn eine Frau, die geheiratet werde, und keine Jungfrau mehr sei, werde umgebracht. Er habe es auch erlebt, dass eine Frau die weniger als ein sexuelles Verhältnis gehabt hatte, durch Steinigung umgebracht worden sei. Neben dem Punkt, dass meine Ex-Ehefrau sich wegen des Verhältnisses zu mir in Lebensgefahr befunden habe, käme hinzu, dass ich dafür mitverantwortlich und deswegen auch mein Leben in Gefahr gewesen sei. Er habe versucht durch die Vermittlung von meinen älteren Verwandten, um die Hand seiner Ex-Ehefrau anzuhalten. Doch sein jetziger Schwiegervater habe dies weiterhin abgelehnt, wohl auch deshalb, weil Herr M. N. seinem Schwiegervater eine zweite Frau versprochen hatte, wenn er seine Tochter verheiraten würde. Meine Ex-Ehefrau habe in dieser Zeit Albträume gehabt und der Kläger sei zu dem Schluss gekommen, zu fliehen und alles zu verkaufen. Er führte weiter aus, dass die Regierung in unserer Stadt keine Macht habe, weil alles in der Hand der Taliban liege. Deshalb sei keine Hilfe gegen die Taliban zu erwarten gewesen, außerdem sei es so, dass Sex vor der Ehe in Afghanistan bestraft würde. Er habe gewusst, dass seine Ex-Ehefrau und er in Afghanistan nicht in Ruhe hätten leben können. Sein Schwiegervater hätte den Taliban gesagt, ich habe seine Tochter entführt und vergewaltigt, so dass die Taliban den Kläger verfolgte hätten. Auch hätte sein Schwiegervater das beim Staat anzeigen können, dann hätte der Staat den Kläger strafrechtlich verfolgt. In Kabul und andernorts seien die Gefängnisse voll von Menschen, die in einer verliebt sein allerdings ohne die Erlaubnis ihrer Eltern.

Die Ex-Ehefrau des Klägers hat im Rahmen ihrer Anhörung das fluchtauslösende Geschehen wie folgt geschildert:

Sie habe Afghanistan gemeinsam mit ihrem Ehemann aus Furcht vor Steinigung wegen als unsittlich angesehenen Verhaltens verlassen. Sie habe bereits vor der Ausreise aus Afghanistan mit ihrem Ex-Ehemann eine sexuelle Beziehung gehabt und beide hätten seinerzeit geplant, zu heiraten. Jedoch hätten die Taliban ihr Dorf eingenommen und begonnen, Spenden zu sammeln. Diese Spendenleistungen seien nicht freiwillig gewesen, vielmehr hätten sich die Taliban beispielsweise auch ungefragt Tiere und andere Dinge genommen. Ihr Vater sei hierbei von einem höherrangigen Talib aufgesucht worden. Ihr Vater habe diesem erklärt, er sei arm und habe kein Geld. Jedoch habe der Talib erwidert, er könne doch seine Tochter verkaufen, er würde sie auch nehmen. In diesem Fall würde der Talib ihrem Vater auch gegenüber anderen Taliban unterstützen. Der Taliban sei etwa 50 Jahre alt gewesen und habe bereits Ehefrau und Kinder gehabt. Die Ex-Ehefrau des Klägers habe gegenüber ihrem Vater erwidert, sie wolle diesen Mann nicht heiraten. Ihr Vater habe sie daraufhin geschlagen und erklärt, sie habe keine andere Wahl. Die Ex-Ehefrau des Klägers habe den Talib auch deshalb nicht heiraten wollen, weil dieser dann nach der Hochzeit festgestellt hätte, dass sie keine Jungfrau mehr sei. In diesem Fall hätte ihr die Steinigung gedroht. Sie habe sodann über einen Dritten ihren Ex-Ehemann von den Geschehnissen unterrichtet. Dieser habe ihren Vater aufgesucht und um ihre Hand angehalten. Ihr Vater habe abgelehnt, weil er bereits in die Heirat mit dem Talib eingewilligt habe. Ihr jetzige Ex-Ehemann habe ihr dann ausrichten lassen, dass er deren gemeinsame Flucht vorbereite. Nach ungefähr einem Monat seien beide über den Ort O. nach P. geflohen, wo sie im Familienkreis des Ex-Ehemannes geheiratet hätten.

Die Beklagte führte mit Verfügung vom 4. Juli 2017 aus, dass ein Übernahmeersuchen an Griechenland für den Kläger, für den vor dem 15. März 2017 einen EURODAC-Treffer Kategorie 2 vorliege, nicht in Betracht komme. Mit Vermerk vom 12. September 2017 stellte die Beklagte fest, dass nach Mitteilung der griechischen Republik vom 12. September 2017 noch keine Entscheidung über den internationalen Schutz ergangen sei, so dass die Voraussetzungen nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 und § 71 a AsylG nicht vorlägen. Es sei ein Erstantrag im nationalen Verfahren durchzuführen.

Mit Bescheid vom 20. Oktober 2017 lehnte die Beklagte gegenüber dem Kläger und seiner jetzigen Ex-Ehefrau die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1 des Bescheids), die Anerkennung von Asyl (Nr. 2) sowie die Zuerkennung subsidiären Schutzes (Nr. 3) ab und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 4), forderte den Kläger unter Androhung der Abschiebung nach Afghanistan zur Ausreise innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe des Bescheids bzw. nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens auf (Nr. 5) und befristete das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Nr. 6). In dem Bescheid hat die Beklagte unter anderem ausgeführt, die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft lägen nicht vor, weil im Zeitpunkt der Ausreise noch keine Maßnahmen zur Durchsetzung des Eheversprechens eingeleitet worden und Sanktionen seitens der Familie der Klägerin oder des Taliban von der Klägerin lediglich vermutet worden seien. Ferner habe der Kläger wegen seiner beruflichen Tätigkeit, Satellitenschüsseln auf den Hausdächern anzubringen, keine Bedrohung oder Verfolgung durch die Taliban geltend gemacht. Die bloße Befürchtung, Repressalien seitens der Taliban zu erfahren, reiche nicht aus, um eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a AsylG zu begründen. Die Furcht des Klägers, Verfolgungshandlungen durch die Familie der Ex-Ehefrau des Klägers und der Taliban zu erleiden, sei orts- und regionalgebunden. Es lägen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass bei einem Wohnortwechsel innerhalb Afghanistans weiterhin eine Bedrohung oder Verfolgung durch diese Personen ausgeht.

Gegen diesen Bescheid haben der Kläger und seine Ex-Ehefrau am 30. Oktober 2017 vor dem Verwaltungsgericht Braunschweig Klage erhoben. Mit Beschluss vom 8. Dezember 2017 hat das Verwaltungsgericht Braunschweig den Rechtsstreit an das Verwaltungsgericht Lüneburg verwiesen. Nachdem der Kläger und seine Ex-Ehefrau mitteilten, dass sie sich getrennt haben, hat das erkennende Gericht mit Beschluss vom 29. Januar 2020 das Verfahren des Klägers abgetrennt und im vorliegenden Verfahren weitergeführt. Der Kläger trägt zur Begründung seiner Klage im Wesentlichen aus, er sei gezwungen gewesen, aus Afghanistan zu fliehen. Er habe sich seitens der Familie seiner Ex-Ehefrau und seitens des Herrn M. N. in konkreter Lebensgefahr befunden. Er habe sich vor der Flucht in P. versteckt gehalten, weil er auch dort befürchtete, gefunden zu werden. Ferner werde er von der Familie seiner Ex-Ehefrau für die Trennung verantwortlich gemacht. Seine Schwester sei häufig von der Familie der Ex-Ehefrau bedrängt worden und habe im Jahr 2019 Afghanistan verlassen müssen. Seine Schwester lebe jetzt im Iran. Wollte er sich an einem anderen Ort in Afghanistan niederlassen, könnte dies nicht unbeobachtet geschehen. Vermieter und Arbeitgeber würden zunächst seine Herkunft und Lebensumstände eruieren. Auch müsse er als Volksgruppe der Hazara dorthin gehen, wo andere Hazara lebten, um überhaupt eine Chance auf irgendeine Unterstützung zu erhalten.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, hilfsweise, ihm subsidiären Schutz zu gewähren, weiter hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG hinsichtlich Afghanistans vorliegen und den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 20. Oktober 2017 aufzuheben, soweit er dem entgegensteht.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Dem Kläger ist mit Beschluss vom 8. Oktober 2019 – 3 A 701/17 – Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Frau Rechtsanwältin Schröder bewilligt worden. Mit Urteil vom 10. Juni 2020 – 3 A 18/20 – ist der Ex-Ehefrau des Klägers als alleinstehenden Frau Flüchtlingsschutz zuerkannt worden.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe

Das Gericht konnte gemäß § 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) trotz Abwesenheit eines Vertreters der Beklagten in der mündlichen Verhandlung über die Klage verhandeln und entscheiden, weil die Beteiligten in der Ladung zum Termin auf diese Möglichkeit hingewiesen worden sind.

Die Klage ist zulässig und in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet.

I.

Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes ist, teilweise rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO). Der Kläger hat nach dem für die Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 Satz 1 1. Halbsatz AsylG) Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft i.S. § 3 Abs.1 AsylG.

1. Gemäß § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) oder das Bundesamt hat nach § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG von der Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG abgesehen. Gem. § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich (1.) aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (2.) außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, (a) dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will (b) oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten gem. § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die (1.) auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Artikel 15 Absatz 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist, oder (2.) in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist. Maßgebend für die Beantwortung der Frage, ob sich ein Ausländer aus begründeter Furcht vor Verfolgung außerhalb seines Heimatlandes befindet, ist der Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Dieser setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände die dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Insoweit kommt es darauf an, ob in Anbetracht aller Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (Nds. OVG, Urt. v. 19.9.2016 - 9 LB 100/15 -, juris, S. 7 f. m.w.N.; Urt. v. 21.9.2015 - 9 LB 20/14 -, juris Rn. 30 m.w.N.). Es ist Sache des Ausländers, seine Gründe für eine Verfolgung in schlüssiger Form vorzutragen. Das Gericht muss die volle Überzeugung von der Wahrheit des vom Asylsuchenden behaupteten individuellen Verfolgungsschicksals erlangen (Nds. OVG, Urt. v. 19.9.2016 - 9 LB 100/15 -, juris, S. 8; vgl. auch bereits BVerwG, Urt. v. 29.11.1977 - I C 33.71 -, juris Rn. 10; Beschl. v. 16.4.1985 - 9 C 109.84 -, juris Rn. 16). Dabei greift zugunsten eines Betroffenen eine tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden (Nds. OVG, Urt. v. 23.11.2015 - 9 LB 106/15 -, juris, S. 8 m.w.N.; Urt. v. 21.9.2015 - 9 LB 20/14 -, juris Rn. 30 m.w.N.), ohne dass hierdurch jedoch der Wahrscheinlichkeitsmaßstab geändert würde (BVerwG, Urt. v. 7.9.2010 - 10 C 11.09 -, juris Rn. 14 f.; Urt. v. 17.4.2010 - 10 C 5.09 -, juris Rn. 19 f., 22 f.). Diese Vermutung kann widerlegt werden, indem stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit des Eintritts eines solchen Schadens entkräften (BVerwG, Urt. v. 17.4.2010 - 10 C 5.09 -, juris Rn. 23).

2. Der Kläger hat danach Anspruch auf Feststellung ihrer Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1, Abs.4 AsylG.

Soweit es gegen ihn persönlich gerichtete Verfolgungshandlungen angeht, hat der Kläger schlüssig und glaubhaft Tatsachen vorgetragen, aus denen sich der Rückschluss auf sein im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan konkret drohende Verfolgungshandlungen ziehen lässt, die entsprechend § 3a Abs. 3 AsylG an Verfolgungsgründe nach §§ 3, 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG anknüpfen. Der Kläger gehört der sozialen Gruppe der Männer an, die gegen angebliche islamische Grundsätze oder Traditionen, die in Afghanistan zu befolgen sind, verstoßen hat (vgl. Country Guidance Afghanistan, Juni 2019, S.21 f, 62), im vorliegenden Fall durch ein sog. „Zina“-Vergehen (vgl. dazu Urt. v. 19.02.2021 – 3 A 263/17 –, n.v.).

a) Zina bezeichnet im Islam den Geschlechtsverkehr zwischen Menschen, die nicht verheiratet sind. Gemäß dem Koran ist Zina verboten und wird in der islamischen Rechtsprechung weitgehend bestraft. Alle vor- oder außerehelichen Beziehungen gelten in Afghanistan als Zina-Vergehen. Sowohl in der Scharia, der traditionellen Rechtsprechung, wie auch im afghanischen Strafgesetz gilt Zina als schweres Vergehen und wird bestraft. Im afghanischen Strafgesetz von 1976 (Artikel 426-429) ist nicht klar festgelegt, was unter Zina zu verstehen ist. Sowohl Frauen als auch Männer werden wegen Zina strafrechtlich verfolgt. Die Höchststrafe für Zina beträgt sieben Jahre. In Ausnahmefällen, unter anderem wenn die Frau verheiratet oder jemand minderjährig ist, beträgt die Höchststrafe zehn Jahre. Gemäß der Scharia reicht die Bestrafung für Zina von Auspeitschungen bis hin zu Steinigung. Unter dem Einfluss der Scharia droht die Todesstrafe allerdings auch bei anderen „Delikten“ z.B. Blasphemie, Apostasie, Ehebruch, sog. „Zina“ (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan; Stand: Juni 2020 - in der Fassung vom 14. Januar 2021 -, S. 21). Auch Männer werden wegen Zina bestraft, doch Frauen werden häufiger und in der Regel härter bestraft. Außereheliche Beziehungen gelten bei allen ethnischen Gruppen als Vergehen und werden bestraft. Angehörige der paschtunischen Volksgruppe gehen bei der Bestrafung der Zina am restriktivsten vor (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Anfragebeantwortung Afghanistan: Zina, außerehelicher Geschlechtsverkehr v. 2. Oktober 2012, S. 2 f.). Strafrechtliche Verfolgungen gegen afghanische Männer wegen „Zina“-Anschuldigungen sind allerdings selten, weil aufgrund des hohen Stigmas und Ehrverlusts diese Anschuldigungen innerhalb der betroffenen Familien „gelöst“ werden (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan; Stand: Juni 2020 (in der Fassung vom 14. Januar 2021, S. 14). Frauen und Mädchen, die beschließen wegzulaufen, werden häufig von ihren Eltern, Brüdern oder Verlobten der Unzucht („Zina“) beschuldigt (EASO, Informationsbericht über das Herkunftsland Afghanistan - Gezielte Gewalt gegen Individuen aufgrund gesellschaftlicher und rechtlicher Normen, Dezember 2017, Seite 65). Allein die Anschuldigung der Ehrlosigkeit gegen eine Frau kann Schande über deren Familie bringen.

Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung glaubhaft und zur Überzeugung des Gerichts vorgebracht eine außereheliche, sexuelle Beziehung zu seiner jetzt getrenntlebenden Ex-Ehefrau unterhalten und seiner Ex-Ehefrau der Zwangsverheiratung mit einem in der Provinz H. einflussreichen Taliban namens M. N. entzogen zu haben. Das Eingehen einer außerehelichen (sexuellen) Beziehung zu einer minderjährigen Frau – wie hier – als auch die Verweigerung einer Zwangsverheiratung werden nach den dargestellten, insbesondere im ländlichen Bereich weithin verbreiteten traditionellen Moralvorstellungen als auch nach der Scharia auch in Bezug auf Männer als schweres moralisches Vergehen angesehen, aufgrund dessen der Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit körperlicher Bestrafung bis zur Tötung durch männliche Familienmitglieder, namentlich seinen Schwiegervater, rechnen musste, ebenso aber mit entsprechenden Gewaltakten des den Taliban zugehörigen Brautwerbers (vgl. EASO - Informationsbericht über das Herkunftsland Afghanistan: gezielte Gewalt gegen Individuen aufgrund gesellschaftlicher und rechtlicher Normen, Dezember 2017, Seite 53 f, 59, 63, 65, Seite 98). Der Kläger hat auf Nachfrage des Gerichts glaubhaft Einzelheiten zur Bekanntschaft mit seiner Ex-Ehefrau, den Umständen der Geheimhaltung der außerehelichen Beziehung und zur Heirat seiner Ex-Ehefrau in Herat vorgetragen. Insbesondere die Angaben des Klägers über die Geheimhaltung der inoffiziellen Beziehung zu seiner Ex-Ehefrau sind überzeugend. So hat der Kläger vorgetragen, dass einige im Freundeskreis von der Beziehung gewusst haben. Die Tante seiner Ex-Ehefrau habe ihnen geholfen, sich zu treffen. Auch hätten sie sich außerhalb des Dorfes beispielsweise bei Ausgängen mit dem Vieh treffen können. Der Einzelrichter hält es nicht für lebensfern, dass die inoffizielle Beziehung des Klägers mit seiner Ex-Ehefrau für einen überschaubaren Zeitraum von etwa 1 Jahr (Zeitraum von 2015 bis 2016) auf diese Weise vor den Familien geheim gehalten werden konnte. Auch die Ausführungen des Klägers in der mündlichen Verhandlung zu Herrn N. (Alter, familiären Status und die Sammlung von „Spenden“) decken sich mit den Schilderungen im Rahmen der Anhörung. Das gilt ferner für den Ort J., an dem der Kläger von der Zwangsheirat erfahren und seinen Entschluss gefasst hat, bei seinem Schwiegervater selbst und mit Hilfe der Dorfältesten um die Hand seiner Ex-Ehefrau anzuhalten. Widersprüche zu den Angaben im Rahmen seiner Anhörung im Jahr 2017 oder Anhaltspunkte, an der Glaubhaftigkeit der Aussagen des Klägers zu zweifeln, sind nicht entstanden.

Der Kläger hält sich damit aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe i.S. § 3 Abs.1 Nr.1 AsylG außerhalb seines Herkunftslandes Afghanistan auf.

b) Weder der afghanische Staat oder sonstige Organisationen sind in der Lage, den Kläger vor dem in Afghanistan drohenden Schaden durch Repressionen der Familie seiner Ex-Ehefrau bzw. dem Talib Herrn N. zu schützen (§ 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG i. V. m. §§ 3c Nr. 3, 3d AsylG).

Die afghanische Regierung ist auch in den von ihr kontrollierten Gebieten häufig nicht in der Lage, ihre Schutzverantwortung effektiv wahrzunehmen. Die Zentralregierung hat nur beschränkten Einfluss auf lokale Machthaber und Kommandeure, die häufig ihre Macht missbrauchen. In vielen Regionen Afghanistans besteht auf lokaler und regionaler Ebene ein komplexes Machtgefüge aus Ethnien, Stämmen, sogenannten Warlords und privaten Milizen, aber auch einzelner Polizei- und Taliban-Kommandeure (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan; Stand: Juni 2020 (in der Fassung vom 14. Januar 2021, S. 6). Das Justizsystem in Afghanistan funktioniert nur eingeschränkt; der Zugang zur Justiz ist nicht umfassend gewährleistet. Trotz großer Fortschritte in der Gesetzgebung seit 2002 gibt es keine einheitliche und durchgängig korrekte Anwendung der verschiedenen Rechtsquellen (kodifiziertes Recht, Scharia, Gewohnheits-/Stammesrecht). Die Verwaltung ist nur eingeschränkt handlungsfähig; die Ausbildung von Justiz- und Vollzugsbeamten weist erhebliche Mängel auf (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan; Stand: Juni 2020 (in der Fassung vom 14. Januar 2021, S. 4). Der Großteil der Bevölkerung fasst unabhängig von der Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen, sozialen oder religiösen Gruppe nur sehr langsam Vertrauen in die afghanischen Sicherheitskräfte und Justizorgane. Vor allem die Afghan National Police (ANP) wird häufig als korrupt und zum Teil auch gefährlich wahrgenommen. Ihre Hilfe wird selbst in Notfällen oft nicht in Anspruch genommen. Hinzu kommt, dass die ANP vielerorts an der Seite der Afghan National Army (ANA) als paramilitärische Einheit im Kampf gegen Terrorismus eingesetzt wird und deshalb ihren zivilpolizeilichen Aufgaben nicht oder nur in sehr beschränktem Maße nachkommen kann. So werden z. B. polizeiliche Anzeigen aufgenommen, jedoch meistens nicht systematisch weiterverfolgt (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan; Stand: Juni 2020 (in der Fassung vom 14. Januar 2021, S. 10 f.). Rechtsstaatliche (Verfahrens-)Prinzipien, sofern überhaupt reguliert, werden nicht konsequent angewandt. Einflussnahme durch Verfahrensbeteiligte oder Unbeteiligte und Zahlung von Bestechungsgeldern sowie Rechtsbeugung verhindern sowohl polizeiliche oder staatsanwaltliche Ermittlungen als auch Entscheidungen nach rechtsstaatlichen Grundsätzen in weiten Teilen des Justizsystems. Personen in Machtpositionen können sich meistens der strafrechtlichen Verfolgung entziehen (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan; Stand: Juni 2020 (in der Fassung vom 14. Januar 2021, S. 10 f.; vgl. Urt. v. 19.02.2021 – 3 A 263/17 – n.v.). Ein hinreichender Schutz durch Stellen oder sonstige Organisationen vor Verfolgungsmaßnahmen des Klägers besteht damit nicht.

c) Für den Kläger besteht in Afghanistan keine innerstaatliche Fluchtalternative im Sinne § 3e AsylG. Nach § 3e Abs. 1 AsylG wird einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (Zumutbarkeit der Niederlassung).

aa) Der Kläger ist vorverfolgt aus Afghanistan ausgereist. Für den Kläger spricht damit die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 RL2011/95/EU. Diese Vermutung ist auch nicht widerlegt. Eine Rückkehr in das Heimatdorf des Klägers scheidet bereits aus, weil dort die Verfolgungshandlungen weiterhin mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Nach dem glaubhaften Vorbringen des Klägers droht bei einer Rückkehr in sein Heimatdorf die Verfolgung durch die Familie seiner Ehefrau wegen eines ZINA-Verstoßes und der Entführung seiner Ehefrau nach Europa. Darüber hinaus droht ihm dort die Verfolgung durch die Taliban wegen der Vereitelung der Zwangsverheiratung seiner Ex-Ehefrau mit Herrn M. N..

bb) Das Gericht geht allerdings grundsätzlich davon aus, dass für Rückkehrer, die ein ZINA-Vergehen begangen haben sollen, eine inländische Fluchtalternative in der Anonymität der Großstädte wie beispielsweise Kabul besteht. Es ist hier davon überzeugt, dass der Kläger in einer größeren afghanischen Stadt wie P. abseits des Bezirks G. keine Verfolgung durch seinen Schwiegervater oder den Talib Herrn N. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten hat. Diese Einschätzung entspricht auch der Auskunftslage. Nach Angaben des Auswärtigen Amtes bieten größere Städte aufgrund ihrer Anonymität eher Schutz als kleinere Städte oder Dorfgemeinschaften (Lagebericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 31. März 2014, Stand: Juni 2014 - im Folgenden: Lagebericht - S. 16). Die größeren Städte kommen auch aktuell als Ausweichorte grundsätzlich in Betracht. Die Ausweichmöglichkeiten für diskriminierte, bedrohte oder verfolgte Personen hängen allerdings maßgeblich vom Grad ihrer sozialen Verwurzelung, ihrer Ethnie und ihrer finanziellen Lage ab (Lagebericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 16. Juli 2020, Stand: Juni 2020 - im Folgenden: Lagebericht - S. 18).

Gemessen daran bietet nach Auffassung des Gerichts insbesondere die Stadt P. dem Kläger eine schützende Anonymität. In P. hat der Kläger nach eigenen Angaben bereits gelebt. Auch lebt dort sein Cousin, mit dem er Kontakt hat. Der Anteil der Volksgruppe der Hazara, zu welcher der Kläger gehört, steigt in der Stadt Herat kontinuierlich. Die Stadt P. war historisch gesehen eine tadschikisch dominierte Enklave in einer paschtunischen Mehrheits-Provinz, die beträchtliche Hazara- und Aimaq-Minderheiten umfasste. Umfangreiche Migrationsströme haben die ethnische Zusammensetzung der Stadt verändert. Der Anteil an schiitischen Hazara ist seit 2001 besonders gestiegen, weil viele aus dem Iran rückgeführt oder aus den Provinzen Zentralafghanistans vertrieben wurden. Der Grad an ethnischer Segregation ist in P. heute ausgeprägt (BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Afghanistan, Stand: 14.07.2021, S. 113, 114 m.w.N.). Der Kläger hat auch nicht zur Überzeugung des Gerichts glaubhaft machen können, dass sein Schwiegervater bzw. Herr N. ihn in Afghanistan landesweit auffinden werden. Der Kläger hat keine konkreten, detaillierten und überzeugenden Angaben dazu gemacht, wie weitreichend die Kontakte seines Schwiegervaters bzw. des Herrn N. sind, die diesen in die Lage versetzen könnten, den Kläger überall in Afghanistan zu finden.

cc) Trotzdem kommt das Gericht nach Abwägung aller Umstände des Einzelfalls zu der Überzeugung, dass der Kläger dort in der jetzigen Corona-Pandemie über kein hinreichendes Existenzminimum verfügen wird.

Das Bundesverwaltungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 18. Februar 2021 (Urteil vom 18.02.2021 – BVerwG 1 C 4/20 –, juris Rn. 27) ausgeführt, dass die Frage der Zumutbarkeit der Niederlassung eine umfassende wertende Gesamtbetrachtung der allgemeinen wie der individuellen Verhältnisse unter Berücksichtigung der in § 3e Abs. 2 Satz 1 AsylG genannten Dimensionen erfordert. Hierbei sind auch und gerade die wirtschaftlichen Verhältnisse in den Blick zu nehmen, die der Ausländer am Ort der Niederlassung zu gewärtigen hat. Erforderliche, aber auch hinreichende Voraussetzung für die Niederlassung ist, dass das wirtschaftliche Existenzminimum auf einem Niveau gewährleistet ist, das eine Verletzung des Art. 3 EMRK nicht besorgen lässt; darüberhinausgehende Anforderungen sind nicht notwendige Voraussetzung der Zumutbarkeit der Niederlassung. Ob auch diese Voraussetzungen erfüllt sind, ist nach § 3e Abs. 2 Satz 1 AsylG unter Berücksichtigung der allgemeinen Gegebenheiten am Ort des internen Schutzes, insbesondere der wirtschaftlichen und humanitären Verhältnisse einschließlich der Gesundheitsversorgung, sowie der persönlichen Umstände des Ausländers gemäß Art. 4 RL 2011/95/EU zu prüfen, also insbesondere von familiärem und sozialem Hintergrund, Geschlecht und Alter. Nr. 25 UNHCR-Richtlinie 2003 nennt als maßgebliche Faktoren Alter, Geschlecht, Gesundheitszustand, Behinderungen, die familiäre Situation und Verwandtschaftsverhältnisse, soziale oder andere Schwächen, ethnische, kulturelle oder religiöse Überlegungen, politische und soziale Verbindungen und Vereinbarkeiten, Sprachkenntnisse, Bildungs-, Berufs- und Arbeitshintergrund und -möglichkeiten sowie ggf. erlittene Verfolgung und deren psychische Auswirkungen. Maßstab für die Zumutbarkeit ist mithin nicht eine "(hypothetische) vernünftige Person" oder eine von individuellen Besonderheiten abstrahierende Betrachtungsweise. In den Blick zu nehmen sind die jeweils schutzsuchende Person und ihre konkreten Möglichkeiten, am Ort des internen Schutzes (über)leben zu können. Diese konkret-individuelle Betrachtungsweise wirkt sich indes nicht - gar notwendig oder regelmäßig - darauf aus, welche Lebens- und Entfaltungschancen auf welchem Niveau gewährleistet sein müssen; sie prägt die Beurteilung, ob das menschenrechtlich zumutbare Mindestniveau auch in jedem Einzelfall gewahrt werden kann (a.a.O., juris Rn. 31.). Die vom Senat bislang offengelassene Frage (BVerwG, Urteile vom 29.05.2008 - 10 C 11.07 - BVerwGE 131, 186 Rn. 35 und vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 - BVerwGE 146, 12 Rn. 20; Beschluss vom 14.11. 2012 - 10 B 22.12 - NVwZ 2013, 282, 283), welche darüber hinausgehenden wirtschaftlichen und sozialen Standards den Zumutbarkeitsmaßstab prägen, ist in Bezug auf das wirtschaftliche Existenzminimum dahin zu beantworten, dass die Wahrung des durch Art. 3 EMRK geforderten Existenzminimums nicht nur notwendige, sondern auch hinreichende Voraussetzung für die Zumutbarkeit der Niederlassung ist (a.a.O., juris Rn. 33.). Der Wortlaut des § 3e AsylG enthält keine ausdrücklichen Regelungen, welche für die Zumutbarkeit der Niederlassung ein bestimmtes Mindestniveau für die wirtschaftlichen Existenzbedingungen vorgeben oder gar definieren, und weist jedenfalls nicht darauf, dass das wirtschaftliche Existenzminimum auf einem höheren als dem durch Art. 3 EMRK garantierten Niveau gewährleistet sein müsse (a.a.O., juris Rn. 36.). Die verfolgungs- oder gefahrenbedingt erzwungene "Entwurzelung" aus der Herkunftsregion ist zudem bei der Prognose zu berücksichtigen, ob es am Ort des internen Schutzes gelingen wird, das durch Art. 3 EMRK garantierte Existenzminimum aus eigener Kraft oder durch die gesicherte Unterstützung Dritter zu erlangen. Schwierigkeiten bei der Sicherung der wirtschaftlichen Existenz, die etwa aus der Fremdheit am Ort des internen Schutzes, der unzureichenden Vernetzung dort oder ausbleibender Unterstützung durch Familie, Clan oder Volksgruppe folgen können, gehören zu den Umständen, die nach § 3e Abs. 2 Satz 1 AsylG bei der konkret-individuellen Betrachtung zu berücksichtigen sind. Die Mindestsicherung auf dem durch Art. 3 EMRK gebotenen Niveau muss zur Überzeugung des Gerichts (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) auch für den zeitlich erweiterten Prognosespielraum, der aus dem Begriff der Niederlassung als mehr als kurzfristiger Aufenthaltnahme folgt, feststehen (a.a.O., juris Rn. 45).

Ausgehend von diesen Maßstäben ist es für den Kläger zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts unter Berücksichtigung der anhaltenden Auswirkungen der im Jahr 2020 aufgetretenen Covid-19-Pandemie, insbesondere die sich dadurch gegebenen Erschwernisse für den Arbeitsmarkt, nicht zumutbar, sich in einem (anderen) Landesteil in Afghanistan niederzulassen. Auch wenn eine verlässliche Einschätzung der weiteren Auswirkungen der Pandemie aufgrund der dynamischen Entwicklung des Infektionsgeschehens nicht möglich ist, kann nicht davon ausgegangen werden, dass es sich bei der derzeitigen Zuspitzung der humanitären Lage in Afghanistan um ein temporäres Phänomen mit der Aussicht auf alsbaldige entscheidungserhebliche Verbesserungen handelt (OVG Bremen, Urt. v. 22.9.2020 - 1 LB 258/20 -, juris Rn. 52). Derzeit sind nach Auffassung der Kammer angesichts der gravierenden Verschlechterung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Afghanistan infolge der Covid-19-Pandemie daher auch im Falle eines leistungsfähigen, erwachsenen Mannes ohne Unterhaltsverpflichtungen bei Rückkehr aus dem westlichen Ausland die hohen Anforderungen des Art. 3 EMRK regelmäßig erfüllt, wenn in seiner Person keine besonderen begünstigenden Umstände vorliegen (vgl. Urt. v. 12.07.2021 - 3 A 126/18 -, n.v.; Urt. v. 5.02.2021 – 3 A 190/16 -, juris Rn. 53). Derartige Umstände können dann gegeben sein, wenn der Schutzsuchende in Afghanistan ein hinreichend tragfähiges und erreichbares familiäres oder soziales Netzwerk hat, er nachhaltige finanzielle oder materielle Unterstützung durch Dritte erfährt oder über ausreichendes Vermögen verfügt (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 17.12.2020 - A 11 S 2042/20 -, juris Rn. 105 m. w. N.). Besondere günstige Umstände liegen im Fall des Klägers nicht vor.

Der Kläger wird eine familiäre Unterstützung an einem heimatfremden Ort in Afghanistan nicht erhalten. Denn der Kläger hat faktisch keine familiäre Verbindung mehr in Afghanistan. Die Mutter des Klägers hat ebenfalls einen Asylantrag gestellt und lebt ebenso wie seine zwei Brüder und eine Schwester in Deutschland. Der Vater des Klägers ist tot. Die Geschwister seiner Eltern sind ebenfalls gestorben. Ferner hat seine zweite Schwester Afghanistan verlassen und ist in den Iran gegangen. Es lebt lediglich noch ein Cousin in P., zu dem der Kläger zwar Kontakt hat. Doch arbeite sein Cousin, der selbst Familie habe, als Tagelöhner und sei finanziell in keiner guten Lage. Die Familie kann den Kläger damit in Afghanistan weder finanziell noch materiell bzw. in sonstiger Weise, etwa bei der Suche nach Beschäftigungsmöglichkeiten, unterstützen. Der Kläger hat auch selbst keine reale Möglichkeit, seine Existenz ausreichend zu sichern. Zwar ist er in Afghanistan zur Schule gegangen und hat seine Abiturprüfung abgelegt. Allerdings hat er das Universitätsstudium Business Administration in Q. ohne Diplom abgeschlossen. Seine selbständige Tätigkeit als Geschäftsführer einer Logistikfirma musste der Kläger nach Beginn des Abzugs der Alliierten im Jahr 2014 aufgrund weggefallener internationaler Geschäftsbeziehungen aufgegeben. Seitdem hat er Kinder in Englisch unterrichtet, Computerkurse gegeben und Satellitenschüsseln auf Häusern installiert. Einer geregelten beruflichen Tätigkeit ist der Kläger nicht nachgegangen. Besondere berufliche Qualifikationen besitzt er nicht. Die Soft- und Hardware- Kenntnisse für den Computerkurs hat er sich selbst aneignet. Zurzeit arbeitet der Kläger als Maschinenvorarbeiter bei einem Geflügelbetrieb in Deutschland. Damit sticht der Kläger aus der Masse der unqualifizierten Afghanen nicht hervor und es dürfte ihm trotz der Umstände, dass er relativ jungen Alters und gesund ist, schwerfallen, bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine Arbeit zu finden, mit der er sein Existenzminimum sichern kann.

3. Soweit der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft die Ausreiseaufforderung (Ziff. 5 des Bescheides) und das verhängte Einreise- und Aufenthaltsverbot (Ziff. 6 des Bescheides) entgegenstehen, verletzt der angefochtene Bescheid den Kläger ebenfalls in seinen Rechten und ist daher aufzuheben.

4. Da dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist, bedarf es einer Entscheidung zu dem hilfsweise beantragten subsidiären Schutz und zu der weiter hilfsweise beantragten Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Afghanistan nicht.

II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 83 b AsylG, 17 b Abs. 2 S.2 GVG. Danach hat der Kläger die durch die Anrufung des unzuständigen Gerichts veranlassten Mehrkosten vorab zu tragen. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11 ZPO.