Verwaltungsgericht Braunschweig
Urt. v. 30.07.2021, Az.: 2 A 275/18
Ehrenmord; Familienehre; Irak; Kurdistan; soziale Gruppe; Stammesjustiz; Zwangsheirat
Bibliographie
- Gericht
- VG Braunschweig
- Datum
- 30.07.2021
- Aktenzeichen
- 2 A 275/18
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2021, 70937
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 3b Abs 1 Nr 4 AsylVfG 1992
- § 3e AsylVfG 1992
- § 4 Abs 1 AsylVfG 1992
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
1. Von Familie und Mehrheitsgesellschaft als entehrt bzw. ehrlos angesehene Frauen
im Irak stellen eine soziale Gruppe im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG dar, von sog. Ehren-Mord bedrohte Männer (ohne von der Norm abweichende geschlechtliche oder sexuelle Identität) hingegen regelmäßig nicht.
2. Betroffenen, die von einem größeren, etablierten und einflussreichen Familienclan verfolgt werden, steht im Irak in der Regel keine innerstaatliche Fluchtalternative nach § 3e AsylG zur Verfügung. Weil der vermeintliche Makel der Familienehre im Laufe der Zeit nicht abnimmt, besteht auch nach vielen Jahren noch eine Verfolgungsgefahr.
Tatbestand:
Die Kläger sind irakische Staatsangehörige, kurdischer Volkszugehörigkeit und muslimischen Glaubens aus G..
Die Klägerin zu 1) schloss im Irak die Schule mit dem Abitur ab und studierte zwei Jahre lang Landwirtschaft, verließ die Universität dann aber ohne Abschluss. Sie lebte zusammen mit ihrer Familie im Haus ihrer Eltern. Ihre finanzielle Situation war durchschnittlich und sie erhielt Unterstützung von ihren Eltern. Der Kläger zu 1) besuchte ebenfalls das Gymnasium, brach die Schule aber ab und arbeitete seit 2010 selbstständig im Einzelhandel. Seine wirtschaftliche Situation war ebenfalls durchschnittlich. Er lebte ebenfalls zusammen mit seinen Eltern in seinem Elternhaus. Die Kläger verließen ihr Heimatland am H. und reisten auf dem Luft- und Landweg über die Türkei, Griechenland, Serbien und Rumänien nach Deutschland. Die Kosten der Reise von 15.000 Euro finanzierte der Kläger zu 2) von seinem Ersparten. Der Kläger zu 2) reiste bereits am 11.01.2018 ein, die Klägerin zu 1) am 30.01.2018. Im Irak leben noch die Eltern, drei Brüder, fünf Schwestern und die Großfamilie der Klägerin zu 1) sowie die Eltern, drei Schwestern, ein Bruder und die Großfamilie des Klägers zu 2).
Die Kläger stellten am 08.02.2018 einen Asylantrag bei der Beklagten. Ihre persönliche Anhörung erfolgte am 19.02.2018.
Die Klägerin zu 1) berichtete, sie sei vor ihrem Vater und ihren Brüdern aus dem Irak geflohen, weil sie sie hätten zwingen wollen, jemand anderen als ihren Lebensgefährten, den Kläger zu 2), zu heiraten. Sie habe ihn vor etwa drei Jahren in dem Bekleidungsgeschäft kennen gelernt, das ihm gehört habe. Weil sie und ihre Schwestern bei ihm öfters Kleidung aus der Türkei bestellt hätten, hätten sie ihre Handynummern im Geschäft hinterlassen. Eines Tages habe er sie angerufen und ihr seine Liebe gestanden. Sie habe ihn dann regelmäßig im Laden und auch zweimal an der Universität getroffen. Ihr Lebensgefährte habe sie heiraten wollen, aber sie sei davon ausgegangen, dass ihre Familie den Antrag ablehnen würde, weil sie noch zu jung gewesen sei und erst ihr Studium habe abschließen sollen, deshalb hätten sie noch gewartet.
I. J. habe ihr dann ein Cousin einen Heiratsantrag gemacht. Sie habe abgelehnt, aber ihre Familie sei sehr traditionell und habe gewollt, dass sie innerhalb der Familie heirate. Um darauf zu reagieren, habe dann auch die Familie ihres Lebensgefährten ihrer Familie im J. einen Heiratsantrag überbracht. Erst dann habe ihre Familie von der Beziehung erfahren. Ihr Vater habe sich sehr darüber geärgert und noch keine konkrete Antwort geben wollen. Dann habe man sie geschlagen und ihr gesagt, dass man sie niemals den Kläger zu 1) heiraten lassen werde. Sie habe die „Ehre“ der Familie durch die Beziehung zu einem fremden Mann beschmutzt. Ihr Lebensgefährte habe es nochmal versucht und einen zweiten Heiratsantrag gemacht, doch danach habe ihr Vater ihrem Cousin mitgeteilt, dass er seinen Antrag annehme und er sie nun heiraten könne. Sie habe ihrem Vater gesagt, sie werde sich lieber umbringen als ihren Cousin zu heiraten, doch das habe ihn nicht beeindruckt.
Man habe sie misstrauisch beobachtet und überwacht, doch eines Tages sei es ihr gelungen, ihren Lebensgefährten zu kontaktieren, und sie habe ihm vorgeschlagen, gemeinsam das Land zu verlassen. Sie habe gewartet, bis kaum jemand von ihrer Familie zu Hause war und dann mit ihrem Reisepass das Haus verlassen. Ihr Lebensgefährte habe auf der Straße in einem Taxi gewartet. Sie seien dann zusammen zum Flughafen in K. gefahren und von dort aus in die Türkei gereist. Ihr Lebensgefährte sei danach noch mit seinem Bruder in Kontakt gewesen und habe ihr berichtet, dass ihre Familie seine nach ihrer Ausreise zweimal aufgesucht und gefordert habe, dass sie sie ausliefern solle. Sie gehe davon aus, dass ihre Familie sie beide umgebracht hätte, wenn sie im Irak geblieben wären. Innerhalb des Irak zu fliehen hätte nicht ausgereist, weil ihre Familie sie überall hätte finden können.
Der Kläger zu 2) berichtete, seine Lebensgefährtin, die Klägerin zu 1), und er seien im Irak mit dem Tode bedroht worden und deshalb geflohen. 2015 habe er seine Lebensgefährtin kennen gelernt, als sie mit ihren Schwestern in seinem Laden eingekauft habe, und sie hätten eine Beziehung begonnen. Sie hätten oft miteinander telefoniert und in seinem Laden geredet, zweimal habe er sie auch an der Uni besucht, aber sie hätten nie Geschlechtsverkehr gehabt. Seiner eigenen Familie habe er erzählt, dass er eine Frau gefunden habe, die er liebe, doch sie seien dafür gewesen, dass sie vor der Heirat erst ihr Studium beenden solle.
L. J. habe sie ihn angerufen und ihm gesagt, dass sie nun ihrem Cousin versprochen sei. Daraufhin hätten sie sich verlobt und etwa am M. habe er den Vater seiner Lebensgefährtin zweimal gebeten, sie heiraten zu dürfen, doch er habe ihn vertröstet und gesagt, sie solle erst ihr Studium abschließen. Doch er habe sein Wort nicht gehalten und weiter eine Hochzeit mit ihrem Cousin geplant.
N. 2017 habe seine Lebensgefährtin ihm gesagt, sie werde sich umbringen, wenn sie nicht gemeinsam fliehen würden. Sie sei von ihrer Familie geschlagen, von der Universität abgemeldet und sogar von ihren Freundinnen isoliert worden, damit sie nicht heimlich Kontakt zu ihm aufnehmen konnte. Er sei verzweifelt und überfordert gewesen und habe überlegt, ob sie wirklich die Richtige für ihn sei. Schließlich habe er aber sein Auto verkauft und seine Ersparnisse zusammengesammelt, um die Ausreise finanzieren zu können. Vier Tage vor seiner Ausreise habe er aufgehört, in seinem Bekleidungsgeschäft zu arbeiten und seinem Bruder mit dem Verkauf des Ladens beauftragt. Sie seien lange auf der Flucht gewesen und hätten in Rumänien sogar unterschiedliche Fluchtwege nehmen müssen, was ihn sehr belastet habe.
Zwar sei er bis zu seiner Ausreise nicht selbst bedroht worden. Sein Bruder habe ihm aber berichtet, die Familienmitglieder seiner Lebensgefährtin seien zweimal zu ihm nach Hause gekommen und hätten gedroht, sie beide zu töten, weil die „Familienehre“ verletzt sei. Sie hätten auch den Rest seiner Familie bedroht, weil sie ihnen unterstellt hätten, sie hätten ihm und seiner Lebensgefährtin zur Flucht verholfen. So etwas komme häufig vor und auch ein Cousin von ihm sei in einem ähnlichen Fall umgebracht worden. Die Polizei könne einem in solchen Fällen nicht helfen. Ihr Stamm sei groß und habe sie überall im Irak finden können. Selbst in der Türkei habe er sich noch unsicher gefühlt.
Mit zwei Bescheiden vom 01.03.2018 lehnte die Beklagten für beide Kläger die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Ziffer 1), den Antrag auf Asylanerkennung (Ziffer 2) und die Zuerkennung subsidiären Schutzes (Ziffer 3) ab, stellte das Fehlen von Abschiebungsverboten fest (Ziffer 4), drohte die Abschiebung in den Irak an (Ziffer 5) und befristete das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate (Ziffer 6). Sie begründete die Ablehnung im Wesentlichen damit, für den Kläger zu 2) fehle es schon an einem Verfolgungsgrund. Für beide Kläger bestehe keine landesweite Bedrohung, sondern sie könnten eine interne Fluchtalternative aufsuchen, etwa in K. oder Sulaimaniya. Die Bedrohung sei nicht so groß wie angenommen, denn der Vater der Klägerin zu 1) habe den Heiratsantrag nicht sofort abgelehnt und auch seine Drohungen gegenüber der Familie des Klägers zu 2) nicht umgesetzt.
Die Bescheide wurden am 28.03.2018 an die frühere Adresse der Kläger in der Erstaufnahmeeinrichtungen in O. und P. ausgehändigt. Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob den Bescheiden eine Rechtsbehelfsbelehrung beigefügt war. Die aus den elektronischen Asylakten der Beklagten ersichtlichen Rechtsbehelfsbelehrungen benennen das Verwaltungsgericht Göttingen als das zuständige Gericht. Am 10.04.2018 wurden die Kläger umverteilt und nach A-Stadt zugewiesen.
Die Kläger haben am 19.04.2018 zwei Klagen zum Verwaltungsgericht Göttingen erhoben. Die Klagen sind am 14.05.2018 an das Verwaltungsgericht Braunschweig verwiesen worden. Das Gericht hat die Klagen zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden.
Die Kläger halten die angefochtenen Bescheide für rechtswidrig. Sie beziehen sich auf ihren bisherigen Vortrag und ergänzen, die Familie der Klägerin zu 1) gehöre dem Stamm der Q. an, der sehr mächtig und einflussreich sei. Die gemeinsame Flucht der beiden betrachteten sie als Entführung und neue Ehrverletzung, die sie ohne eine Bestrafung der zwei nicht hinnehmen könnten, ohne an Ansehen zu verlieren.
Die Kläger beantragen,
die Beklagte zu verpflichten, ihnen die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, hilfsweise den subsidiären Schutzstatus, ganz hilfsweise, für sie Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG festzustellen, und die Bescheide der Beklagten vom 01.03.2018 aufzuheben, soweit sie dem entgegenstehen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie verweist zur Begründung auf die angefochtene Entscheidung.
In der mündlichen Verhandlung trugen die Kläger u. a. vor, sie hätten gleich nach ihrer Ausreise in der Türkei religiös geheiratet und erwarteten nun ein gemeinsames Kind.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Tatbestandes wird auf die Gerichtsakte und die elektronischen Asylakten der Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die Einzelrichterin (§ 76 Abs. 1 AsylG) konnte trotz Ausbleibens eines Vertreters der Beklagten in der mündlichen Verhandlung am 30.07.2021 verhandeln und entscheiden, da die Beklagte ordnungsgemäß geladen und bei der Ladung hierauf hingewiesen worden war, § 102 Abs. 2 VwGO.
Die Klage ist zulässig.
Sie wurde insbesondere fristgerecht erhoben, weil, auch wenn man unterstellt, dass den am 28.03.2018 zugestellten Bescheiden die in den elektronischen Asylakten gespeicherten Rechtsbehelfsbelehrungen beigefügt waren, diese unrichtig waren und deshalb die Jahresfrist des § 58 Abs. 2 Satz 1 VwGO gilt. Die Rechtsbehelfsbelehrung benannte jeweils das Verwaltungsgericht Göttingen als zuständiges Gericht. Aufgrund der Zuweisung der Kläger nach A-Stadt am 10.04.2018 war zum Zeitpunkt des Ablaufs der zweiwöchigen Klagefrist am 11.04.2018 und auch zum Zeitpunkt der Klageerhebung am 14.05.2018 aber gem. § 52 Nr. 2 Satz 3 VwGO das Verwaltungsgericht Braunschweig für die Klage zuständig (vgl. zum maßgeblichen Zeitpunkt: VG Würzburg, Urteil vom 08.11.2001 - W 7 K 00.30787 -, juris Rn. 18; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 01.06.1993 - A 12 S 874/93 -, juris Rn. 7).
Hinsichtlich der Klägerin zu 1) ist die Klage auch in vollem Umfang begründet, für den Kläger zu 2) nur im tenorierten Umfang.
Die zwei Bescheide der Beklagten vom 01.03.2018 sind insoweit rechtswidrig und verletzen die Kläger in ihren Rechten, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.
Die Klägerin zu 1) hat im hier maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (vgl. § 77 Abs. 1 AsylG) einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Der Kläger zu 2) hat einen Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes.
Ein Ausländer ist Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.
Die Furcht vor Verfolgung ist im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG begründet, wenn dem Ausländer die genannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d. h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ("real risk"), drohen (OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 29.10.2020 - 9 A 1980/17.A -, juris Rn. 32). Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit in diesem Sinne liegt vor, wenn sich die Rückkehr in den Heimatstaat aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen als unzumutbar erweist, weil bei Abwägung aller in Betracht kommenden Umstände die für eine bevorstehende Verfolgung streitenden Tatsachen ein größeres Gewicht besitzen als die dagegen sprechenden Gesichtspunkte (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23/12 -; Urteil vom 05.11.1991 - 9 C 118/90 -, juris).
Es obliegt dabei dem Schutzsuchenden, sein Verfolgungsschicksal zur Überzeugung des Gerichts glaubhaft darzulegen. Er muss daher die in seine Sphäre fallenden Ereignisse, insbesondere seine persönlichen Erlebnisse, in einer Art und Weise schildern, die geeignet ist, seinen geltend gemachten Anspruch lückenlos zu tragen. Dazu bedarf es der Schilderung eines in sich stimmigen Sachverhaltes, aus dem sich bei unterstellter Wahrheit ergibt, dass bei verständiger Würdigung seine Furcht vor Verfolgung begründet ist.
Nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU vom 13.12.2011 (Qualifikationsrichtlinie) ist die Tatsache, dass ein Geflüchteter bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von einer solchen Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass er erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird.
Hier spricht viel dafür, dass die Klägerin zu 1) aufgrund der erlittenen Schläge und Drohungen durch ihre Familienmitglieder bereits vorverfolgt aus dem Irak ausgereist ist.
Unabhängig davon ist die Einzelrichterin jedoch nach eingehender Befragung beider Kläger in der mündlichen Verhandlung überzeugt davon, dass ihnen im Falle einer Rückkehr in den Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit gewaltsame Übergriffe bis hin zu sog. „Ehren“-Mord durch Familienmitglieder der Klägerin zu 1) drohen. Abgesehen davon, dass schon die Beklagte die Glaubhaftigkeit der Angaben der Kläger hinsichtlich der geschilderten Vorfälle nicht in Zweifel gezogen hat, haben sich auch für die Einzelrichterin keine Anhaltspunkte ergeben, die die Darstellung der Kläger infrage stellen. Beide Kläger berichteten übereinstimmend und nachvollziehbar von der Entwicklung der Auseinandersetzung mit der Familie der Klägerin zu 1). Auf Nachfragen wussten sie stets widerspruchsfrei zu antworten oder waren in der Lage, ins Detail zu gehen.
Insbesondere führte die Klägerin zu 1) überzeugend aus, das Konfliktpotenzial der Beziehung ursprünglich unterschätzt zu haben. Zwar seien Zwangsverheiratungen in ihrer Familie schon vorgekommen, zuletzt bei einer ihrer älteren Schwestern. Dies sei aber schon Jahre her, die Schwester sei sehr unglücklich und sie habe gehofft, dass ihre Familie sich in der Zwischenzeit weiterentwickelt habe. Obwohl Konflikte in ihrem Stamm oft mit Gewalt gelöst würden, habe sie nicht damit gerechnet, da ihre Angehörigen jedenfalls ihr gegenüber zuvor nie übergriffig geworden seien. Heute traue sie es ihnen aber durchaus zu, denn als sie von ihrem Vater und ihren Brüdern geschlagen worden sei, habe ihr Bruder ihr gesagt, wenn ihr Vater sie nicht töte, werde er das tun. Der Kläger zu 2) bestätigte ihre Angaben zur Gewaltbereitschaft ihrer Angehörigen und berichtete, sein Bruder sei bei einem der „Besuche“ ihrer Verwandten von ihren Brüdern zusammengeschlagen worden.
Bei der drohenden Anwendung physischer oder psychischer Gewalt handelt es sich um Verfolgungsmaßnahmen im Sinne des § 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG durch nichtstaatliche Akteure nach § 3c Nr. 3 AsylG, für die Klägerin zu 1) darüber hinaus auch um Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen, gem. § 3a Abs. 2 Nr. 6 AsylG.
Für die Klägerin zu 1) beruhen die drohenden Übergriffe auch auf einem Verfolgungsgrund. Als aus Sicht ihrer Verwandten wie auch der Mehrheitsgesellschaft „entehrte“ bzw. „ehrlose“ Frau ist die Klägerin zu 1) Angehörige einer sozialen Gruppe i. S. d. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG (für von „Ehren“-Mord bedrohte Frauen allgemein: Marx, AsylG, 10. Aufl., § 3b Rn. 53; für Irak: VG Oldenburg, Urteil vom 09.12.2020 - 15 A 4225/17 -, nicht veröffentlicht; VG Lüneburg, Urteil vom 03.09.2018 - 5 A 519/17 -, nicht veröffentlicht; für Frauen mit westlicher Prägung ebenso: VG Dresden, Urteil vom 18.05.2021 - 13 K 2013/19.A -, juris Rn. 28; VG Stade, Urteil vom 23.07.2019 - 2 A 19/17 -, juris Rn. 39; für alleinstehende Frauen: VG München, Urteil vom 17.03.2020 - M 19 K 16.32656 -, juris Rn. 28; VG Hannover, Urteil vom 07.10.2019 - 6 A 5999/17 -, juris Rn. 24; für Afghanistan: Nds. OVG, Urteil vom 21.09.2015 - 9 LB 20/14 -, juris Rn. 26).
Nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG liegt eine bestimmte soziale Gruppe insbesondere vor, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe kann auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft. So liegt es hier.
Die männlichen Familienangehörigen der Klägerin zu 1) verfolgen sie gerade wegen ihrer Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht, § 3a Abs. 3 AsylG. Dieses ist dem männlichen ihrer Auffassung nach untergeordnet und hat diesem stets zu Diensten zu sein. Dies findet auch Ausdruck darin, dass bereits die ältere Schwester der Klägerin zu 1) zwangsverheiratet wurde und die Klägerin selbst nur mit Zustimmung ihres Vaters studieren durfte, was er ihr mit Bekanntwerden ihrer Beziehung zum Kläger zu 2) wieder verboten hat, weil er befürchtete, sie werde dadurch verleitet, weitere „Schande“ über die Familie zu bringen. Indem die Klägerin zu 1) sich über diese traditionellen Rollenvorstellungen hinweggesetzt hat, ist sie zu einer „ehrlosen“ Frau geworden, die auch von der irakischen Mehrheitsgesellschaft als andersartig betrachtet wird.
Obwohl die irakische Verfassung die Gleichstellung von Männern und Frauen festlegt, sieht das Gesetz nicht den gleichen rechtlichen Status und die gleichen Rechte für Frauen wie für Männer vor (Austrian Centre for Country of Origin & Asylum Research and Documentation (ACCORD), Anfragebeantwortung zum Irak: Situation für getrenntlebende Frauen, 03.03.2021, S. 2). Frauen im Irak sind im Alltag Diskriminierung ausgesetzt, die ihre gleichberechtigte Teilnahme am politischen, sozialen und wirtschaftlichen Leben einschränkt (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, 22.01.2021, S. 6). Die „Ehre“ der Familie und des Einzelnen wird ausschließlich von Männern getragen, die je nach den Umständen ihre „Ehre“ verlieren oder wiedererlangen können. Frauen hingegen können nur eine Quelle familiärer oder individueller „Entehrung“ sein und ihrer Familie oder ihrem Stamm nicht aktiv „Ehre“ bringen (Haley Bobseine, The Century Foundation, Tribal Justice in a Fragile Iraq, 07.11.2019). Von Frauen wird dementsprechend erwartet, dass sie besonnen sind, Respekt, Höflichkeit und Gehorsam gegenüber den Männern zeigen, bis hin zur Unterwürfigkeit. Der Körper und die Sexualität der Frauen stellen die „Ehre“ der Familie und der Gemeinschaft dar, für die strenge Verhaltensregeln gelten. Eine Abweichung von den seit langem geltenden Normen und „Ehren“-Kodizes wird als beschämend empfunden und wertet die Frauen und ihre Familien ab. In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich in der Region Kurdistan zwar eine erkennbare kurdische Frauenbewegung herausgebildet, die beachtliche Fortschritte erzielt hat, doch sind die traditionellen Geschlechterrollen und -beziehungen noch immer vorherrschend. Wie in den meisten patriarchalischen Gesellschaften sind die Geschlechterrollen klar definiert, wobei Frauen einen niedrigeren Status in der Familie haben und ihre Interaktion im öffentlichen Raum eingeschränkt ist (United Kingdom Home Office, Country Policy and Information Note Iraq: ‘Honour’ crimes, März 2021, S. 15).
Auch die Familienmitglieder der Klägerin zu 1) sehen sie als Eigentum ihres Vaters an, über das dieser die Verfügungsgewalt zu haben glaubt, und das er mit der Zwangsheirat an ihren Cousin weitergeben und damit „in der Familie halten“ möchte. Diese Betrachtungsweise ist typisch für die patriarchalisch geprägte irakische Mehrheitsgesellschaft und insbesondere für die Clanstrukturen, in denen die Klägerin zu 1) aufgewachsen ist. Im Allgemeinen besteht das Hauptziel der Stammesjustiz darin, für Stabilität zu sorgen und die kollektive „Ehre“ zu wahren, während gleichzeitig ein Abgleiten in Rachemorde und die Eskalation von Konflikten verhindert wird. Die Stammesjustiz ordnet im Allgemeinen das individuelle Wohl dem kollektiven Wohl unter (Haley Bobseine, The Century Foundation, Tribal Justice in a Fragile Iraq, 07.11.2019). In den meisten Fällen können sich Frauen in Kurdistan-Irak nicht aussuchen, wen sie heiraten, und müssen in der Regel zustimmen, einen von ihrer Familie ausgewählten Mann zu heiraten. K. und G., die Heimatregion der Kläger, sind beide als konservative Regionen bekannt, in denen Frauen streng kontrolliert werden (European Asylum Support Office (EASO), Country Guidance: Iraq, Januar 2021, S. 101, 104).
Um die kollektiv als verloren empfundene „Ehre“ wiederherzustellen, müssen Frauen in so genannten „Ehren“-Morden getötet werden (United Kingdom Home Office, Country Policy and Information Note Iraq: ‘Honour’ crimes, März 2021, S. 15). Bei den Tätern handelt es sich häufig um männliche Verwandte oder Familienmitglieder. Obwohl das Ausmaß der „Ehren“-Morde im Irak aufgrund der hohen Dunkelziffer nicht bekannt ist, wird geschätzt, dass jedes Jahr mehrere hundert Mädchen und Frauen Opfer von „Ehren“-Morden werden. Im Jahr 2017 wurden 272 Fälle bei der Polizei angezeigt und vor Gericht gebracht; 2016 waren es 224 (European Asylum Support Office (EASO), Country Guidance: Iraq, Januar 2021, S. 80 f.). Die Generaldirektion für die Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen des Innenministeriums der Region Kurdistan-Irak bestätigte drei Fälle von „Ehren“-Mord unter 26 weiblichen Mordopfern in der Region allein im September 2020. Eine UN-Quelle stellte jedoch fest, dass die Zahl der tatsächlichen „Ehren“-Morde wahrscheinlich viel höher ist (US Department of State (USDOS), 2020 Country Report on Human Rights Practices: Iraq, 30.03.2021).
Indem die Klägerin zu 1) sich der drohenden Zwangsverheiratung durch Flucht gemeinsam mit dem Kläger zu 2) entzogen hat, und das zu einem Zeitpunkt, als sie ihrem Cousin infolge der Verlobung bereits fest versprochen war, hat sie sowohl die subjektiv empfundene „Ehre“ ihres Vaters und ihrer Brüder verletzt, die ihr Versprechen gegenüber dem Cousin nicht einhalten können, als auch die ihres Cousins und seiner Familienangehörigen, weil sie ihre Selbstbestimmung über deren vermeintliche Ansprüche gestellt hat. Es kann nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass diese Verletzung der „Ehre“ durch einen Schlichtungsversuch oder eine Entschuldigung wieder ausgemerzt werden kann. Auch von ihrer Mutter und ihren Schwestern kann die Klägerin zu 1) keine effektive Unterstützung erwarten, da diese bisher auch nicht willens oder in der Lage waren, sie vor der Zwangsheirat oder den Gewalttätigkeiten ihres Vaters und ihrer Brüder zu schützen. Unabhängig davon kann es der Klägerin zu 1) auch nicht zugemutet werden kann, sich doch noch einer Zwangsverheiratung zu beugen, nur um den Familienfrieden wiederherzustellen und die Gefahr von sich abzuwenden.
Der Klägerin zu 1) steht gegen die drohenden gewaltsamen Angriffe ihrer Verwandten auch kein Schutz durch die in § 3d Abs. 1 AsylG genannten Akteure zur Verfügung. Es ist schon fraglich, ob staatliche Institutionen wie Polizei und Justiz oder nichtstaatliche Akteure wie etwa führende Angehörige ihres eigenen Stammes in der Lage wären, ihr ausreichenden Schutz zu bieten. In jedem Fall kann aber nicht davon ausgegangen werden, dass sie auch dazu bereit sind.
Häusliche Gewalt ist in der Autonomen Region Kurdistan-Irak zwar strafbar. Dies ergibt sich aus dem Gesetz der Region Kurdistan (Gesetz Nr. 8) von 2011 über häusliche Gewalt. In einigen Fällen schickt die Polizei die Frau jedoch zurück zu ihrer Familie mit der Begründung, dass es sich um eine Familienangelegenheit handelt. Außerdem besteht die Gefahr, dass die Frauen von Mitarbeitern der Polizeiwache belästigt und ihre Absichten in Frage gestellt werden. Die Rate der häuslichen Gewalt in Kurdistan hat in den letzten Jahren zugenommen und ist vor allem in den Stammesgebieten weit verbreitet (European Asylum Support Office (EASO), Country Guidance: Iraq, Januar 2021, S. 99). Insbesondere „Ehren“-Morde werden selten untersucht und bestraft (European Asylum Support Office (EASO), Country Guidance: Iraq, Januar 2021, S. 81). Von der Polizei und den zuständigen Behörden werden „Ehrenverbrechen“ in der Regel als Familiensache erachtet, die dem Ermessen männlicher Familienmitglieder obliegen (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, 17.03.2020, S. 104). Trotz der Einführung von Gesetzen zur Regelung von „Ehren“-Morden in der Region Kurdistan-Irak werden diese Quellen zufolge nicht wirksam umgesetzt. Häusliche Gewalt vor Gericht zu bringen, gilt als schändlich, und es gibt eine weit verbreitete diskriminierende Einstellung der Richter gegenüber Frauen. In Bezug auf die Stammesjustiz sind Frauen wiederum besonders schutzbedürftig, und in Fällen, in denen es um die „Ehre“ geht, ist es wahrscheinlich, dass der Stamm die „Ehre“ der Familie mehr schützt als die des Einzelnen (United Kingdom Home Office, Country Policy and Information Note Iraq: ‘Honour’ crimes, März 2021, S. 7 f.).
Ferner steht der Klägerin zu 1) auch keine innerstaatliche Fluchtalternative, weder in der Autonomen Region Kurdistan noch im Zentralirak, zur Verfügung. Nach § 3e Abs. 1 AsylG wird einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt. Es muss davon ausgegangen werden, dass die Familienangehörigen der Klägerin zu 1) sie durch ihre Verbindungen zu Stammesmitgliedern in anderen Teilen des Irak, wenn womöglich auch nicht unmittelbar nach einer Rückkehr in den Irak, so doch früher oder später noch aufspüren würden. „Ehrenübertretungen“ werden als unverzeihlich angesehen, und der „Makel der Familienehre“ nimmt im Laufe der Zeit nicht ab, sodass auch nach vielen Jahren noch mit einer Verfolgungsgefahr gerechnet werden muss (Minority Rights Group International (MRG), The Lost Women of Iraq: Family-based violence during armed conflict, 15.11.2015, S. 26).
Wenn eine Person umzieht, um Gewalt oder die Androhung von Gewalt seitens der Familie, des Stammes oder der Gemeinschaft als Folge schädlicher traditioneller Praktiken zu vermeiden, auch wegen der Wahrung der „Familienehre“, gibt es eindeutige Hinweise darauf, dass solche Akteure die Person in das Umzugsgebiet verfolgen werden, z. B. auch über Stammes-, Familien- oder andere Verbindungen (Danish Immigration Service (DIS), Honour Crimes against Men in Kurdistan Region of Iraq (KRI) and the Availability of Protection, März 2010, S. 14). Die Befürwortung solcher Normen und Praktiken durch weite Teile der Gesellschaft und die Einschränkungen bzw. mangelnde Bereitschaft des Staates, Schutz vor solchen Missbräuchen zu bieten, schmälern die Möglichkeiten einer erfolgreichen Umsiedlung (Australian Government Department of Foreign Affairs and Trade (DFAT), Country Information Report Iraq, 17.08.2020, S. 63). Vertriebene im Irak müssen bei einem Umzug Sicherheitskontrollen durchlaufen und das Einverständnis verschiedener Akteure, wie Mitgliedern des Militärs und von Sicherheitskräften, lokalen Behörden und Stämmen einholen (UNHCR, Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus dem Irak fliehen, Mai 2019, S. 34). Ein Binnenvertriebener, der von einem Teil der Region Kurdistan-Irak in einen anderen umziehen möchte, muss die Genehmigung der Asayish-Büros an beiden Orten einholen, von denen und in die die Person umzieht (European Asylum Support Office (EASO), COI Query: Role, activities and ranking oft he Asayish forces in the Kurdistan Region of Iraq (KRI), 24.04.2018, S. 5). Des Weiteren ist anzunehmen, dass die Klägerin zu 1) bei einer Einreise über die internationalen Flughäfen zahlreiche Kontrollpunkte unter anderem der Milizen zu passieren hätte und dabei Aufmerksamkeit erregen könnte.
Der Stamm der Q., dem die Klägerin zu 1) angehört, ist schon seit Beginn des 19. Jahrhunderts in der Region G. angesiedelt (R.) und zählt zu den größten Stämmen in Kurdistan-Irak (Dr. Michael Izady, Atlas of the Islamic World and Vicinity, Kurdish Tribal Confederacies, Tribes and Family Clans, 2006, https://gulf2000.columbia.edu/images/maps/Kurdish_Tribal_Confederacies_lg.png). Nach den glaubhaften Angaben der Klägerin zu 1) verfügen zudem mehrere Stammesmitglieder über staatliche Posten, etwa beim Inlandsgeheimdienst Asayish, und dürften deshalb auch Zugriff auf Melderegister o.Ä. haben. Polizei und Justiz sind anfällig für den Einfluss prominenter Familien und Stämme (Minority Rights Group International (MRG), The Lost Women of Iraq: Family-based violence during armed conflict, 15.11.2015, S. 29), sodass ihre Familienangehörigen auch auf diesem Weg Informationen über ihren Aufenthaltsort erhalten könnten.
Auch der Kläger zu 2) ist der beachtlichen Gefahr eines „Ehren“-Mordes durch die Verwandten der Klägerin zu 1) ausgesetzt. Dies stellt eine unmenschliche, erniedrigende Behandlung und damit einen ernsthaften Schaden im Sinne von § 4 Abs. 1 AsylG dar, der die Gewährung subsidiären Schutzes rechtfertigt.
Nicht nur Frauen und Mädchen, sondern in geringerem Maße auch Männer und Jungen können im Irak getötet oder anderen Arten von Gewalt unterworfen werden, weil sie vermeintlich die kulturellen, gesellschaftlichen oder religiösen Normen verletzt und dadurch Schande über die Familie gebracht haben (EASO: COI Meeting Report: Iraq; Practical Cooperation Meeting, 25-26 April 2017, Brussels, Juli 2017, S. 24). Männer können am ehesten durch ihr Verhalten gegenüber Frauen zu „Ehrenschäden“ führen, u.a. durch die Wahl ihrer romantischen und/oder sexuellen Partner (Immigration and Refugee Board of Canada (IRB), Iraq: Honour-based violence in the Kurdistan region; state protection and support services available to victims, 15.02.2016), beispielsweise auch durch die Affäre mit einer verheirateten Frau (Danish Immigration Service/Danish Refugee Council (DIS/DRC): The Kurdistan Region of Iraq (KRI); Access, Possibility of Protection, Security and Humanitarian Situation; Report from fact finding mission to K., the Kurdistan Region of Iraq (KRI) and Beirut, Lebanon, 26 September to 6 October 2015, April 2016, S. 138). Auch sexuelle Beziehungen zwischen einem unverheirateten Paar werden als Verbrechen gemäß der Stammestradition angesehen (Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (ACCORD), Anfragebeantwortung zum Irak: Lage für unverheiratete Männer, die mit einer verheirateten Frau Geschlechtsverkehr hatten, 31.08.2018, S. 5).
In diesem Fall haben die Familienmitglieder der Klägerin zu 1) ihre Drohungen ausdrücklich bezogen auf beide Kläger ausgesprochen. Der Bruder des Klägers zu 2) wurde nach seinem glaubhaften Bericht bei dieser Gelegenheit von den Verwandten der Klägerin zu 1) verprügelt, was zeigt, dass sie auch nicht vor Gewalt gegenüber Angehörigen anderer Familien zurückschrecken. Dem steht auch nicht entgegen, dass es nach den zwei „Besuchen“ bei der Familie des Klägers zu 2) seines Wissens nach zu keinen weiteren Übergriffen oder Drohungen gekommen ist. Denn den Verdacht, sie hätten von der Flucht der beiden Kläger gewusst und diese erst ermöglicht, hat die Familie des Klägers zu 2) offenbar durch mehrfache Beteuerungen ausräumen können, sodass das Hauptziel der Verwandten der Klägerin zu 1) nun sie und ihr Partner sind.
Zwar ist es bei außerehelichen Affären üblich, dass zwischen den Stammesräten eine einvernehmliche Lösung gesucht wird. In vielen Fällen werden große Geldbeträge nach traditionellen Regeln als Entschädigung gezahlt. Doch auch gewaltsame Racheakte kommen vor, selbst dann, wenn bereits eine Entschädigung gezahlt wurde. Kann eine einvernehmliche Lösung nicht erzielt werden, muss davon ausgegangen werden, dass die betroffenen Männer dauerhaft, auch nach vielen Jahren noch, in der Gefahr gewaltsamer Übergriffe leben, solange die „Ehrverletzung“ nicht bereinigt wurde (Danish Immigration Service (DIS), Honour Crimes against Men in Kurdistan Region of Iraq (KRI) and the Availability of Protection, März 2010, S. 3-4). So werden, obwohl der Begriff der „Ehre“ eng mit dem Körper der Frau verbunden ist, in einigen Fällen von Beziehungen außerhalb der Ehe sowohl der Mann als auch die Frau getötet (Country Of Origin Information (COI), Kurdistan Region of Iraq (KRI): Women and men in honourrelated conflicts, Report based on interviews in Erbil and Sulaimania, KRI, November 2018, S. 56). Insbesondere, wenn die Frau bereits einem „Ehren“-Mord durch ihre Familienmitglieder zum Opfer gefallen ist, ist der Mann ebenfalls einem hohen Risiko ausgesetzt, getötet zu werden (Immigration and Refugee Board of Canada (IRB), Iraq: Honour-based violence in the Kurdistan region; state protection and support services available to victims, 15.02.2016).
Hier muss davon ausgegangen werden, dass eine gewaltfreie Versöhnung zwischen den zwei Familien nicht mehr möglich ist, da es zu einer solchen auch in den vergangenen Jahren nicht gekommen ist. Hinzu kommt, dass die Klägerin zu 1) mittlerweile vom Kläger zu 2) schwanger ist, was aus Sicht ihrer Verwandten eine weitere Verletzung der „Familienehre“ darstellen dürfte.
Mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit wäre der Kläger zu 2) damit im Irak der Gefahr eines „Ehren“-Mordes durch den Vater, die Brüder oder andere männliche Familienmitglieder seiner Lebensgefährtin als nichtstaatliche Akteure i. S. v. § 4 Abs. 3 Satz 1 i. V. m. § 3c Nr. 3 AsylG ausgesetzt.
Auch dem Kläger zu 2) kann der irakische Staat keinen Schutz vor Übergriffen gem. § 4 Abs. 3 i. V. m. §§ 3c Nr. 3, 3d AsylG bieten. Im Irak fehlt es an effektiver Unterstützung für männliche Opfer von Gewalt aus Gründen der „Ehre“. Zwar würde einem Mann – anders als einer Frau – höchstwahrscheinlich Schutz angeboten werden. Die einzige Möglichkeit, ihn zu schützen, bestünde jedoch darin, ihn in Polizeigewahrsam zu nehmen, was keine dauerhafte Lösung darstellt (Immigration and Refugee Board of Canada (IRB), Iraq: Honour-based violence in the Kurdistan region; state protection and support services available to victims, 15.02.2016). Und selbst wenn eines der für die Drohungen verantwortlichen Familienmitglieder inhaftiert würde, besteht die ernsthafte Gefahr, dass ein anderes Mitglied der beleidigten Familie die Rache, einschließlich der Tötung des betroffenen Mannes, übernimmt (Danish Immigration Service (DIS), Honour Crimes against Men in Kurdistan Region of Iraq (KRI) and the Availability of Protection, März 2010, S. 9).
Ebenso wenig wie für die Klägerin zu 1) besteht für den Kläger zu 2) eine innerstaatliche Schutzalternative nach § 4 Abs. 3 AsylG i. V. m. § 3e AsylG. Schon um sich sein wirtschaftliches Existenzminimum zu sichern, ist es dem Kläger nicht möglich, sich dauerhaft versteckt zu halten. Es bestehen keine Anhaltspunkte, um an seiner Angabe zu zweifeln, dass er nicht über verwandtschaftliche Beziehungen außerhalb von G. verfügt. Folglich kann er in anderen Landesteilen nicht mit Aufnahme und Beherbergung durch Verwandte rechnen, sondern müsste sich mit einer Arbeitsstelle eine eigene Wohnung finanzieren. Es gibt keine NGOs oder staatlichen Einrichtungen, die sich mit dem Thema Männer als Opfer von „Ehren“-Drohungen befassen und dementsprechend auch keine Schutzräume für die Unterbringung Betroffener (Danish Immigration Service (DIS), Honour Crimes against Men in Kurdistan Region of Iraq (KRI) and the Availability of Protection, März 2010, S. 9). Er dürfte demnach darauf angewiesen sein, eigene Erwerbseinkünfte zu erzielen. Erschwerend kommt hinzu, dass seine Eltern seit Jahren jeglichen Kontakt zu ihm ablehnen, da sie ihm vorwerfen, den Konflikt mit der Familie der Klägerin zu 1) verursacht zu haben. Es ist folglich unwahrscheinlich, dass er bei einer Rückkehr in den Irak auf die Unterstützung seiner Verwandten zählen könnte.
Die Flüchtlingseigenschaft kann dem Kläger zu 2) jedoch nicht zuerkannt werden, denn ihm fehlt es an einem Verfolgungsgrund. Von „Ehren“-Mord bedrohte Männer stellen keine soziale Gruppe i. S. d. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG dar. Insbesondere liegt keine Anknüpfung an die Geschlechtszugehörigkeit vor, denn der Kläger hat sich durch seine selbstbestimmte Entscheidung, mit der Klägerin zu 1) zusammenleben zu wollen, nicht dem traditionell männlichen Rollenbild im Irak widersetzt, sondern nur den Vorstellungen ihrer Familie. Die Entscheidung, entgegen der Vorstellungen des Clans ihr Leben miteinander zu verbringen, beruht zwar für beide Kläger auf derselben festen Überzeugung, die sicher auch im Falle des Klägers zu 2) nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 Buchst. a AsylG so bedeutsam für seine Identität oder sein Gewissen ist, dass er nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten. Allerdings fehlt es an der Anforderung des § 3b Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b AsylG, die Gruppe müsse in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität haben, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet werde. Der Begriff der „ehrlosen Frau“ ist im Irak mit klaren Zuschreibungen verbunden und in diese Kategorie können Frauen durch jedes denkbare nicht rollenkonforme Verhalten hineinrutschen. Für Männer als Träger der „Familienehre“ ist dies nicht der Fall, jedenfalls solange sie das stereotype maskuline Rollenbild erfüllen und nicht etwa homo- oder transsexuell sind. Insbesondere sind Männer grundsätzlich in der Lage, ihre „Ehre“ durch die Erfüllung traditioneller „männlicher“ Tugenden, wie Großzügigkeit, Gastfreundschaft, Selbstbewusstsein, Ehrlichkeit, Integrität, Schutz von Frauen und Schutz von Schwachen, wiederzuerlangen (Austrian Centre for Country of Origin & Asylum Research and Documentation (ACCORD), Anfragebeantwortung zum Irak: Stammeskonflikte nach Verurteilung eines Stammesmitglieds, 10.06.2021), während Frauen als bloßem „Objekt“ der „Ehrverletzung“ nur die passive Hinnahme von Bestrafungen bleibt.
Weil der Klägerin zu 1) somit die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG und dem Kläger zu 2) subsidiärer Schutz gemäß § 4 AsylG zuzuerkennen sind, waren die angefochtenen Bescheide des Bundesamts aufzuheben, soweit sie dem entgegenstehen. Dementsprechend war jeweils auch die Ziffer 4 beider Bescheide aufzuheben, da die Feststellung, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 S. 1 AufenthG nicht vorliegen, regelmäßig gegenstandslos wird, wenn die Klage auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bzw. des subsidiären Schutzes Erfolg hat. Entsprechendes gilt für die Ausreiseaufforderung und Androhung der Abschiebung in den Irak (Ziffer 5 der Bescheide) sowie die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 AufenthG (Ziffer 6 der Bescheide).