Verwaltungsgericht Stade
Urt. v. 13.04.2022, Az.: 6 A 2174/17
Abschiebungsverbot; Klagerücknahme; Prozesserklärung; Wirksamkeit; Asyl Afghanistan
Bibliographie
- Gericht
- VG Stade
- Datum
- 13.04.2022
- Aktenzeichen
- 6 A 2174/17
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2022, 22513
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:VGSTADE:2022:0413.6A2174.17.00
Rechtsgrundlagen
- VwGO § 173
- ZPO § 85
- ZPO § 87
Amtlicher Leitsatz
Die Prozesserklärung eines Prozessbevollmächtigten kann nach Treu und Glauben als unwirksam zu behandeln sein, wenn sie dem wirklichen Willen des Vertretenen widerspricht und das für das Gericht und den Gegner erkennbar ist (hier verneint).
Tenor:
Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass für die Kläger ein Abschiebungsverbot nach § 60 Absatz 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes vorliegt. Der Bescheid vom 28. Mai 2017 wird aufgehoben, soweit er dem entgegensteht. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Gerichtskosten werden nicht erhoben. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu 3/5, die Kläger zu 2/5. Insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar.
Der Vollstreckungsschuldner kann jeweils die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in entsprechender Höhe leisten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über Asylanträge.
Die Kläger sind nach den Angaben der Klägerin zu 1 und deren Ehemanns afghanische Staatsangehörige, Hazara und Schiiten. Die Klägerin zu 1 ist nach ihren Angaben am 21. März 1989 geboren, die Klägerinnen zu 2, 3 und 4 nach den Angaben der Eltern am 21. März 2006 und am 15. Mai 2011 und am 29. März 2016. Die Klägerin zu 1 ist nach ihren Angaben in Q. geboren, die Klägerinnen zu 2 und 3 nach den Angaben der Eltern in R., die Klägerin zu 4 in S..
In den Verwaltungsunterlagen der Beklagten ist für die Klägerin zu 1 ein Eurodac-Treffer für Griechenland vom 31. Dezember 2015 vorhanden (Z.).
Am 7. Januar 2016 erhielten die Klägerinnen, ausgenommen die Klägerin zu 4, in T. eine BÜMA, damals noch mit dem Ehemann und Vater U. gemeinsam.
Am 3. Februar 2016 stellten die Klägerinnen zu 1 bis 3 in V. förmliche Asylanträge, damals noch mit dem Ehemann und Vater U. gemeinsam.
Ebenfalls am 3. Februar 2016 fand ein persönliches Gespräch zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats statt. Dort gab die Klägerin zu 1 an: sie habe vor etwa zehn Jahren das Herkunftsland verlassen. Sie sei von Afghanistan über den Iran, die Türkei, Griechenland, Mazedonien, Serbien, Kroatien, Slowenien und Österreich nach Deutschland gekommen. Im Iran habe sie sich zehn Jahre lang aufgehalten, in der Türkei und Griechenland je fünf Tage, von Mazedonien nach Deutschland sei sie binnen fünf Tagen durchgereist. In Griechenland sei sie am 17. Dezember eingereist. Dort seien ihr Fingerabdrücke abgenommen worden. Am 31. Dezember 2015 sei sie in Deutschland angekommen.
Die Landesaufnahmebehörde Niedersachsen wies die Klägerinnen am 15. Februar 2016 und am 11. Oktober 2016 gemeinsam mit dem Ehemann und Vater in die Stadt W. zu. Dort wurde am 29. März 2016 die Klägerin zu 4 geboren.
Am 19. Januar 2017 erhielt die Beklagte eine Mitteilung nach § 14a des Asylgesetzes (AsylG) wegen der Klägerin zu 4. Die Beklagte teilte der Klägerin zu 1 und deren Ehemann mit Schreiben vom 29. Januar 2017 mit, dass für die Klägerin zu 4 ein Asylverfahren eingeleitet werde und bezog die Klägerin zu 4 in das laufende Asylverfahren der Familie ein.
Am 13. April 2017 wurden die Klägerin zu 1 und deren Ehemann in X. nach § 25 AsylG angehört. Dort gab die Klägerin zu 1 an:
Sie sei Hazara und Schiitin. Sie habe seit ihrer Heirat 2004 in Afghanistan in der Provinz Q. in dem Dorf Y. gelebt, und zwar bei ihren Schwiegereltern in deren Haus. Damals hätten dort noch die Schwiegereltern, eine Schwägerin und ein Schwager gelebt. Heute, am Tag der Anhörung, dem 13. April 2017, lebten dort die Schwiegereltern und zwei Schwäger. Von dort sei sie 2005 in den Iran ausgereist. Den Iran habe sie Mitte Dezember 2015 verlassen und sei am 31. Dezember 2015 in Deutschland angekommen. Sie hätten möglichst weit von Afghanistan weg gewollt. Die Reise habe 20 Millionen Toman gekosten. Das Geld hätten sie aus dem Verkauf des Grundstücks gehabt.
Die Klägerin zu 1 selbst habe in Afghanistan drei Brüder, eine Schwester und die Großfamilie. Zu denen habe sie noch Kontakt. Die Geschwister lebten in Y., die Tante im gleichen Distrikt. Die Brüder bearbeiteten ihre eigenen Felder. Wirtschaftlich gehe es ihnen durchschnittlich, sie seien gesund. Zwei Brüder und eine Tante lebten außerdem im Iran.
Einen Beruf habe sie nicht. Im Iran habe sie lesen, schreiben, rechnen "etc." gelernt. Ihr Ehemann habe in Afghanistan nicht arbeiten können, sie hätten Unterstützung von ihrer Familie beziehungsweise der Familie des Ehemanns erhalten; da sei ihre wirtschaftliche Lage durchschnittlich gewesen. Im Iran habe ihr Ehemann als Wachmann gearbeitet. Da sei ihre wirtschaftliche Lage durchschnittlich gewesen.
In Afghanistan habe ihr Ehemann Probleme gehabt, deshalb seien sie ausgereist. Ihr Ehemann habe auch im Iran Probleme gehabt. Seine Feinde seien aus Afghanistan gekommen. Deshalb seien sie auch dort ausgereist. Ihr Ehemann und dessen Bruder seien beschuldigt worden, zwei Personen umgebracht zu haben. Das habe mit den unterschiedlichen Stämmen zu tun. Das Problem habe es schon früher gegeben, ihr Ehemann habe deshalb zwischenzeitlich Afghanistan verlassen. Nach der Rückkehr sei er von Angehörigen des Getöteten angegriffen, geschlagen und vom Dach geworfen worden. Das sei alles vor der Hochzeit gewesen. Nach der Hochzeit habe ihr Ehemann sich nicht frei bewegen können und habe auch nicht arbeiten gehen können; er habe sich die ganze Zeit zu Hause aufgehalten. Die Sicherheitslage sei sehr schlecht gewesen. Sie hätten sich entschieden, das Land zu verlassen. Ihr persönlich sei nichts passiert, weshalb sie Afghanistan verlassen hätte.
Die Söhne des Getöteten seien im Iran gewesen. Sie hätten ihren Vater rächen wollen. Ihr Ehemann habe den Sohn auf einer Trauerfeier gesehen. Der Verstorbene habe bei ihnen im Distrikt gewohnt. Deshalb seien alle von beiden Parteien gekommen. Die Tante habe gesagt, dass die Angehörigen des Getöteten in den Iran kommen würden. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan würde ihr Ehemann sofort umgebracht werden. Die Leute seien auch in den Iran gekommen. In eine andere Gegend in Afghanistan zu gehen, sei ihnen nicht möglich gewesen; sie fürchte, dass sie sie auch dort finden würden. Für die Kinder gebe es keine eigenen Asylgründe.
Am 26. Mai 2017 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerinnen und des Ehemanns und Vaters auf Anerkennung als Asylberechtigter ab, stellte fest, dass die die Flüchtlingseigenschaft und ein subsidiärer Schutzstatus nicht zuerkannt würden und dass Abschiebungsverbote nach § 60 Absatz 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) nicht vorlägen, forderte die Klägerinnen zur Ausreise auf und drohte die Abschiebung nach Afghanistan oder in einen anderen Staat an, in den sie einreisen dürften oder der zur Rückübernahme verpflichtet sei. Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot befristete die Beklagte auf 30 Monate.
Die Klägerin zu 1 und ihr Ehemann hätten keine Verfolgungshandlungen geschildert, die für den Flüchtlingsschutz relevant wären. Es sei insbesondere keine Verfolgung wegen der Volkszugehörigkeit geschildert worden, denn der verstorbene Onkel solle nur den Ehemann der Klägerin zu 1 und dessen Bruder für den Tod seines Neffen verantwortlich gemacht haben.
Subsidiärer Schutz stehe den Klägerinnen und dem Ehemann und Vater nicht zu. Ihnen drohe nicht die Todesstrafe und auch nicht Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung. Um eine begründete Furcht vor Verfolgung oder einen ernsthaften Schaden annehmen zu können, sei das Vorbringen zu farblos und zu detailarm gewesen. Es sei auch nicht nachvollziehbar, dass es für Dritte erkennbar gewesen sein solle, dass nur der Ehemann der Klägerin zu 1 und dessen Bruder auf den Onkel geschossen haben sollen. Auch sei nicht verständlich, warum der Ehemann der Klägerin zu 1 allein wegen der Wahl des Präsidenten Karzai angenommen haben solle, dass ihm keine Rache mehr drohe. Ungereimt sei, dass es keine Übergriffe während des Krankenhausaufenthalts von fast einem Jahr gegeben habe. Unglaubwürdig sei, dass es bei dem Zusammentreffen nach fast zehn Jahren eine ernsthafte Bedrohung mit dem Tod gegeben haben solle. Die Kläger hätten sich nicht an die Sicherheitsbehörden oder an die Dorfältesten gewandt. Davon unabhängig beständen interne Schutzmöglichkeiten in Bamiyan, Samangan oder Kabul. Der Ehemann der Klägerin zu 1 würde dort für den Lebensunterhalt der Familie sorgen können, wie er das im Iran bereits getan habe. Außerdem sei Hilfe von den Familienangehörigen der Kläger zu erwarten.
Auch gebe es keine Hinweise auf eine individuelle Bedrohung infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts.
Abschiebungsverbote nach § 60 Absatz 5 oder Absatz 7 Satz 1 AufenthG lägen nicht vor. Die humanitären Bedingungen in Afghanistan begründeten nicht die Annahme, dass bei einer Abschiebung Artikel 3 EMRK verletzt werden könnte. Bei einer Rückkehr drohe den Klägerinnen und dem Ehemann und Vater nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die konkrete Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung aufgrund schlechter humanitärer Bedingungen. Die Kläger könnten familiäre Hilfe und Unterstützung erwarten. Die Familie habe dem Ehemann der Klägerin zu 1 bereits einmal über Jahre hinweg geholfen, als er wegen seiner Verletzungen habe unterstützt werden müssen. Auch die Klägerin zu 1 habe noch zahlreiche Verwandte, die erwerbstätig seien. Es fehle auch nicht an der Möglichkeit, mit Verwandten in Afghanistan in Kontakt zu treten. Zudem werde der Ehemann der Klägerin zu 1 selbst erwerbstätig sein können und den Lebensunterhalt erwirtschaften können.
Den Klägerinnen und dem Ehemann und Vater drohe auch keine individuelle Gefahr für Leib oder Leben im Sinne des § 60 Absatz 7 AufenthG. Es beständen auch keine gefahrerhöhenden individuellen Umstände.
Der Bescheid ist den Klägerinnen und dem Ehemann und Vater nach der Postzustellungsurkunde am 31. Mai 2017 durch Übergabe an die zum Empfang berechtigte Vertreterin Frau Z. zugestellt worden.
Am 12. Juni 2017 haben die Klägerinnen Klage erhoben, damals noch gemeinsam mit dem Ehemann und Vater.
Die Kläger haben mitgeteilt, dass am 15. November 2017 der Schwiegervater der Klägerin zu 1 und am 3. Februar 2018 die Schwiegermutter der Klägerin zu 1 gestorben seien. Der Schwager AA. sei mit seiner Familie auf mysteriöse Weise verschwunden. Die Schwager AB. und AC. und eine Schwägerin seien im Iran und würden demnächst in die Türkei "flüchten", weil sich die Lage in Afganistan verschlechtert habe. Im Heimatort Q. herrschten zur Zeit (4. Mai 2021) Auseinandersetzungen zwischen der afganischen Armee und den Taliban und einem "freistehenden" Kommandanten namens AD.. Mehrere Familienangehörige des Ehemanns der Klägerin zu 1 seien deshalb in den Iran geflüchtet.
Die Kläger hätten niemanden in Afganistan. Dort habe sich die Lage verschlechtert und es werde von eine dritten Covid-Welle gesprochen. Die Lage in Afghanistan sei neu zu bewerten. Sie sei unübersichtlich und die Taliban drohten mit dem großen Krieg. In Kabul und in anderen Städten Afghanistans explodiere täglich eine Bombe beziehungsweise fünf Bomben. Die Tagesschau berichte von Folterungen in Gefängnissen und von Angriffen auf Beamte, Journalisten und Richter. Sicherheit sei in den Städten Kabul, Kandahar, Masar-e-Scharif und Herat nicht mehr gegeben. In Zentralafghanistan herrsche ein offener Krieg zwischen Hazara und Regierung und islamistisch-fundamentalistischen Organisationen, dort hätten sich schiitische militante Organisationen, die auch als terroristische Organisationen registriert seien, bewaffnet und griffen die Regierung, aber auch die Taliban, an. 223 Beamte würden verdächtigt, das Budget für die Corona-Bekämpfung veruntreut zu haben, gegen diese Beamten sei Anklage erhoben worden. Die wirtschaftliche Lage habe unter den Folgen der Corona-Epidemie sehr gelitten. Das Existenzminimum könne allenfalls mit Hilfe Dritter sichergestellt werden. Die Zahl der zivilen Opfer habe erheblich zugenommen. Die Kläger haben außerdem auf das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 3. Februar 2021 (A 11 S 2042/20) verwiesen, insbesondere auf Das Gutachten AE. vom 30. November 2020 über die Auswirkungen der Corona-Epidemie auf die Lage in Afghanistan.
Der zweite Prozessbevollmächtigte machte mit Schreiben vom 26. Juli 2021 geltend: Die Klägerinnen zu 1 und 2 seien als westlich geprägte afganische Staatsangehörige anzusehen und deshalb sei ihnen die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Dafür berufen sie sich auf das Urteil den Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 21. September 2015 (9 LB 20/14) und Urteile des Verwaltungsgerichts Osnabrück vom 1. August 2019 (1 A 143/19) und des VG Stade vom 3. Juni 2020 (1 A 635/20) und vom 26. Juni 2021 (3 A 3203/17). Die Klägerin zu 1 habe sich beruflich weitergebildet und den Führerschein erworben und habe die tradierten Vorstellungen vom Zusammenleben von Frau und Mann überwunden. Sie unterscheide sich äußerlich nicht von jungen Frauen, die in Deutschland geboren und aufgewachsen seien. Das Kopftuch habe sie bereits im Sommer 2020 endgültig abgelegt; die Klägerin zu 2 habe das bereits im Sommer 2016 getan. Die Freunde der Kläger seien überwiegend nicht afghanische Staatsangehörige.
Der ursprüngliche Prozessbevollmächtigte erklärte mit Schreiben vom 4. Mai 2021: Die Kläger beschränken ihre Klage auf die Feststellung eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Absatz 5 und 7 Satz 1 AufenthG und nehmen ihre Klage im Übrigen zurück.
Die Kläger haben ursprünglich beantragt,
- 1.
die Beklagte zu verpflichten, den Klägern unter Aufhebung des Bescheids vom 28. Mai 2017 die Flüchtlingseigenschaft im Sinn des § 3 des Asylgesetzes zuzuerkennen,
- 2.
die Kläger als asylberechtigt im Sinn des Artikels 16a des Grundgesetzes anzuerkennen,
- 3.
festzustellen, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus vorliegen,
- 4.
festzustellen, dass Abschiebeverbote gemäß § 60 Absatz 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes vorliegen.
Die Kläger beantragen,
die Beklagte zu verpflichten,
den Klägerinnen die Flüchtlingseigenschaft im Sinne des § 3 des AsylG zuzuerkennen,
hilfsweise,
den Klägerinnen subsidiären Schutz zu gewähren,
hilfsweise,
festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Absatz 5 und 7 Satz 1 ds Aufenthaltsgesetzes vorliegen,
und den Bescheid vom 28. Mai 2017 aufzuheben, soweit er dem entgegensteht.
Die Beklagte beantragt schriftlich,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte tritt der Klage entgegen und bezieht sich auf die Gründe ihrer angefochtenen Entscheidung und verweist insbesondere "auf das vorgetragene familiäre Netzwerk der Kläger in Afghanistan".
Das Gericht hat am 14. August 2019 allen ursprünglichen Klägern Prozesskostenhilfe bewilligt, soweit die Klage die Abschiebungsverbote nach § 60 Absatz 5 und 7 Satz 1 AufenthG betrifft, im Übrigen hat das Gericht den PKH-Antrag abgelehnt.
Das Verfahren der Klägerinnen wurde mit Beschluss vom 5. November 2021 von dem des Ehemanns und Vaters getrennt.
Die Klägerin zu 1 teilte mit Schreiben vom 20. Mai 2021 mit, dass sie sich seit April 2020 von ihrem Ehemann getrennt habe. Die vier Kinder lebten bei ihr. Sie lasse sich nicht mehr von dem bisherigen Prozessbevollmächtigten vertreten. Am 27. Mai 2021 meldete sich der neue Prozessbevollmächtigte für die Klägerin zu 1 und die Kinder und erklärte, dass das Mandat des ursprünglichen Prozessbevollmächtigten gekündigt sei - das Kündigungsschreiben datiert vom 27. Mai 2021. Der ursprüngliche Prozessbevollmächtigte teilte mit einem Schreiben vom 8. Juni 2021 mit, dass das Mandatsverhältnis zu den Klägern zu 1 bis 4 gekündigt worden sei und dass er das Mandat mit sofortiger Wirkung niederlege und machte dem Vorbringen der Kläger zu 1 bis 4 gegenüber mit Schreiben vom 20. August 2021 geltend, dass die Kläger und der Ehemann und Vater sich nicht getrennt hätten. Es handele sich nach wie vor um eine Familie. Außerdem hat der ursprüngliche Prozessbevollmächtigte zu dem Verfahren der Klägerin zu 1 und der Kinder mit Schreiben vom 26. August 2021 für die Kläger und den Ehemann und Vater erklärt, es werde auf mündliche Verhandlung verzichtet. Dem hat sich der neue Prozessbevollmächtigte der Kläger nicht angeschlossen. Die Klägerin zu 1 ist inzwischen mit Urteil vom 6. Dezember 2021 von ihrem Ehemann geschieden.
Die Beklagte hat sich nicht zu der Frage des Gerichts geäußert, ob nach der Trennung vom Ehemann und Vater für die Klägerinnen ein Abschiebungsverbot nach § 60 Absatz 5 und 7 Satz 1 AufenthG festgestellt werden kann.
Die Klägerin zu 1 ist in der mündlichen Verhandlung am 13. April 2022 informatorisch angehört worden. Wegen der Einzelheiten wird auf das Protokoll der Sitzung vom 13. April 2022 Bezug genommen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte mit den beigezogenen Verwaltungsvorgängen der Ausländerbehörde, der Beiakte BA001 bis BA005, BA007 bis BA010 und BA011, und den elektronischen Unterlagen, die die Beklagte eingereicht hat, der Beiakte BA006, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Das Gericht konnte verhandeln und entscheiden, obwohl für die Beklagte niemand erschienen war. Denn es hatte in der Ladung gemäß § 102 Absatz 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) darauf hingewiesen, dass das möglich ist.
Das Verfahren ist einzustellen, soweit die Klägerinnen die Klage hinsichtlich der Anerkennung als Asylberechtigte schlüssig dadurch zurückgenommen haben, dass sie den entsprechenden Antrag in der mündlichen Verhandlung nicht mehr gestellt haben. Der Ausspruch dazu ist in dem festgelegten Tenor übersehen worden.
Hinsichtlich des internationalen Schutzes ist das Verfahren dagegen nicht einzustellen, sondern es ist eine Prozessentscheidung zu treffen. Denn die Klägerinnen haben trotz der Teilrücknahme hinsichtlich des Flüchtlingsschutzes und des subsidiären Schutzes einen Klageantrag gestellt.
Die Klage ist hinsichtlich des Flüchtlingsschutzes und des subsidiären Schutzes unzulässig, wie weil die Klage insoweit wirksam zurückgenommen wurde.
Der erste Prozessbevollmächtigte der Klägerinnen hatte mit einem Schreiben vom 4. Mai 2021 erklärt, dass die Klägerinnen ihre Klage auf die Feststellung eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Absatz 5 und 7 Satz 1 AufenthG beschränkten und ihre Klage im Übrigen zurücknähmen. Diese Erklärung ist den Klägerinnen aber nach § 85 Absatz 1 der Zivilprozessordnung (ZPO) in Verbindung mit § 173 Satz 1 VwGO zuzurechnen, auch wenn die Klägerin zu 1 das Mandat des ersten Prozessbevollmächtigten vor dem 4. Mai 2021 mündlich gekündigt und die Vollmacht des ersten Prozessbevollmächtigten vor dem 4. Mai 2021 mündlich widerrufen hatte. Zwar genügt die mündliche Kündigung, um im Innenverhältnis die Mandatierung zu beenden und die Vollmacht unwirksam werden zu lassen, weil eine besondere Form für die Kündigung oder die Mandatsentziehung oder den Widerruf der Vollmacht nicht vorgeschrieben ist. Die Klägerin zu 1 hat dazu in der mündlichen Verhandlung erklärt, sie sei ungefähr zwei oder drei Monate, bevor sie bei ihrem neuen Prozessbevollmächtigten gewesen sei, bei dem ersten Prozessbevollmächtigten gewesen, um ihm zu sagen, dass er nicht mehr für sie tätig sein solle. Sie habe diesem erklärt, dass sie jetzt getrennt lebe und sich einen eigenen Anwalt suchen möchte. Dazu habe sie aber nichts schriftlich gemacht. Es habe ein bisschen Streit gegeben, weil die Klägerin zu 1 ihm gesagt habe, sie lebe jetzt getrennt - da habe er gelacht und gesagt, wenn sie geschieden sei, solle sie ihm Bescheid sagen, dann könnten sie Essen gehen. Die Klägerin zu 1 habe gefunden, dass es nicht schön klinge, wenn ein Rechtsanwalt so etwas sage und habe diesem gesagt, sie suche sich einen anderen Anwalt und er habe gesagt: okay. Die Klägerin zu 1 sei sich sicher, dass das vor dem 4. Mai 2021 gewesen sei. Diese Angaben sind auch plausibel und glaubhaft und sie sind zu den übrigen bekannten Daten stimmig: Die Aufenthaltsgestattungen der Klägerinnen sind bis 18. Oktober 2019 mit der Anschrift AF., bis längstens zum 16. Dezember 2020 ohne Anschrift und ab dem 15. Dezember 2020 mit der Anschrift {AG. ausgestellt. Letztere ist die Anschrift der Klägerin zu 1 mit den Kindern allein ohne den Ehemann. Die Klägerin zu 1 selbst hat dem Gericht mit Schreiben vom 20. Mai 2021 mitgeteilt, dass sie sich von ihrem Ehemann getrennt habe und dass der erste Prozessbevollmächtigte sie und die Kinder nicht mehr vertreten solle. Die Vollmacht für den neuen Prozessbevollmächtigten ist vom 26. Mai 2021. Daraus folgt, dass die Klägerin zu 1 sich spätestens ab 15. Dezember 2020 von ihrem Ehemann getrennt hatte, weil ab diesem Zeitpunkt die getrennten Wohnungen amtlich nachgewiesen sind. - Die Angabe des ursprünglichen Prozessbevollmächtigten vom 20. August 2021, dass die Klägerin zu 1 sich nicht von ihrem Ehemann getrennt habe, ist offensichtlich falsch. Denn die getrennten Wohnungen haben bis zur mündlichen Verhandlung am 13. April 2022 bestanden. - Dass die letzte Besprechung mit dem ursprünglichen Prozessbevollmächtigten zwei bis drei Monate vor der ersten Besprechung mit dem neuen Prozessbevollmächtigten stattfand ist plausibel und passt widerspruchsfrei in den nachvollziehbaren Ablauf der Trennung der Eheleute und der Mandatierung des neuen Prozessbevollmächtigten. Auch dass die Klägerin zu 1 einen sachlichen Grund hatte, den Prozessbevollmächtigten zu wechseln, ist nach ihrem Vorbringen plausibel. Das Schreiben mit der Mandatsniederlegung des ursprünglichen Prozessbevollmächtigten vom 8. Juni 2021 spricht nicht gegen den zeitlichen Ablauf, den die Klägerin zu 1 geschildert hat, denn es ist ersichtlich nicht unmittelbar im Anschluss an die Kündigung durch die Klägerin zu 1 erfolgt. Diese muss vielmehr vorher geschehen sein, denn sogar die schriftliche Kündigung durch den neuen Prozessbevollmächtigten datiert bereits vom 27. Mai 2021, so dass das Schreiben vom 8. Juni noch nicht einmal umgehend nach der schriftlichen Kündigung vom 27. Mai 2021 erstellt wurde. Auch dass der ursprünglichen Prozessbevollmächtigte die Erklärung vom 4. Mai 2021 überhaupt noch abgegeben hat, spricht nach den Umständen nicht dafür, dass ihm das Mandat zu diesem Zeitpunkt noch nicht entzogen worden war. Denn er hat auch später mit den Schreiben vom 20. und vom 26. August 2021 noch Erklärungen für die Klägerinnen abgegeben, obwohl ihm deren Mandat entzogen worden war.
Die Kündigung des Mandatsverhältnisses und der Widerruf der Vollmacht wirkten nach § 87 Absatz 1 ZPO in Verbindung mit § 173 Satz 1 VwGO aber bis zum 4. Mai 2022 noch nicht gegenüber dem Gericht. Denn gegenüber dem "Gegner" wird die Kündigung des Vollmachtvertrags nach § 87 Absatz 1 ZPO erst wirksam, wenn angezeigt wurde, dass die Vollmacht erloschen ist. Dass § 87 Absatz 1 ZPO dem Wortlaut nach auf den "Gegner" abstellt, ist ohne eigene Bedeutung. Dies ist nur der Fall, weil der Wortlaut des § 87 Absatz 1 ZPO nicht an den Amtsbetrieb durch das Gericht angeglichen worden ist. § 87 Absatz 1 ZPO betrifft heute aber die Anzeige an das Gericht und die Wirkung gegenüber dem Gericht (z.B. Bayerischer VGH, Beschluss vom 17. März 2016 - 8 ZB 16.60, zitiert nach Juris; vgl. Piekenbrock in BeckOK ZPO, Vorwerk/Wolf, 44. Edition, Rdnr. 1 zu § 83). Die Anzeige gegenüber dem Gericht ist erst nach dem 4. Mai 2022 erfolgt, nämlich mit dem Schreiben vom 27. Mai 2021. Ob die Teilrücknahmeerklärung von den Klägerinnen konkludent angefochten wurde, kann dahinstehen. Denn auf eine Anfechtung käme es nicht an, weil die Rücknahme eine Prozesserklärung ist und deshalb grundsätzlich nicht durch eine Anfechtung beseitigt werden kann. Die Teilrücknahme ist auch nicht nach Treu und Glauben als unwirksam zu behandeln. Zwar gilt der Grundsatz von Treu und Glauben auch im Verwaltungsprozessrecht (z.B. Bayerischer VGH, Beschluss vom 17. März 2016 - 8 ZB 16.60, zitiert nach Juris). Dieser Grundsatz erlaubt es ausnahmsweise auch, eine Prozesserklärung als unwirksam anzusehen, und zwar, wenn sie zu dem wirklichen Willen des Rechtsmittelführers in Widerspruch stand und der Irrtum des Prozessbevollmächtigten, auf dem die Erklärung beruhte, für den Gegner und das Gericht ganz offensichtlich war (BGH, Beschluss vom 21. März 1977- II ZB 5/77, zitiert nach Juris, u.ö.). Solche Gründe, die Teilrücknahme als unwirksam anzusehen, liegen jedoch nicht vor. Die Teilrücknahme dürfte zwar mit dem wirklichen Willen der Klägerinnen in Widerspruch gestanden haben. Das zeigt der Umstand, dass sich der neue Prozessbevollmächtigte auf die "Verwestlichung" als Verfolgungsgrund beruft. Dass die Teilrücknahme mit dem wirklichen Willen der Klägerinnen in Widerspruch stand, war aber für das Gericht und für die Beklagte nicht zu erkennen. Maßgeblich ist insoweit die Sach- und Rechtslage am 4. Mai 2022, dem Tag, an dem die Teilrücknahme erklärt wurde.
Entsprechendes gilt für die Klägerinnen zu 2 bis 4. Die mündliche Kündigung durch die Klägerin zu 1 bezieht sich zwar schlüssig auch auf die Kinder, so dass der ursprüngliche Prozessbevollmächtigte am 4. Mai 2022 jedenfalls nicht mehr mit der erforderlichen Vollmacht beider Sorgeberechtigter für die Kinder gehandelt hat. Das war aber bis zum 4. Mai 2022 nicht mitgeteilt worden und ein Widerspruch der Teilrücknahme mit dem wirklichen Willen der Klägerinnen zu 2 bis 4 war am 4. Mai 2022 für das Gericht und die Beklagte nicht erkennbar.
Selbständig tragend ist die Klage hinsichtlich des Flüchtlingsschutzes und des subsidiären Schutzes aber auch unbegründet:
Die Klägerin zu 1 beruft sich darauf, dass sie verfolgt würde, weil sie der bestimmten sozialen Gruppe der verwestlichten Frauen zugehöre. Dazu bestimmt § 3b Absatz 1 Nummer 4 AsylG, dass eine Gruppe insbesondere dann als eine bestimmte soziale Gruppe gilt, wenn (a) die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und (b) die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Als eine bestimmte soziale Gruppe kann nach dieser Vorschrift auch eine Gruppe gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Orientierung gründet. Handlungen, die nach deutschem Recht als strafbar gelten, fallen nicht darunter. Eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe kann auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft. Bei der Beurteilung der Frage, ob eine Verfolgungshandlung vorliegt, die an die Zugehörigkeit des Betroffenen zu einer bestimmen sozialen Gruppe anknüpft, kommt es darauf an, ob er wegen der Ausübung dieser Freiheit in seinem Herkunftsland tatsächlich Gefahr läuft, durch einen der in § 3c AsylG genannten "Akteure" verfolgt oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden.
Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer bei einer Rückkehr die genannten Gefahren mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Hierfür ist erforderlich, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine individuelle Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab gilt unabhängig von der Frage, ob der Ausländer vorverfolgt ausgereist ist oder nicht. Eine Vorverfolgung wird nach den unionsrechtlichen Vorgaben nicht über einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab, sondern über die Beweiserleichterung des Artikels 4 Absatz 4 der Qualifikationsrichtlinie berücksichtigt. Die Tatsache, dass ein Ausländer bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat oder von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ist - nach Artikel 4 Absatz 4 der Qualifikationsrichtlinie - ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Ausländers vor Verfolgung begründet ist oder dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden. Das gilt nicht, wenn stichhaltige Gründe dagegen sprechen, dass der Ausländer erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Kann der Betroffene in diesem Sinne eine Vorverfolgung nicht glaubhaft machen, ist zu prüfen, ob die festgestellten Umstände eine solche Bedrohung darstellen, dass er in Anbetracht seiner individuellen Lage begründete Furcht haben kann, tatsächlich Verfolgungshandlungen zu erleiden.
Nach § 3c AsylG (Nummer 1) kann die Verfolgung vom Staat ausgehen, aber auch (Nummer 2) von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder schließlich (Nummer 3) von nichtstaatlichen "Akteuren", sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten "Akteure" einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.
Der Asylbewerber muss zur vollen Überzeugung des Gerichts nachweisen, dass er die unterdrückte Betätigung seines religiösen Glaubens für sich selbst als verpflichtend empfindet, um seine religiöse Identität zu wahren. Hierzu gehört auch, dass er zu den in seine Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den behaupteten Anspruch lückenlos zu tragen. Es ist auch unter Berücksichtigung der Vorgaben der Qualifikationsrichtlinie Sache des Ausländers, die Gründe für seine Furcht vor politischer Verfolgung schlüssig vorzutragen. Das folgt aus den in Artikel 4 der Qualifikationsrichtlinie geregelten Mitwirkungs- und Darlegungsobliegenheiten des Antragstellers. Für die Frage, welche Anforderungen diesbezüglich an den Nachweis asylbegründender Tatsachen zu stellen sind, ist nicht vorrangig entscheidend, ob die jeweilige Tatsache vor oder nach dem Verlassen des Heimatlandes eingetreten ist. Vielmehr ist bei dieser Bewertung ein sachtypischer Beweisnotstand des Asylbewerbers zu berücksichtigen. Dieser betrifft insbesondere asylbegründende Vorgänge außerhalb des Gastlandes, für die deswegen in der Regel die Glaubhaftmachung genügt. Für Vorgänge innerhalb des Gastlandes ist dagegen grundsätzlich der volle Nachweis zu erbringen. Dabei erstreckt sich die Erforderlichkeit vollen Beweises auf die Tatsachen, aus denen der Asylbewerber die Gründe für die Furcht vor politischer Verfolgung herleitet (Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 29. November 1977 - 1 C 33.71, zitiert nach Juris).
Nach diesen Maßstäben sind die Klägerinnen nicht vorverfolgt ausgereist. Die Klägerin zu 1 ist aus Afghanistan bereits im Jahr 2005 ausgereist und hat sich danach etwa zehn Jahre im Iran aufgehalten. Die Ausreise aus Afghanistan erfolgte nicht aus Gründen in der Person der Klägerin zu 1, sondern weil ihr Ehemann einer Familienfehde ausweichen wollte. Auch für die Ausreise aus dem Iran hat die Klägerin zu 1 keine Gründe mitgeteilt, die ihre Person betreffen. Sie ist dabei wieder ihrem Ehemann gefolgt. Dasselbe gilt für die Klägerinnen zu 2, die noch in Afghanistan geboren wurde, und für die Klägerin zu 3, die während des Aufenthalts im Iran geboren wurde. Für die Klägerin zu 4 liegen keine Vorfluchtgründe vor, weil sie in Deutschland geboren wurde.
Der Klägerin zu 1 droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan auch nicht eine asylrelevante individuelle Verfolgung aus Nachfluchtgründen, weil ihre Familie die Trennung vom Ehemann und das eigenständige Leben der Klägerin zu 1 nicht tolerieren wollte. Übergriffe der Familie würden die Klägerin nicht in einem verfolgungsrelevanten Merkmal nach § 3 Absatz 1 Nummer 1 AsylG treffen. Übergriffe würden nicht an die Rasse, Religion, Nationalität, politische Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe anknüpfen. Denn die Klägerin zu 1 gibt als Grund an, dass ihr Vater sich oder die Familie in der Ehre verletzt sehe, weil sie den Ehemann verlassen habe, den er ausgesucht habe. Außerdem seien er und die Brüder nicht mit ihrem Lebensstil einverstanden, zum Beispiel damit, dass sie kein Kopftuch trage. Selbständig tragend handelt es sich bei Übergriffen der Familienangehörigen nicht um eine Verfolgung im Sinn des § 3 Absatz 1 AsylG. Weder sind die Familienangehörigen der Klägerin zu 1 im Sinn des § 3c Absatz 1 AsylG "Akteure, von denen Verfolgung ausgehen kann": Es handelt sich bei ihnen weder um staatliche Stellen, noch um Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, noch um nichtstaatliche "Akteure" im Sinn des § 3c Nummer 3 AsylG, weil nicht erwiesen ist, dass weder staatliche Stellen, noch Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder internationale Organisationen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Übergriffen der Familie zu bieten.
Für die Klägerinnen zu 2 bis 4 sind individuelle Verfolgungsgründe nicht ersichtlich.
Soweit die Klägerin zu 1 geltend macht, dass sie wegen einer Verwestlichung verfolgt werden würde, ist ein Verfolgungsgrund im Sinne des § 3b AsylG nicht ersichtlich. Es ist nicht feststellbar, dass die Klägerin zu 1 insoweit in ihrer Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe getroffen werden sollte. Insbesondere folgt der Einzelrichter nicht der Auffassung, die Klägerin gehöre der verfolgten sozialen Gruppe der in ihrer Identität westlich geprägten Frauen (dazu: Niedersächsisches OVG, Urteil vom 21. September 2015 - 9 LB 20/14, zitiert nach Juris Rdnr. 26, 38 f.) an. Die Bildung einer solchen Gruppe ist denkgesetzlich nicht zulässig, weil es sich um einen Zirkelbezug handelt, bei dem die Verfolgung, die erst festgestellt werden soll, zum Kriterium der Gruppenbildung gemacht wird. Überdies und selbständig tragend werden bei einer solchen Gruppenbildung die maßgeblichen Kategorien vertauscht, wenn eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer Gruppe mit Umständen begründet wird, die nicht gruppenbezogen sind, sondern die subjektiv und individuell sind und nur in der Identität des Betroffenen liegen sollen.
Selbständig tragend ist nicht feststellbar, dass für die angegebene bestimmte soziale Gruppe das Kriterium der deutlich abgegrenzten Identität (BVerwG, Beschluss vom 17. September 2018 - 1 B 45/18, zitiert nach Juris) erfüllt ist. Weil diese deutlich abgegrenzten Identität eine selbständige Voraussetzung ist, kann eine bestimmte soziale Gruppe im Sinn des § 3b Absatz 1 Nummer 4 AsylG und des Artikels 10 Absatz 1 Buchstabe d der Qualifikationsrichtlinie nicht allein dadurch begründet werden, dass eine Mehr- oder Vielzahl von Personen in vergleichbarer Weise von etwa als Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a Absatz 1 oder 2 AsylG und des Artikels 9 Absatz 1 oder 2 der Qualifikationsrichtlinie zu qualifizierenden Maßnahmen betroffen wird (z.B. BVerwG, Beschluss vom 17. September 2018 - 1 B 45/18 - m.w.N., zitiert nach Juris). Dazu ist das Bundesverwaltungsgericht der Auffassung, dass eine Gruppe gemäß § 3b Absatz 1 Nummer 4 AsylG insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe gilt, wenn (a) die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und kumulativ dazu (b) die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Auch nach Artikel 10 Absatz 1 Buchstabe d der Qualifikationsrichtlinie und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH, Urteile vom 7. November 2013 - C-199/12, C-200/12, C-201/12, zitiert nach Juris Gliederungsnr. 45 und vom 25. Januar 2018 - C-473/16, zitiert nach Juris Rdnr. 30), liegt eine bestimmte soziale Gruppe in diesem Sinne nicht vor, wenn die betroffene Gruppe in dem betreffenden Land nicht eine deutlich abgegrenzte Identität hat beziehungsweise nicht von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (BVerwG, Urteil vom 19. April 2018 - 1 C 29.17, zitiert nach Juris, Rdnr. 29 und 31).
Davon abgesehen sind, selbständig tragend, keine sachlichen Kriterien ersichtlich, um "Frauen, deren Identität infolge eines längeren Aufenthalts im Ausland westlich geprägt ist" von Frauen zu unterscheiden, die sich nicht länger oder gar nicht im Ausland aufgehalten haben und gleichwohl einen Lebensstil pflegen, der mit traditionellen afghanischen Vorstellungen nicht vereinbar ist. Das wäre aber erforderlich, um annehmen zu können, dass die bezeichnete Gruppe der "Frauen, deren Identität infolge eines längeren Aufenthalts im Ausland westlich geprägt ist" in Afghanistan deshalb eine deutlich abgegrenzte Identität hat, weil sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird.
Der Einzelrichter sieht sich damit nicht in Widerspruch zu der obergerichtlichen Rechtsprechung. Namentlich in dem Urteil vom 21. September 2015 (9 LB 20/14) hat das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht keine verallgemeinerbaren Rechtssätze aufgestellt, sondern seine Entscheidung auf eine umfassende Gesamtwürdigung aller Umstände des konkreten Einzelfalls gegründet.
Entsprechendes gilt für die Klägerinnen zu 2 bis 4, die Töchter der Klägerin zu 1.
Ebenso ist nicht feststellbar, dass den Klägern eine Gruppenverfolgung als Rückkehrer aus dem westlichen Ausland drohen würde, weil es dafür an der erforderlichen Verfolgungsdichte fehlt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Vielmehr müssen die Übergriffe auf alle sich im Verfolgungsgebiet aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich qualitativ und quantitativ derart ausweiten, dass daraus für jeden Gruppenzugehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Aus den Erkenntnismitteln ergeben sich allenfalls Einzelfälle, aus denen sich eine begründete Furcht jedes einzelnen Asylrückkehrers nicht herleiten lässt, bei Rückkehr selbst gefährdet zu sein (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, Stand: Mai 2021, S. 24). Zwar würde ein Aufenthalt im westlichen Ausland viele Afghanen misstrauisch machen, weil gegenüber dem Ausland angesichts der ausleibenden Verbesserung der Lage trotz westlicher Hilfeleistungen das Misstrauen gestiegen sei. Ohne weitere Anhaltspunkte werden derartige Anschuldigungen aber nicht erhoben, sodass ein Rückkehrer allein wegen seiner Rückkehr nicht asylerheblich gefährdet ist (VG Stade, Urteil vom 19. August 2020 - 6 A 2181/17 u.ö., im Anschluss an VG Oldenburg, Urteil vom 13. Mai 2020 - 3 A 6693/16 -). Denn dafür würde es nicht ausreichen, dass die Kläger als "verwestlicht" auffallen würden oder dass sie wegen einer solchen Auffälligkeit gesellschaftlich ausgegrenzt würden.
Die Klägerinnen hat auch keinen Anspruch auf subsidiären Schutz nach § 4 AsylG.
Nach § 4 Absatz 1 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt nach § 4 Absatz 1 Satz 2 Nummer 1 AsylG die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe, nach Nummer 2 Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung und nach Nummer 3 eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.
Erforderlich ist eine individuelle Gefahrendichte in dem Sinn, dass dem Kläger ein ernsthafter Schaden mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht (BVerwG, Urteil vom 17. November 2011 - 10 C 13.10, zitiert nach Juris; Beschluss vom 13. Februar 2019 - 1 B 2.19, zitiert nach Juris, m.w.N.). Dies ist der Fall, wenn bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine unangemessene Behandlung oder Bedrohung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine "qualifizierende" Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht hervorgerufen werden kann (BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 - 10 C 23.12 -; Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 19. September 2016 - 9 LB 100/15, beide zitiert nach Juris).
Einen solchen ernsthaften Schaden im Sinne des § 4 Absatz 1 AsylG müssen die Klägerinnen im Falle der Rückkehr nach Afghanistan nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit befürchten. Auch hier kommt ihnen die Beweiserleichterung des Artikel 4 Absatz 4 der Qualifikationsrichtlinie nicht zugute.
Furcht vor der Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe haben sie nicht vorgetragen und dafür ist auch nichts erkennbar.
In seinem Fall liegen auch keine stichhaltigen Gründe für die Annahme eines ernsthaften Schadens durch Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung vor.
Die Klägerinnen können schließlich auch nicht subsidiären Schutz auf der Grundlage des § 4 Absatz 1 Satz 2 Nummer 3 AsylG verlangen:
Die Gewährung subsidiären Schutzes nach § 4 Absatz 1 Satz 1 und Satz 2 Nummer 3 AsylG setzt kumulativ stichhaltige Gründe für (1) einen internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikt und (2) eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen dieses Konflikts voraus. Bezugspunkt für die Gefahrenprognose ist dabei der tatsächliche Zielort bei einer Rückkehr. Das ist in der Regel die Herkunftsregion des Ausländers, in die er typischerweise zurückkehren wird (vgl. BVerwG, Urteil vom 31. Januar 2013 - 10 C 15.12 - m.w.N., zitiert nach Juris). Hier ist dafür auf die Herkunftsregion des Klägers abzustellen, das ist Daikundi. Es ist nicht beachtlich wahrscheinlich, dass die Klägerinnen dort im Rahmen eines solchen Konflikts einer ernsthaften individuellen Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt ausgesetzt wäre.
Um eine ernsthafte individuelle Bedrohung im Sinne des § 4 Absatz 1 Satz 2 Nummer 3 AsylG anzunehmen, genügt es nicht, dass der innerstaatliche bewaffnete Konflikt zu permanenten Gefährdungen der Bevölkerung und zu schweren Menschenrechtsverletzungen führt. Allerdings kann sich eine von einem bewaffneten Konflikt ausgehende allgemeine Gefahr individuell verdichten und damit die Voraussetzungen des § 4 Absatz 1 Satz 2 Nummer 3 AsylG erfüllen. Eine derartige Individualisierung kann sich bei einem hohen Niveau willkürlicher Gewalt für die Zivilbevölkerung aus gefahrerhöhenden Umständen in der Person des Betroffenen ergeben. Dazu gehören in erster Linie persönliche Umstände, die den Kläger von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffen erscheinen lassen, etwa, weil er von Berufs wegen gezwungen ist, sich nahe der Gefahrenquelle aufzuhalten. Möglich sind ferner solche persönlichen Umstände, aufgrund deren der Kläger als Zivilperson zusätzlich der Gefahr gezielter Gewaltakte - etwa wegen seiner Religion oder seiner Volkszugehörigkeit - ausgesetzt ist. Solche gefahrerhöhenden Umstände können sich nach Auffassung des Gerichts beispielsweise aus der Zugehörigkeit zu den afghanischen Sicherheitsdiensten (Regierungsbediensteter, Polizei oder Militärangehöriger) ergeben oder bei Personen vorliegen, die solche Einrichtungen regelmäßig durch Warenlieferungen und Leistungen unterstützen. Als gefahrerhöhendes Moment kann auch die Tätigkeit als Arzt oder Journalist anzusehen sein, da dieser Personenkreis sich von Berufs wegen besonders häufig im Bereich von Gefahrenquellen aufhalten muss. Ebenso kann die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion einen gefahrerhöhenden Umstand bilden. Keines dieser Merkmale oder ein vergleichbares Merkmal liegt in der Person der Klägerinnen vor.
Fehlen, wie hier, individuelle gefahrerhöhende Umstände, so kann eine Individualisierung der allgemeinen Gefahr zwar ausnahmsweise bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betreffenden Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre. Willkürliche Gewalt gegen Zivilpersonen hat jedoch kein so hohes Niveau, dass jeder Rückkehrer allein durch seine Anwesenheit von einem ernsthaften Schaden bedroht wäre. Der Europäischen Gerichtshof hat in einer jüngeren Entscheidung im Ergebnis den Maßstab bestätigt, den das Gericht bei der Prüfung des § 4 AsylG zu Grunde legt. Nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofs muss die Feststellung, ob eine ernsthafte individuelle Bedrohung im Sinne von Artikel 15 Buchstabe c der Qualifikationsrichtlinie vorliegt (den § 4 AsylG in deutsches Recht umsetzt), im Rahmen einer umfassenden Berücksichtigung aller erheblichen Umstände des Einzelfalls erfolgen. Berücksichtigt werden können insbesondere etwa die Intensität der bewaffneten Auseinandersetzungen, der Organisationsgrad der beteiligten Streitkräfte und die Dauer des Konflikts, das räumliche Ausmaß der Lage willkürlicher Gewalt, der tatsächliche Zielort des Klägers bei einer Rückkehr in das betreffende Land und die Aggression der Konfliktparteien gegen Zivilpersonen, die eventuell mit Absicht erfolgt (EuGH, Urteil vom 10. Juni 2021 - C-901/19 -, zitiert nach Juris, Rdnr. 43). Der Zahl der zivilen Opfer beziehungsweise dem Verhältnis dieser Zahl zur Gesamtbevölkerungszahl darf zwar keine allein ausschlaggebende Bedeutung bei der Beurteilung der maßgeblichen Gefahrendichte beigemessen werden, dieses Kriterium kann jedoch auch für die Feststellung einer Bedrohungslage als erheblich angesehen werden (EuGH, a.a.O., zitiert nach Juris Rdnr. 31 ff.; VG Stade, Urteil vom 1. Juni 2021 - 3 A 157/18 -, n.v, S. 10).
In Daikundi, aber auch im Rest von Afghanistan, besteht nach der Machtübernahme der Taliban kein Gefahrengrad, bei dem jede in dem betreffenden Gebiet anwesende Zivilperson dort einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre. Ein innerstaatlicher Konflikt ist nur im Hinblick auf die Auseinandersetzungen zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung ernsthaft diskutiert worden. Diese Auseinandersetzungen haben mit der Machtübernahme der Taliban und dem Ende des regional begrenzten bewaffneten Widerstands gegen diese ihr Ende gefunden. Entsprechend ist die Gewaltausübung und die Betroffenheit der Zivilbevölkerung zurückgegangen (EASO, COI Query: The General Security Situation after the Taliban's Takeover, 15. November 2021 S. 6 ff.).
Die Klage ist nach alledem nur mit dem über die Anerkennung als Asylberechtigte und den internationalen Schutz hinausgehenden Anträgen zulässig und begründet. Die Klägerinnen haben einen Anspruch darauf, dass die Beklagte feststellt, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Absatz 5 und 7 Satz 1 AufenthG vorliegt. Insoweit ist der Bescheid vom 28. Mai 2017 rechtswidrig und verletzt sie in ihren Rechten. Im Übrigen ist der Bescheid rechtmäßig und verletzt die Klägerinnen nicht in ihren Rechten. Der maßgebliche Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist nach § 77 Absatz 1 AsylG der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung. Das ist der 13. April 2022.
Gemäß § 60 Absatz 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Europäischen Menschenrechtskonvention ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Dabei sind alle Verbürgungen der Europäischen Menschenrechtskonvention in den Blick zu nehmen, aus denen sich ein Abschiebungsverbot ergeben kann. Erfasst ist unter anderem das Verbot der Abschiebung in einen Zielstaat, in welchem dem Ausländer Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne von Artikel 3 EMRK droht. § 60 Absatz 5 AufenthG in Verbindung mit Artikel 3 EMRK steht einer Abschiebung entgegen, wenn es ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür gibt, dass der Betroffene tatsächlich Gefahr läuft, im Aufnahmeland einer Artikel 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Maßgeblich sind die Gesamtumstände des jeweiligen Falls und Prognosemaßstab ist die beachtliche Wahrscheinlichkeit. Ein Abschiebungsverbot infolge der allgemeinen Situation der Gewalt im Herkunftsland kommt nur in Fällen ganz extremer Gewalt in Betracht und auch schlechte humanitäre Bedingungen können nur in begründeten Ausnahmefällen ein Abschiebeverbot nach § 60 Absatz 5 AufenthG in Verbindung mit Artikel 3 EMRK begründen (BVerwG, Urteil vom 31. Januar 2013 - 10 C 15/12, zitiert nach Juris; EGMR, Urteile vom 21. Januar 2011 - Nr. 30696/09, NVwZ 2011, 413, vom 28. Juni 2011 - Nr. 8319/07, NVwZ 2012, 681 und vom 13. Oktober 2011 - Nr. 10611/09, NJOZ 2012, 952).
Bei der Entscheidung darüber, ob im Falle einer Abschiebung die Gefahr von Misshandlungen im vorstehend beschriebenen Sinn besteht, müssen die absehbaren Folgen unter Berücksichtigung der allgemeinen Lage im Bestimmungsland und der besonderen Umstände des Betroffenen geprüft werden. Eine Abschiebung kann die Verantwortlichkeit des Staates nach der Konvention dabei nur begründen, wenn es ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür gibt, dass der Betroffene im Fall seiner Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, im Aufnahmeland einer Behandlung ausgesetzt zu werden, die Artikel 3 EMRK widerspricht (EGMR, Urteil vom 4. November 2014 - Nr. 29217/12, NVwZ 2015, 127 m.w.N.). Dieser Prognosemaßstab entspricht im Ansatz dem der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (BVerwG, Urteile vom 1. März 2012 - 10 C 7.11 - und vom 27. April 2010 - 10 C 5.09, zitiert nach Juris, zur Vorgängerrichtlinie, Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes).
Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Absatz 5 AufenthG in Verbindung mit Artikel 3 EMRK liegt nach diesem Maßstab vor, wenn bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine drohende Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Für die Beurteilung sind alle festgestellten Umstände und ihre Bedeutung zu gewichten und abzuwägen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen eine Rückkehr in das Heimatland als unzumutbar einzuschätzen ist (BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 - 10 C 23.12, zitiert nach Juris). Dies setzt voraus, dass im Zielstaat der Abschiebung das für eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung erforderliche Mindestmaß an Schwere erreicht wird. Das kann der Fall sein, wenn ein Ausländer im Zielstaat seinen existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern kann, kein Obdach findet oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhält. Einer weitergehenden "abstrakten Konkretisierung" ist das Erfordernis, dass ein gewisses Mindestmaß an Schwere erreicht sein muss, nicht zugänglich. Vielmehr müssen im Übrigen alle Umstände des Einzelfalls gewürdigt werden (BVerwG, Beschluss vom 8. August 2018 - 1 B 25.18, zitiert nach Juris). Grund dafür, dass die Sicherung des Lebensunterhalts unmöglich ist, kann eine Verhinderung eines Zugangs zum Arbeitsmarkt oder auch ein Fehlen staatlicher Unterstützungsleistungen sein (BVerwG, Beschluss vom 23. August 2018 - 1 B 42.18, zitiert nach Juris).
Bei "nichtstaatlichen" Gefahren für Leib und Leben ist ein sehr hohes Schädigungsniveau erforderlich, da nur dann ein außergewöhnlicher Fall vorliegt, in dem etwa die humanitären Gründe entsprechend den Anforderungen des Artikel 3 EMRK "zwingend" sind (Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 31. Januar 2013 - 10 C 15.12, zitiert nach Juris; EGMR, Urteil vom 28. Juni 2011 - Nr. 8319/07, NVwZ 2012, 681). Für ein Abschiebungsverbot aus § 60 Absatz 5 AufenthG in Verbindung mit Artikel 3 EMRK aufgrund der allgemeinen Lebensverhältnisse im Zielstaat ist jedoch nicht erforderlich, dass eine Extremgefahr vorliegt wie im Rahmen der verfassungskonformen Anwendung von § 60 Absatz 7 Satz 1 AufenthG (BVerwG, Beschluss vom 23. August 2018 - 1 B 42.18, zitiert nach Juris). Nach diesem Maßstab und aufgrund der aktuellen Erkenntnismittel gelangt der Einzelrichter zu der Überzeugung, dass im Falle der Klägerinnen eine Abschiebung nach Afghanistan eine Verletzung von Artikel 3 EMRK darstellen würde und deshalb ein Abschiebungsverbot nach § 60 Absatz 5 AufenthG vorliegt.
Seit der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 hat sich die humanitäre Lage in Afghanistan und namentlich in Kabul nochmals erheblich verschlechtert. Nach Angaben von UN-OCHA kehrten schon in den ersten sieben Monaten des Jahres 2021 aus dem Iran 663 000 Personen und aus Pakistan 7 600 Personen nach Afghanistan zurück. Zudem werden 546 000 Binnenvertriebene angegeben (UN-OCHA, Afghanistan: Snapshot of Population Movements [January - July 2021 (as of 22th Aug. 2021], abrufbar unter https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/afg_population_ movement_snapshot_20210822.pdf). Vom 1. Juli bis zum 15. August 2021 sind 17 600 Binnenvertriebene nach Kabul gekommen. Diese kamen entweder bei Familie, Freunden oder Bekannten, oder zur Miete unter; eine wachsende Zahl lebt jedoch im Freien an verschiedenen Orten in der Stadt Kabul. Aus dem Kreis dieser Personen wurde bereits Mitte August davon berichtet, dass verschiedene Krankheiten und weitere gesundheitliche Missstände aufgetreten seien, unter anderem Durchfall, Mangelernährung bei Kindern, hoher Blutdruck oder COVID-19-artige Symptome (UN-OCHA, Afghanistan: Internal Displacement in Kabul - Flash Update Nr. 4 (15. August 2021). Nach der Übernahme Kabuls durch die Taliban ist ein Teil der Binnenvertriebenen wieder in die Heimatorte im Nordosten zurückgekehrt (UN-OCHA, Afghanistan: Weekly Humanitarian Update (30. August - 5. September 2021). Andererseits kamen nach ersten Informationen im September 2021 neue Binnenvertriebene aus der Provinz Pandschir in die Stadt Kabul. Für 2022 wird davon ausgegangen, dass 777 427 Personen nach Vertreibung auf humanitäre Hilfe angewiesen sind und dass 23 bis 24,4 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen sein werden (USAID, Afghanistan - Complex Emergency, 31. März 2022; UNOCHA, Daily Noon Briefing Highlights: Ukraine, Afghanistan, Syria, 31. März 2022).
Die Lebensmittelpreise sind weiter gestiegen, ebenso die Preise für Brennstoff. 2021 war Afghanistan von der zweiten Dürre seit 2018 betroffen. Die Ernte sei deshalb schlecht gewesen, beim Weizen sei der Ertrag im Vergleich zu 2020 um 47 Prozent niedriger gewesen. Hilfsorganisationen unterstützten die Einwohner mit Lebensmittellieferungen. Die Unterstützungsleistungen seien im Vergleich zum Vorjahr bedeutend aufgestockt worden. Die Taliban bereiteten dabei keine Probleme. Das Welternährungsprogramm habe mit Stand 17. November 2021 13,7 Millionen Personen unterstützt, davon 5,5 Millionen im Oktober 2021; die FAO hat im Jahr 2021 2,62 Millionen Menschen unterstützt, 1,37 Millionen davon im letzten Quartal des Jahres (Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Humanitäre Lage, vom 6. Dezember 2021, S. 6 ff. m.w.N., 16 f. m.w.N.; FAO Country Profiles Afghanistan, April 2022).
Das afghanische Banken- und Finanzsystem ist beinahe zum Stillstand gekommen. Es ist in Afghanistan kaum noch möglich, an Bargeld zu gelangen. Die meisten afghanischen Banken können Geldabhebungen durch Privatpersonen und Hilfsorganisationen nicht mehr durchführen. Selbst wenn Geld elektronisch übermittelt wird, ist es wegen des Bargeldmangels physisch nicht verfügbar. Die afghanische Wirtschaft sei dabei allerdings stark bargeldorientiert. Ausländische Regierungen und Banken tätigten wegen der UN-Sanktionen und der bilateralen Sanktionen der USA und anderer Staaten keine direkten Geschäfte mehr mit der afghanischen Zentralbank. Das hat die Liquiditätsengpässe der Banken in Afghanistan verschärft. Hilfsorganisationen seien teilweise nicht in der Lage, die Gehälter von Ärzten oder Pflegepersonal zu bezahlen. Ausländische Währungen sind von den Taliban verboten worden. Auch wenn Bargeld vorhanden ist, ist die Abhebung von Bargeld zudem auf 30 000 Afghani in der Woche begrenzt. Selbst wer über Guthaben verfügt, hat deshalb Schwierigkeiten, Lebensmittel und Haushaltsbedarf zu bezahlen. Es gibt Berichte darüber, dass deshalb auf der Straße Möbel gegen Lebensmittel getauscht würden und dass Familien ihre Kinder verkauften. Die Weltbank hat nach einem Bericht der Washington Post die Auszahlung von 1,5 Milliarden Dollar an Geldern für den Wiederaufbau Afghanistans ausgesetzt. Die UN hoffe, dass ein Teil dieser Mittel in Fonds fließt, die von den Vereinten Nationen verwaltet werden. Devisenreserven der afghanischen Regierung von etwa 10 Milliarden Dollar, größtenteils in den USA, wurden eingefroren (Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Humanitäre Lage, vom 6. Dezember 2021, S. 11 ff. m.w.N.). Die Stromversorgung sei davon bedroht, dass ausländische Zulieferer wegen der offenen Rechnungen ihre Lieferungen einstellen könnten (Accord, a.a.O. S. 16 m.w.N.).
Seit dem 17. August 2021 ist die geförderte freiwillige Rückkehr nach Afghanistan - in deren Rahmen ein alleinstehender freiwilliger Rückkehrer durch die beiden Programme "REAG/GARP 2020" sowie das ergänzende Programm "Starthilfe Plus" zuletzt Zahlungen in Höhe von bis zu 3 700 Euro erhalten konnte - bis auf Weiteres ausgesetzt (https://www.returningfromgermany.de/de/countries/afghanistan).
Es ist beachtlich wahrscheinlich, dass es den Klägerinnen unter diesen Umständen nicht gelingt, ein Haushaltseinkommen zu erzielen, welches es ihm erlaubte, sich zumindest eine bescheidene Existenz aufzubauen.
Zwar ist die Klägerin zu 1 jung und nach dem persönlichen Eindruck, den der Einzelrichter in der mündlichen Verhandlung gewonnen hat, uneingeschränkt arbeitsfähig. Es ist jedoch nicht ersichtlich, dass sie bei einer Rückkehr nach Kabul oder Daikundi eine für Frauen zugelassene Berufstätigkeit ausüben könnte. Denn die Klägerin zu 1 verfügt bisher nicht über einen Schulabschluss oder eine Berufsausbildung. Entsprechendes gilt für ihre Töchter. Dass Frauen auf dem Tagelöhnermarkt eine Beschäftigung finden könnten, schließt der Einzelrichter nach den vorliegenden Erkenntnismitteln aus. Die Klägerinnen können nach den glaubhaften Angaben der Klägerin zu 1 auch keine familiäre Unterstützung bei der Lebensführung erwarten. Zwar leben der Vater, die Brüder und eine Schwester der Klägerin zu 1 in Afghanistan. Es ist aber entgegen der Auffassung der Beklagten nicht beachtlich wahrscheinlich, dass diese die Klägerinnen unterstützen werden. Die Klägerin zu 1 hat dazu glaubhaft berichtet, dass der Vater und die Brüder sie ablehnen, weil sie ihren Ehemann verlassen hat und nicht mehr nach afghanischer Tradition lebt. Der Einzelrichter geht davon aus, dass das auch zu einer mindestens starken Entfremdung der Großfamilie in Afghanistan von der Klägerin zu 1 geführt hat. Zusätzlich zu der schlechten wirtschaftlichen Situation ist deshalb ist von dieser Seite keine Hilfsbereitschaft mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten. Der Einzelrichter geht außerdem davon aus, dass die Ablehnung der Klägerin zu 1 durch die Familie in Afghanistan auf die Klägerinnen zu 2 bis 4 erstreckt wird, weil diese mit der Klägerin zu 1 familiär zusammengehören.
Mit dieser Bewertung sieht sich der Einzelrichter nicht in Widerspruch zu der Rechtsprechung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts. Denn dessen Einschätzung entspricht es, dass ein arbeitsfähiger Mann sich seinen Lebensunterhalt durch Tagelöhnerarbeiten verdienen kann (Urteil vom 29. Januar 2019 - 9 LB 93/18). In jenem Urteil gelangte das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht zu der Auffassung, dass die verfügbaren Erkenntnisse nicht den Schluss darauf zuließen, dass jeder aus Europa abgeschobene männliche Afghane in Kabul oder in den Städten Herat oder Mazar-e Sharif ohne Hinzutreten besonderer Umstände so gefährdet wäre, dass ihm bei seiner Rückkehr eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Artikel 3 EMRK drohen würde. Zwar sei die Lage in Kabul prekär und sowohl die wirtschaftlichen Voraussetzungen als auch die humanitären Umstände sind schlecht. Zudem habe sich in den letzten Jahren die Sicherheitslage noch einmal deutlich verschlechtert. Dennoch könne nicht für sämtliche Rückkehrer aus dem westlichen Ausland, denen es in Kabul oder in Afghanistan insgesamt an familiären oder sonstigen Beziehungen oder an Unterstützungsnetzwerken fehle, angenommen werden, die schlechten Bedingungen im Land könnten generell und bei allen diesen Rückkehrern ganz außerordentliche individuelle Umstände darstellen und die hohen Anforderungen zur Bejahung des Artikel 3 EMRK erfüllen (so auch Sächsisches OVG, Urteil vom 18. März 2019 - 1 A 198/18.A , zitiert nach Juris). Das Erwirtschaften eines - wenn auch sehr geringen - Einkommens werde der Gruppe leistungsfähiger nach Afghanistan zurückkehrender Männer trotz des angespannten Arbeitsmarkts wenigstens als Tagelöhner möglich sein (Nds. OVG, Urteil vom 29. Januar 2019 - 9 LB 93/18, zitiert nach Juris unter Bezugnahme auf Nds. OVG, Urteil vom 19. September 2016 - 9 LB 100/15).
Dem folgt der Einzelrichter grundsätzlich weiterhin (Urteil vom 9. Juli 2021 - 6 A 1507/17 u.ö. mit Bezug auf u.a. Bayerischer VGH, Beschluss vom 28. Oktober 2020 - 13a ZB 20.31934, zitiert nach Juris; a.A. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 17. Dezember 2020 - A 11 S 2022/20, Hamburgisches OVG, Urteil vom 23. Februar 2022 - 1 Bf 282/20.A, beide zitiert nach Juris). Diese Einschätzung gilt jedoch nicht für alleinstehende Frauen.
Überdies ist selbst für die grundsätzliche Bewertung für arbeitsfähige Männer insbesondere maßgeblich, dass die Betreffenden ausreichend belastbar und durchsetzungsfähig sind und in Afghanistan über familiäre beziehungsweise soziale Beziehungen oder andere Unterstützung verfügen (OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 30. November 2020 - 13 A 11421/19, zitiert nach Juris). Dafür sind die Ausführungen von Schwörer (Auswirkungen der COVID-Pandemie auf die Lage in Afghanistan, Gutachten vom 30. November 2020 und Protokoll des VGH Baden-Württemberg vom 15. Dezember 2020 in den Sachen A 11 S 2042/20 und A 11 S 2091/20) grundlegend (VG Stade, Urteil vom 9. Juli 2021 a.a.O. u.ö.). Dort wird insbesondere herausgestellt, dass es für jemanden, der ganz frisch sei und kein "Netzwerk" habe, schwer vorstellbar sei, eine Anstellung zu finden. Auf dem sogenannten informellen Sektor verdienten Angestellte unabhängig von der Art der Tätigkeit zwischen 5 000 Afghani und 10 000 Afghani im Monat, bei sinkender Tendenz im Jahr 2020. Aufgrund der wirtschaftlichen Situation und den stark eingeschränkten Ressourcen sei es aber unmöglich, ohne ein "Netzwerk" solch eine Anstellung zu finden: Verwandte würden Außenstehenden vorgezogen. Viele Projekte mit großen Baustellen seien aufgrund COVID- 19 Epidemie bis auf Weiteres gestoppt; große öffentliche Bauvorhaben seien aufgrund der gesunken Steuereinnahmen eingestellt. Die Arbeit für Tagelöhner versiege nach Angaben eines Mitarbeiters der Weltbank im ganzen Land. Wirtschaftliche Investitionen seien auf einem Tiefpunkt und die wirtschaftliche Situation würde sich weiter verschlechtern. Nach Einschätzung eines WFP-Mitarbeiters habe COVID-19 besonders die Menschen in den Städten getroffen, da geschätzt 16 Millionen Afghanen auf Tagelöhnerarbeit angewiesen sind - und das seien die ersten gewesen, die ihre Arbeit verloren hätten. Weiter hat der Einzelrichter regelmäßig zu Grunde gelegt, dass ein Rückkehrer für einen begrenzten Übergangszeitraum eine Existenzgefährdung durch den Einsatz von durch IOM bereitgestellten Rückkehrhilfen sowie mit Hilfe von humanitären Flüchtlingsorganisationen in Afghanistan vermeiden könne. Diese Unterstützung hätten zwar auch die Klägerin erhalten können - Unterstützung in Gestalt von Geldzahlungen konnten afghanische Rückkehrer, die sich freiwillig in ihr Heimatland zurückbegeben, im Wesentlichen über zwei Programme erlangen (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 17. Dezember 2020 - A 11 S 2042720, zitiert nach Juris, Rdnr. 92 ff.). Das galt auch für den Fall, dass der Rückkehrer in Afghanistan auf eine negative Einstellung gestoßen sein sollte, weil er in Deutschland ohne Erfolg Asyl gesucht hat. Auch in diesem Fall konnte er nach Überzeugung des Gerichts von Unterstützungsprogrammen profitieren und seinen Lebensunterhalt sicherstellen (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 12. Oktober 2018 - A 11 S 316/17, zitiert nach Juris, Rdnr. 343 ff.). Unter den dargestellten Verhältnissen ist es jedoch - insoweit selbständig tragend gegenüber der grundsätzlichen Annahme, dass die Klägerinnen keine zulässige Erwerbstätigkeit finden würden, weil sie derzeit Frauen ohne Schulabschluss und ohne Berufsausbildung sind - im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts beachtlich wahrscheinlich, dass die Klägerinnen in absehbarer Zeit keine Beschäftigung finden können, die ihnen die nötigen finanziellen Mittel für die Beschaffung von Lebensmitteln und einer Unterkunft ermöglicht. Vor allem ist dies über die bezeichnete grundsätzliche Annahme hinaus der Fall, weil als gesichert festzustellen ist, dass es schon wegen der Einstellung des internationalen Bankverkehrs gegenwärtig keine Übergangshilfen geben kann, mit denen die Klägerinnen die Anfangszeit überbrücken könnten, bis sie eine Beschäftigung gefunden hätten. Ob insoweit auf Hawala-Überweisungen verwiesen werden kann, insbesondere des in Deutschland lebenden geschiedenen Ehemanns der Klägerin zu 1 und Vater der Klägerinnen zu 2 bis 4, lässt der Einzelrichter im Hinblick darauf dahinstehen, dass solche Überweisungen nach deutschen Recht strafbar sein dürften, weil damit unerlaubt Bankgeschäfte betrieben würden.
Ob die Voraussetzungen des § 60 Absatz 7 Satz 1 AufenthG erfüllt sind, kann dahinstehen, da es sich bei dem Abschiebungsverbot nach § 60 Absatz 5 und 7 Satz 1 AufenthG um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand handelt (BVerwG, Urteil vom 8. September 2011 - 10 C 14.10, zitiert nach Juris). Deshalb kann auch die unzutreffende Auffassung der Beklagten zu der verfassungskonformen Auslegung des § 60 Absatz 7 AufenthG dahinstehen.
Die Abschiebungsandrohung sowie die Fristbestimmung für das Einreise- und Aufenthaltsverbot sind nach alledem rechtswidrig, weil sie voraussetzen, das weder ein Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter noch ein Anspruch auf internationalen Schutz noch ein Abschiebungsverbot nach § 60 Absatz 5 und 7 Satz 1 AufenthG besteht.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Absatz 1 und 2 VwGO, § 159 Satz 1 VwGO und § 100 der Zivilprozessordnung (ZPO) für die geteilten außergerichtlichen Kosten und auf § 83b AsylG für die Gerichtskosten.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nummer 11 und § 711 ZPO.