Verwaltungsgericht Lüneburg
Urt. v. 05.02.2021, Az.: 3 A 190/16
Covid-19; Covid-19-Pandemie; Haftbefehl; Inhaftierung; Kapisa; Polizei, Willkür; Vergewaltigung; Zina; Zina-Vergehen
Bibliographie
- Gericht
- VG Lüneburg
- Datum
- 05.02.2021
- Aktenzeichen
- 3 A 190/16
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2021, 71119
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 60 Abs 5 AufenthG
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Angesichts der gravierenden Verschlechterung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Afghanistan infolge der COVID-19-Pandemie sind auch im Falle eines leis-tungsfähigen, erwachsenen Mannes ohne Unterhaltsverpflichtungen bei Rückkehr aus dem westlichen Ausland die hohen Anforderungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK regelmäßig erfüllt, wenn in seiner Person keine besonderen begünstigenden Umstände vorliegen. Derartige Umstände können dann gegeben sein, wenn der Schutzsuchende in Afghanistan ein hinreichend tragfähiges und erreichbares familiäres oder soziales Netzwerk hat, er nachhaltige finanzielle oder materielle Unterstützung durch Dritte erfährt oder über ausreichendes Vermögen verfügt (VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 17.12.2020 - A 11 S 2042/20 -, juris Rn. 105 m. w. N.).
Tatbestand:
Der Kläger begehrt die Zuerkennung subsidiären Schutzes, hilfsweise das Feststellen von Abschiebungsverboten durch die Beklagte.
Der F. in der Provinz G. geborene Kläger ist afghanischer Staatsangehöriger und gehört der Volksgruppe der Tadschiken an. Er ist sunnitischen Glaubens. Der Kläger hat bis zu seiner Ausreise aus Afghanistan in G. gelebt, unmittelbar vor seiner Ausreise hielt er sich kurz in H. bei einer Tante auf.
Der Kläger hat Afghanistan 2013 verlassen, hielt sich 10 Tage im Iran, im Anschluss ca. 5 Monate in der Türkei auf und ist dann im Dezember 2013 in Deutschland eingereist. Er hat im Januar 2014 Asyl beantragt. Im Rahmen seiner Anhörung vor dem Bundesamt im März 2014 hat er im Wesentlichen vorgetragen, dass er aus Afghanistan wegen der Bedrohung und Verfolgung durch die afghanische Polizei und durch eine mächtige Familie geflohen sei. Er habe in G. im Laden seines Onkels gearbeitet und sei von dem Nachbarladenbesitzer zu einer Hochzeit eingeladen worden. Nach der Feier sei er auf dem Heimweg von der Polizei angehalten worden. Ihm sei unterstellt worden, dass er in einem Haus, an dem er auf dem Weg nach Hause vorbeigekommen sei, die dort wohnende Familie bestohlen und eine Frau vergewaltigt habe. Er sei von der Polizei festgenommen, geschlagen und gefoltert worden. Die Frau, die vergewaltigt worden sei, habe einflussreiche Verwandte gehabt. Die Familie dieser Frau habe verhindert, dass er durch das Hinterlegen einer Bürgschaft freikomme. Der Kommandant der örtlichen Sicherheitskommandantur sei ein Freund seines Onkels gewesen und dieser habe geholfen, dass er aus dem Polizeigewahrsam fliehen konnte. Er habe sich dann nach H. begeben zu einer Tante und sei von dort nach I. und dann in den J. geflohen.
Durch Bescheid vom 18. August 2016 lehnte die Beklagte die Zuerkennung von Flüchtlingsschutz (Nr. 1 des Bescheids), die Anerkennung von Asyl (Nr. 2) sowie die Zuerkennung subsidiären Schutzes (Nr. 3) ab und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 4), forderte den Kläger unter Androhung der Abschiebung nach Afghanistan zur Ausreise innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe des Bescheids bzw. nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens auf (Nr. 5) und befristete das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Nr. 6).
Gegen diesen, am 20. September 2016 zugestellten Bescheid hat der Kläger am 4. Oktober 2016 Klage erhoben. Aufgrund der mündlichen Verhandlung am 12. Februar 2018 beschloss das erkennende Gericht am 26. Februar 2018, zu folgenden Punkten eine amtliche Auskunft der deutschen Botschaft in Afghanistan einzuholen:
1. Wurde/ wird gegen den Kläger in Afghanistan als Beschuldigten ein Ermittlungsverfahren durch die Polizei-/ Strafverfolgungsbehörden - die Kommandantur der Provinz G., Kommandantur vom ersten Distrikt, Regionale Abteilung - geführt wegen des Vorwurfes eines Einbruches/ Diebstahls und einer Vergewaltigung in dem Dorf K.?
2. Ist der Kläger aufgrund dieses Vorwurfes am 9.01.1392 zunächst verhaftet worden, dann entflohen und wurde sodann am 21.02.1392 ein Haftbefehl gegen ihn erlassen?
3. Fand der Einbruch bei der Familie L. in dem Dorf K. statt?
4. Bestehen Erkenntnisse darüber, dass Dr. M. N. einmal Gouverneur in der Provinz G. war und ein Onkel des Opfers (Ziff.3) ist?
Der Beweisbeschluss vom 26. Februar 2018 ist durch weiteren Beschluss vom 16. November 2020 mit der Begründung aufgehoben worden, dass der Kläger die für die Einholung einer amtlichen Auskunft der deutschen Botschaft in Afghanistan erforderliche Einwilligung in die Offenbarung persönlicher Daten gegenüber afghanischen Behörden nicht abgegeben hat.
In der mündlichen Verhandlung vom 5. Februar 2021 hat der Kläger die Klage zurückgenommen, soweit es um die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geht.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 18. August 2016 zu verpflichten, dem Kläger subsidiären Schutz zuzuerkennen,
hilfsweise die Beklagte zu verpflichten, festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Afghanistan vorliegen.
Die Beklagte hat schriftlich beantragt,
die Klage abzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe
Das Verfahren ist gemäß § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen, soweit der Kläger die Klage hinsichtlich der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zurückgenommen hat.
Im Übrigen hat die Klage keinen Erfolg.
Das Gericht konnte gemäß § 102 Abs. 2 VwGO trotz Abwesenheit eines Vertreters der Beklagten in der mündlichen Verhandlung über die Klage entscheiden, weil die Beteiligten in der Ladung zum Termin auf diese Möglichkeit hingewiesen worden sind.
Die Klage ist zulässig, aber unbegründet. Der Bescheid des Bundesamtes - soweit er noch angefochten ist - ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO).
Der Kläger hat nach dem für die Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 1. Halbsatz AsylG) keinen Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzes gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG i. V. m.§ 4 Abs. 1 AsylG (1.). Es liegen auch Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 AufenthG (2.) und § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (3.) nicht vor.
1.
Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes gem. § 60 Abs. 2 AufenthG i.V.m. § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG.
Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Nach § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG gilt als ernsthafter Schaden die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3).
Ein drohender ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG erfordert stets eine erhebliche individuelle Gefahrendichte. Diese kann nur angenommen werden, wenn dem Schutzsuchenden ein ernsthafter Schaden mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht (Nds. OVG, Urt. 5.12.2017 - 4 LB 50/16 -, juris Rn. 31; VG Lüneburg, Urt. v. 15.5.2017 - 3 A 156/16 -, juris Rn. 30). Insoweit gilt die Beweiserleichterung nach Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU. Danach ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, bei Rückkehr einen ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird.
Maßgebend für die Beantwortung der Frage, ob sich ein Ausländer aus begründeter Furcht vor Verfolgung außerhalb seines Heimatlandes befindet, ist der Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Dieser setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände die dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Insoweit kommt es darauf an, ob in Anbetracht aller Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (Nds. OVG, Urt. v. 19.9.2016 - 9 LB 100/15 -, juris, S. 7 f. m. w. N.; Urt. v. 21.9.2015 - 9 LB 20/14 -, juris Rn. 30 m. w. N.). Es ist Sache des Ausländers, seine Gründe für eine Verfolgung in schlüssiger Form vorzutragen und das Gericht muss die volle Überzeugung von der Wahrheit des vom Asylsuchenden behaupteten individuellen Verfolgungsschicksals erlangen (Nds. OVG, Urt. v. 19.9.2016 - 9 LB 100/15 -, juris, S. 8; vgl. auch bereits BVerwG, Urt. v. 29.11.1977 - I C 33.71 -, juris Rn. 10; Beschl. v. 16.4.1985 - 9 C 109.84 -, juris Rn. 16). Der Kläger muss unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt schildern, aus dem sich - als wahr unterstellt - ergibt, dass ihm bei verständiger Würdigung Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Herkunftsstaat zu bleiben oder dorthin zurückzukehren (BVerwG, Urt. v. 22.3.1983 - 9 C 68.81 -, juris Rn. 5). Das Gericht muss dabei die volle Überzeugung von der Wahrheit des vom Kläger behaupteten individuellen Schicksals erlangt haben (BVerwG, Urt. v. 16.4. 1985 - 9 C 109.84 -, juris Rn. 16).
Nach den vorgenannten Maßstäben hat der Kläger keinen Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes.
a) Anhaltspunkte dafür, dass dem Kläger die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG drohen könnte, sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.
b) Es lässt sich auf der Grundlage des Vorbringens des Klägers auch nicht feststellen, dass dem Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein ernsthafter Schaden aufgrund unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG droht.
Der Kläger hat nicht zur Überzeugung des Gerichts vorgebracht, dass er bei einer Rückkehr nach Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer besonderen Gefährdung durch willkürliche Übergriffe afghanischer Polizeibehörden ausgesetzt sein wird. Dies ergibt sich aus Folgendem:
In Afghanistan fasst der Großteil der Bevölkerung unabhängig von der Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen, sozialen oder religiösen Gruppe nur sehr langsam Vertrauen in die afghanischen Sicherheitskräfte und Justizorgane. Rechtsstaatliche (Verfahrens-)Prinzipien, sofern überhaupt reguliert, werden nicht konsequent angewandt. Einflussnahme durch Verfahrensbeteiligte oder Unbeteiligte und Zahlung von Bestechungsgeldern sowie Rechtsbeugung verhindern sowohl polizeiliche oder staatsanwaltliche Ermittlungen als auch Entscheidungen nach rechtsstaatlichen Grundsätzen in weiten Teilen des Justizsystems (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan; Stand: Juni 2020 (in der Fassung vom 14. Januar 2021, S. 10 f.). Laut der afghanischen Verfassung sowie dem Strafgesetzbuch und dem afghanischen Strafverfahrensrecht ist Folter verboten; dennoch gibt es zahlreiche Berichte über Misshandlung durch Regierungsbeamte, Sicherheitskräfte, Mitarbeiter von Haftanstalten und Polizisten. Berichten von NGOs zufolge wenden die Sicherheitskräfte auch weiterhin übermäßige Gewalt an; dazu zählen unter anderem auch Folter und Misshandlung von Zivilisten (Bundesamt für Fremdenwesen, Länderinformation der Staatendokumentation, Afghanistan, Stand 16. Dezember 2020, S. 223). Zu den bedeutendsten Menschenrechtsproblemen gehören auch willkürliche Verhaftungen und Inhaftierungen (Bundesamt für Fremdenwesen, Länderinformation der Staatendokumentation, Afghanistan, Stand 16. Dezember 2020, S. 162 und S. 236; ferner Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Gefährdungsprofile, Stand: 30. September 2020, S. 4).
Auch wenn der Kläger - wie von ihm vorgebracht - Opfer einer willkürlichen Inhaftierung geworden sein sollte, sprechen nach den hier vorliegenden Umständen stichhaltige Gründe gegen eine erneute Verfolgung durch afghanische Polizeibehörden. Es gibt kein zentrales Strafregister in Afghanistan. Fragen zu Haftbefehlen gegen Einzelpersonen werden von afghanischer Seite oft gar nicht oder nur unzureichend beantwortet (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan; Stand: Juni 2020 (in der Fassung vom 14. Januar 2021, S. 10). Es ist daher unwahrscheinlich, dass der Kläger bei Rückkehr nach Afghanistan aufgrund einer registrierten Straftat bzw. aufgrund eines Haftbefehls erneut in das Visier afghanischer Polizeibehörden gelangen wird, zumal die Tat, derer er beschuldigt worden ist, nunmehr mehr als 7 Jahre zurückliegt. Auch lässt sich nicht feststellen, dass afghanische Polizeibehörden weiterhin ein gesteigertes Verfolgungsinteresse haben könnten. Nach dem Vorbringen des Klägers ist er inhaftiert worden, damit die örtlichen Polizeiorgane für die einflussreiche Familie des Opfers schnell einen Täter präsentieren konnten. Dieses Verfolgungsinteresse seitens staatlicher Behörden ist sieben Jahre nach der vermeintlichen Tat entfallen.
Der Kläger vermochte auch nicht zur Überzeugung des Gerichts vorzubringen, dass ihm bei einer Rückkehr nach Afghanistan ein ernsthafter Schaden aufgrund unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung durch die Familie des Opfers einer Vergewaltigung, derer Kläger nach seinem Vorbringen bezichtigt worden ist, droht.
Strafrechtliche Verfolgungen gegen afghanische Männer wegen sog. „zina“-Anschuldigungen (außerehelicher Geschlechtsverkehr auch im Fall einer Vergewaltigung) sind möglich, sind allerdings selten, da aufgrund des hohen Stigmas und Ehrverlusts diese Anschuldigungen innerhalb der betroffenen Familien „gelöst“ werden (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan; Stand: Juni 2020 (in der Fassung vom 14. Januar 2021, S. 14). Auch wenn familiäre Auseinandersetzungen und gegenseitige Verfolgung in den betroffenen Familien wegen einer „zina“-Anschuldigung vorkommen, sprechen hier stichhaltige Gründe dagegen, dass der Kläger bei Rückkehr nach Afghanistan in den Fokus der Familie des Vergewaltigungsopfers gerät. Maßgeblich gegen ein gesteigertes Verfolgungsinteresse der nach dem Vorbringen des Klägers einflussreichen Verwandten des Opfers spricht, dass die in G. verbliebene Familie des Klägers offenbar keinen Repressionen oder Bedrohungen ausgesetzt gewesen ist, nachdem der Kläger wegen der „zina“-Anschuldigung das Land verlassen hat. Der Kläger hat erklärt, dass die Verwandten des Opfers bei seinem Onkel nach seinem Verbleib gefragt hätten, der Onkel dann „den Spieß umgedreht“ habe und ihnen vorgeworfen habe, dass sie den Kläger mitgenommen hätten (Seite 7 des Sitzungsprotokolls). Mit Blick auf den hohen Ehrverlust für die Familie des Opfers, welcher mit der dem Kläger vorgeworfenen Tat einhergeht, wäre bei einem ernsthaften Verfolgungsinteresse indes zu erwarten gewesen, dass die in Afghanistan verbliebene Familie stärker unter Druck gesetzt wird, um den Aufenthalt des Klägers in Erfahrung zu bringen. Hinzu kommt, dass die Familie des Klägers in G. vor Ausbruch der Corona-Pandemie nach seinem Vorbringen in guten wirtschaftlichen Verhältnissen gelebt hat (Seite 3 des Sitzungsprotokolls). Da wie ausgeführt „zina“-Anschuldigungen innerhalb der betroffen Familien geregelt werden, spricht dies entscheidend dagegen, dass der Kläger und seine Familie in den Fokus der einflussreichen Verwandten des Opfers geraten sind, bei denen es sich nach dem Vorbringen des Klägers um einen ehemaligen Gouverneur der Provinz G. bzw. um einen Regierungsbeamten gehandelt haben soll. Gerade wenn es sich bei den Verwandten des Opfers um hochrangige Beamte handelt, wäre es naheliegend gewesen, dass die Familie des Klägers in ernsthafte Schwierigkeiten geraten wäre, wenn der Kläger als vermeintlicher Täter in den Fokus geraten wäre. Familienangehörige in H. und G., zu denen der Kläger noch Kontakt hält, berichten indes nicht, dass die Familie des Opfers Maßnahmen ergriffen hat oder aktuell ergreift, um Druck auf diese auszuüben. Hinzu kommt, dass nach dem Vorbringen des Klägers das Opfer ihn nicht eindeutig als Täter hat identifizieren können, da die Täter „vermummt“ gewesen seien; er habe aber die Kleidung getragen, die auch die Täter getragen hätten (Anhörungsprotokoll, S. 3). Demzufolge ist offen, aus welchen Gründen die Familie des Opfers von der Täterschaft des Klägers überzeugt sein soll und diesen - auch nach Jahren – verfolgen wird. Hierbei fällt auch ins Gewicht, dass nach dem Vorbringen des Klägers mehrerer Täter in das Haus der Familie eingedrungen seien (Anhörungsprotokoll, S. 3). Wenn die Familienangehörigen über sehr großen Einfluss in der Provinz G. verfügt haben, dann wäre es ihnen auch möglich gewesen, nach den Mitttätern zu suchen und diese zu verfolgen, ohne dass es entscheidend auf ein erpresstes Geständnis des Klägers ankommt. Demnach ist es unwahrscheinlich, dass die Familie des Opfers mehrere Jahre nach der Tat gezielt nach dem Kläger sucht, um das „zina“-Vergehen zu vergelten. Schließlich konnte der Kläger zum aktuellen Aufenthalt der einflussreichen Verwandten keine Angaben machen (Seite 6 des Anhörungsprotokolls), so dass nicht festgestellt werden kann, dass diese überhaupt noch in G. oder H. einflussreich sind. Nach Gesamtwürdigung aller Umstände sprechen daher stichhaltige Gründe dafür, dass dem Kläger bei Rückkehr nach Afghanistan kein Schaden im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG durch die Familie des Vergewaltigungsopfers droht.
c) Auch droht dem Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verletzung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konfliktes gem. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG.
In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist geklärt, unter welchen Voraussetzungen eine ernsthafte individuelle Bedrohung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG (§ 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG a.F.) anzunehmen ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.6.2008 - 10 C 43.07 -, juris Rn. 34 ff.; v. 27.4.2010 - 10 C 4.09 -, juris Rn. 32 ff.; v. 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, juris Rn. 17 ff.; v. 13.2.2014 - 10 C 6.13 -, juris Rn. 24; Beschl. v. 27.6.2013 - 10 B 11.13 -, juris Rn. 7). Danach genügt es nicht, dass der innerstaatliche bewaffnete Konflikt zu permanenten Gefährdungen der Bevölkerung und zu schweren Menschenrechtsverletzungen führt (BVerwG, Urt. v. 13.2.2014 - 10 C 6.13 -, juris Rn. 24). Allerdings kann sich eine von einem bewaffneten Konflikt ausgehende allgemeine Gefahr individuell verdichten und damit die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG erfüllen (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.6.2008 - 10 C 43.07 -, juris Rn. 34). Eine derartige Individualisierung kann sich bei einem hohen Niveau willkürlicher Gewalt für die Zivilbevölkerung aus gefahrerhöhenden Umständen in der Person des Betroffenen ergeben. Dazu gehören in erster Linie persönliche Umstände, die den Antragsteller von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffen erscheinen lassen, etwa weil er von Berufs wegen - z.B. als Arzt oder Journalist - gezwungen ist, sich nahe der Gefahrenquelle aufzuhalten. Möglich sind aber auch solche persönlichen Umstände, aufgrund derer der Antragsteller als Zivilperson zusätzlich der Gefahr gezielter Gewaltakte - etwa wegen seiner religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit - ausgesetzt ist (BVerwG, Urt. v. 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, juris Rn. 18 m.w.N.).
Besondere gefahrerhöhende Umstände in der Person des Klägers sind nicht gegeben. Fehlen - wie hier - individuelle gefahrerhöhende Umstände, so kann eine Individualisierung der allgemeinen Gefahr ausnahmsweise bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre (BVerwG, Urt. v. 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, juris Rn. 18 m.w.N.). Erforderlich ist insoweit ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt (BVerwG, Urt. v. 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, juris Rn. 18 m.w.N.). Für die individuelle Betroffenheit von der Gefahr bedarf es Feststellungen zur Gefahrendichte für die Zivilbevölkerung in dem fraglichen Gebiet, die jedenfalls auch eine annäherungsweise quantitative Ermittlung der Gesamtzahl der in dem betreffenden Gebiet lebenden Zivilpersonen einerseits und der Akte willkürlicher Gewalt andererseits, die von den Konfliktparteien gegen Leib oder Leben von Zivilpersonen in diesem Gebiet verübt werden, zu umfassen hat, sowie einer wertenden Gesamtbetrachtung mit Blick auf die Anzahl der Opfer und die Schwere der Schädigungen (Todesfälle und Verletzungen) bei der Zivilbevölkerung unter Berücksichtigung der medizinischen Versorgungslage (vgl. BVerwG, Urt. v. 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, juris Rn. 23; v. 13.2.2014 - 10 C 6.13 -, juris Rn. 24). Allerdings sieht das Bundesverwaltungsgericht jedenfalls ein Risiko von 1:800 (0,125 %), in dem betreffenden Gebiet verletzt oder getötet zu werden, als so weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt an, dass auch eine wertende Gesamtbetrachtung am Nichtvorliegen der Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG (§ 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG a.F.) nichts zu ändern vermag (vgl. BVerwG, Urt. v. 17.11.2011- 10 C 13.10 -, juris Rn. 23). Bezugspunkt für die Gefahrenprognose der tatsächliche Zielort des Ausländers bei einer Rückkehr. Das ist in der Regel die Herkunftsregion des Ausländers, in die er typischerweise zurückkehren wird (BVerwG, Urt. v. 31.1.2013 - 10 C 15.12 -, juris Rn. 13; Urt. v. 14.7.2009 - 10 C 9.08 -, juris Rn. 7).
Für die Provinz G. - der Heimatprovinz des Klägers - lässt sich keine Gefahrenlage feststellen, die nach den Maßgaben der vorgenannten Rechtsprechung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine ernsthafte und individuelle Bedrohung des Klägers im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konfliktes nach sich zöge. Die Provinz G. liegt im zentralen Osten Afghanistans, umgeben von den Provinzen Panjsher im Norden, Laghman im Osten, Kabul im Süden und Parwan im Westen. G. ist in die folgenden Distrikte unterteilt: Alasai, Hissa-e-Awali Kohistan, Hissa-e-Duwumi Kohistan, Koh Band, die Provinzhauptstadt Mahmood Raqi, Nijrab und Tagab. Die National Statistics and Information Authority of Afghanistan (NSIA) schätzt die Bevölkerung in G. im Zeitraum 2020-21 auf 488.298 Personen. Die wichtigsten ethnischen Gruppen in der Provinz sind Tadschiken, Paschtunen und Nuristani, wobei die Tadschiken als größte Einzelgruppe hauptsächlich im nördlichen Teil der Provinz leben. Eine Hauptstraße verbindet die Provinzhauptstadt Mahmood Raqi mit Kabul. G. ist eine kleine Provinz und Aufständische können die Provinzhauptstadt von G. und die Nachbarprovinzen leicht erreichen. Es gibt eine Taliban-Präsenz in einigen der Distrikte, welche nicht vollständig unter der Kontrolle der Regierung stehen. Nach Schätzungen des Long War Journal waren die Distrikte Alasai, Nijrab und Tagab im November 2020 umkämpft, während die übrigen Distrikte unter Regierungskontrolle standen. Nach US-Geheimdienstinformationen unterhält der Islamische Staat Khorasan Provinz eine kleine Zelle in G.. Auf Regierungsseite befindet sich G. im Verantwortungsbereich des 201. Afghan National Army (ANA) „Selab/Silab“ Corps, das der NATO-Mission Train, Advise, and Assist Command - East (TAAC-E) untersteht, welche von US-amerikanischen und polnischen Streitkräften geleitet wird. Im Jahr 2019 dokumentierte UNAMA 124 zivile Opfer (49 Tote und 75 Verletzte) in der Provinz G.. Dies entspricht einem Rückgang von 11% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren Kämpfe am Boden, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate) und Luftangriffe. In den ersten drei Quartalen des Jahres 2020 dokumentierte UNAMA eine Zunahme an zivilen Opfern in der Provinz im Vergleich zu 2019, wobei keine Zahlen genannt werden. Es wurde von Kämpfen in der Provinz berichtet, wobei die Taliban Sicherheitsposten der Regierung, Militärbasen und Dörfer sowie ein Distriktzentrum angriffen und die Regierungskräfte Räumungsoperationen durchführten. Auch fanden Luftangriffe oder Drohnenschläge der US-amerikanischen Streitkräfte statt. Weiterhin wurde von Explosionen von Sprengfallen am Straßenrand in der Provinz berichtet (Bundesamt für Fremdenwesen, Länderinformation der Staatendokumentation, Afghanistan, Stand 16. Dezember 2020, S. 118 f.).
Unter Zugrundelegung der vorgenannten Opferzahlen aus dem Jahr 2019 im Verhältnis zur Bevölkerungszahl liegt das Risiko eines ernsthaften Schadens in der Provinz G. bei 1:3.940 und ist damit nach der Rechtsprechung des Bundesveraltungsgerichts weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit, verletzt oder getötet zu werden, entfernt. Auch für die Jahre 2020 und 2021 kann insoweit keine geänderte Lage festgestellt werden. Die Opferzahlen haben sich zwar für den Zeitraum 1. Januar 2020 bis 30. September 2020 in G. (wie auch Balkh, Samangan, Jawzjan, Badakhshan, Ghor, Logar, Khost and Bamyan) im Gegensatz zum nationalen Trend erhöht, wobei sich die Opferzahlen in Balkh, Samangan und Badakhshan mehr als verdoppelt haben (UNAMA, Quartely Report 2020, 10/2020, p. 6). Genaue Zahlen liegen dem Gericht insoweit bislang aber nicht vor. Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass sich die Anzahl der Opfer in der Provinz G. aktuell derart erhöht hat, dass nunmehr ein nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts beachtliches Tötungs- und Verletzungsrisiko aufgrund eines bewaffneten innerstaatlichen Konflikts besteht, bestehen nicht. Denn selbst wenn man aktuell von einer Vervierfachung der Opferzahlen in G. ausginge, läge das Tötungs- und Verletzungsrisiko bei 1:985 und damit nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ebenfalls weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts entfernt. Unter Berücksichtigung der Opferzahlen und der oben aufgezeigten Schwere der Auseinandersetzungen in G. lässt sich damit in der Gesamtbetrachtung quantitativer und qualitativer Umstände des Konflikts die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG für den Kläger nicht feststellen.
2.
Der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG.
Dem Kläger droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK. § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK steht einer Abschiebung entgegen, wenn es ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür gibt, dass der Betroffene dadurch tatsächlich Gefahr läuft, im Aufnahmeland einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden.
a) Eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht dem Kläger nicht aufgrund der allgemeinen Sicherheitslage in Afghanistan.
Ein Abschiebungsverbot aufgrund einer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohenden unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung (§ 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK) infolge der allgemeinen Situation der Gewalt im Herkunftsland kommt unter Berücksichtigung der Rechtsprechung zu Art. 3 EMRK nur in Fällen ganz extremer allgemeiner Gewalt in Betracht, wenn eine tatsächliche Gefahr einer Fehlbehandlung infolge des bloßen Umstands der Anwesenheit im Zielstaat besteht (vgl. Nds. OVG, Urt. v. 29.1.2019 - 9 LB 93/18 -, juris Rn 43 m.w.N.). Nach der Rechtsprechung des EGMR ist die allgemeine Lage in Afghanistan nicht als so ernst anzusehen, dass eine Abschiebung dorthin ohne Weiteres eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellt (vgl. EGMR, Urt. v. 11.7.2017 – 46051/13 [S. M. A. v. The Netherlands] – HUDOC Rn. 53).
Es ergeben sich aus den aktuellen Erkenntnismitteln keine durchgreifenden Anhaltspunkte dafür, dass sich die Gefahrenlage bis zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung in einer für ein Abschiebungsverbot relevanten Weise verändert hat.
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist auch 2019 und 2020 sehr besorgniserregend gewesen. Während die Gewalt seitens der regierungsfeindlichen Gruppierungen Anfang 2019 zu Beginn der Friedensgespräche noch eher etwas zurückgegangen ist, war das dritte Quartal 2019 von besonders hoher Gewalt gekennzeichnet. UNAMA registrierte in keinem dritten Quartal seit 2009 so zahlreiche zivile Opfer wie für das Jahr 2019, was unter anderem mit der Gewalt im Rahmen der Präsidentschaftswahlen zusammenhing. Im vierten Quartal 2019 wurde ein Rekord an zivilen Opfern aufgrund von Luftangriffen und Suchoperationen verzeichnet. Seitens der USA wurden 2019 in Afghanistan so viele Luftangriffe geflogen, wie nie zuvor (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Die aktuelle Sicherheitslage, 30. September 2020, S. 7). Im Jahr 2019 fanden auch weiterhin im Süden und Westen Afghanistans schwere Kampfhandlungen statt; feindliche Aktivitäten nahmen zu und breiteten sich in größeren Gebieten des Nordens und Ostens aus. Der Resolute Support (RS) Mission (seit 2015 die Unterstützungsmission der NATO in Afghanistan) zufolge waren für das Jahr 2019 29.083 feindliche Angriffe landesweit zu verzeichnen. Im Gegensatz dazu waren es im Jahr 2018 27.417. Mit einer hohen Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen - speziell in den südlichen, nördlichen und östlichen Regionen – blieb die Sicherheitslage vorerst volatil, bevor ein Zeitraum der Reduzierung der Gewalt registriert werden konnte. Die UNAMA registrierte für das gesamte Jahr 2019 10.392 zivile Opfer, was einem Rückgang von 5% gegenüber 2018 entspricht (Bundesamt für Fremdenwesen, Länderinformation der Staatendokumentation, Afghanistan, Stand 16.12.2020, S. 23). Nach der Unterzeichnung des US-Taliban-Abkommens in Doha berichteten verschiedene Quellen von einem Anstieg der Gewalt und zivile Opfer. Trotz Phasen des Rückgangs der Gewalt hat sich die Gewalt in den ersten sechs Monaten des Jahres 2020 fortgesetzt, wobei die Zivilbevölkerung die Hauptlast zu tragen hat. Ein Bericht des Co-Direktors des Afghanistan Analysts Network (AAN) kam zu dem Schluss, dass „die einzigen Zivilisten, die vom US-Taliban-Deal profitiert haben, diejenigen zu sein scheinen, die in von den Taliban kontrollierten Gebieten leben", in denen die USA und afghanischen Streitkräfte eine „defensive Haltung" einnahmen und Luftangriffe und Nachtangriffe einstellten; während anderswo viele Zivilisten erneut Angriffe der Taliban erlebt haben, in der Angst vor einer „möglichen Verschärfung des Konflikts" (EASO, Afghanistan Security Situation, September 2020, p. 40). In dem Zeitraum vom 1. Januar 2020 bis 30. September 2020 registrierte UNAMA 5.939 zivile Opfer (2.117 Getötete und 3.822 Verletzte). Auch wenn es damit 30 Prozent weniger zivile Opfer im Vergleich zum gleichen Zeitraum im Jahr 2019 und die niedrigste Anzahl ziviler Opfer in den ersten neun Monaten eines Jahres seit 2012 gegeben hat, gehört der Konflikt in Afghanistan nach Einschätzung von UNAMA zu einem der tödlichsten in der Welt für Zivilisten (UNAMA, Quartely Report 2020, 10/2020, p. 1).
Diese besorgniserregende und unzureichende Sicherheitslage in Afghanistan ist dennoch nicht so, dass zu erwarten ist, dass der Kläger im Falle einer Abschiebung dorthin tatsächlich Gefahr läuft, im Aufnahmeland einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Ermittelt man die tatsächliche Gefahr („a sufficiently real risk“) für Zivilpersonen unter Berücksichtigung des Verhältnisses zwischen Opferzahlen im Jahr 2019 (10.392 zivile Opfer) und der Einwohnerzahl Afghanistans (ausgehend von der niedrigsten Bevölkerungszahl von 27 Millionen Einwohnern; vgl. VGH BW, Urteil vom 12.12.2018 - A 11 S 1923/17 - juris Rn. 148, 149 m. w. N.), ist die beachtliche Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts für Zivilpersonen in Afghanistan mit etwa 0,040 % (1: 2.598) zu beziffern. Ein sich in diesem Bereich bewegender Gefahrengrad vermag auch unter Berücksichtigung einer möglichen Dunkelziffer noch nicht die Annahme einer Situation extremer allgemeiner Gewalt zu begründen (Nds. OVG, Urt. v. 29.1.2019 - 9 LB 93/18 -, juris Rn 63).
b) Auch die allgemeine humanitäre Lage in Afghanistan begründet für den Kläger kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK.
Nach der Rechtsprechung des EGMR können auch schlechte sozialwirtschaftliche und humanitäre Bedingungen im Herkunftsland, die nicht auf direkte oder indirekte Handlungen oder Unterlassungen staatlicher oder nichtstaatlicher Akteure zurückzuführen sind, sondern maßgebend auf fehlende staatliche Mittel oder fehlende staatliche Fürsorge, in ganz besonderen Ausnahmefällen, in denen humanitäre Gründe zwingend gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechen, ein Abschiebungsverbot wegen Art. 3 EMRK begründen (vgl. dazu Nds. OVG, Urt. v. 29.1.2019 - 9 LB 193/18 -, juris Rn. 45 ff.; ferner Beschl. v. 25.5.2018 - 9 LA 64/18 -, juris Rn. 6 ff. jeweils mit Verweisen auf die Rechtsprechung des EGMR).
Die allgemeine humanitäre Lage in Afghanistan stellt sich wie folgt dar:
Aus dem Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 16. Juli 2020 (in der Fassung vom 14. Januar 2021) geht hervor, dass Afghanistan weiterhin eines der ärmsten Länder der Welt ist. In humanitären Geberkreisen wird von einer Armutsrate von 80% ausgegangen. Auch die Weltbank prognostiziert einen weiteren Anstieg ihrer Rate von 55% aus dem Jahr 2016, da das Wirtschaftswachstum durch die hohen Geburtenraten absorbiert wird. Zusätzlich belastet die Covid-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark. Dabei bleibt das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten Afghanistans eklatant: Außerhalb der Hauptstadt H. und der Provinzhauptstädte gibt es vielerorts nur unzureichende Infrastruktur für Energie, Trinkwasser und Transport. Die wirtschaftliche Entwicklung bleibt geprägt von der schwierigen Sicherheitslage sowie schwacher Investitionstätigkeit. Das Wirtschaftswachstum konnte sich zuletzt aufgrund der besseren Witterungsbedingungen für die Landwirtschaft erholen und lag 2019 laut Weltbank-Schätzungen bei 2,9%. Für 2020 geht die Weltbank Covid-19-bedingt von einer Rezession (bis zu -8% BIP) aus. Die Schaffung von Arbeitsplätzen bleibt eine zentrale Herausforderung für Afghanistan. Nach Angaben der Weltbank ist die Arbeitslosenquote innerhalb der erwerbsfähigen Bevölkerung in den letzten Jahren zwar gesunken, bleibt aber auf hohem Niveau und dürfte wegen der Covid-19-Pandemie wieder steigen. Laut ILO lag sie 2017 bei 11,2 %. Dabei ist zu beachten, dass der Anteil formaler Beschäftigungsverhältnisse, ähnlich wie in den benachbarten Staaten Asiens, extrem gering ist. Die Grundversorgung ist für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung, dies gilt in besonderem Maße für Rückkehrer. Diese bereits prekäre Lage hat sich seit März 2020 durch die Covid-19-Pandemie stetig weiter verschärft. UNOCHA erwartet, dass 2020 bis zu 14 Millionen Menschen (2019: 6,3 Mio. Menschen) auf humanitäre Hilfe (u. a. Unterkunft, Nahrung, sauberem Trinkwasser und medizinischer Versorgung) angewiesen sein werden. Dürre, Überschwemmungen oder extremer Kälteeinbruch treten regelmäßig auf. Gerade der Norden - eigentlich die „Kornkammer“ des Landes - ist extremen Natureinflüssen wie Trockenheit, Überschwemmungen und Erdrutschen ausgesetzt. Dürren der vergangenen Jahre haben dazu beigetragen, dass ca. zwei Millionen Kinder unter fünf Jahren als akut unterernährt gelten. Die Zahlen der Rückkehrer aus Iran sind weiterhin auf einem hohen Stand, wenn auch grundsätzlich rückläufig (2019: 485.000; 2018: 775.000). Noch stärker ist der Rückgang bei den Rückkehrern aus Pakistan erkennbar, (2019: 19.900; 2018: 46.000), was auch an der grundsätzlich leicht verbesserten Lage afghanischer Migranten und Flüchtlinge in Pakistan liegt. Für Rückkehrer leisten UNHCR und IOM in der ersten Zeit Unterstützung. Rückkehrer aus Europa und anderen Regionen der Welt werden von der afghanischen Gesellschaft häufig misstrauisch wahrgenommen. Gleichzeitig hängt ihnen insbesondere innerhalb ihrer Familien oftmals der Makel des Scheiterns an. Es sind jedoch keine Fälle bekannt, in denen Rückkehrer nachweislich aufgrund ihres Aufenthalts in Europa Opfer von Gewalttaten wurden. Es gibt unbestätigte Meldungen über versuchte Entführungen aufgrund der Vermutung, der Rückkehrer sei im Ausland zu Vermögen gekommen. Haben die Rückkehrer lange Zeit im Ausland gelebt oder Afghanistan mit der gesamten Familie verlassen, ist es wahrscheinlich, dass lokale Netzwerke nicht mehr existieren oder der Zugang zu diesen erheblich eingeschränkt ist. Dies kann die Reintegration stark erschweren. Der Mangel an Arbeitsplätzen stellt für den Großteil der Rückkehrer die größte Schwierigkeit dar, da der Zugang zum Arbeitsmarkt maßgeblich von lokalen Netzwerken abhängt (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan; Stand: Juni 2020 (in der Fassung vom 14. Januar 2021, S. 22 und 24 f.).
Ausweislich des Länderinformationsblatts Afghanistan des österreichischen Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 16. Dezember 2020 hat sich die bereits prekäre Lage in Afghanistan seit März 2020 durch die Covid-19-Pandemie stetig weiter verschärft. Laut einer IPC-Analyse vom April 2020 wird die Zahl der Menschen, die in Afghanistan unter akuter Ernährungsunsicherheit der Stufe 4 der Emergency-IPC leiden, im Zeitraum Juni-November 2020 voraussichtlich von 3,3 Millionen auf fast 4 Millionen ansteigen. Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Es gibt einen großen Anteil an Selbständigen und mithelfenden Familienangehörigen, was auf das hohe Maß an Informalität des Arbeitsmarktes hinweist, welches mit der Bedeutung des Agrarsektors in der Wirtschaft einhergeht. Im Rahmen einer Befragung an 15.012 Personen gaben rund 36% der befragten Erwerbstätigen an, in der Landwirtschaft tätig zu sein. Bei der Arbeitssuche spielen persönliche Kontakte eine wichtige Rolle. Ohne Netzwerke, ist die Arbeitssuche schwierig. Die schnelle Ausbreitung des COVID-19 Virus in Afghanistan hat starke Auswirkungen auf die Vulnerablen unter der afghanischen Bevölkerung, einschließlich der Rückkehrer, da sie nur begrenzten Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, insbesondere zur Gesundheitsversorgung, haben und zudem aufgrund der landesweiten Abriegelung Einkommens- und Existenzverluste hinnehmen müssen. Auch wenn scheinbar kein koordinierter Mechanismus existiert, der garantiert, dass alle Rückkehrer die Unterstützung erhalten, die sie benötigen, und dass eine umfassende Überprüfung stattfindet, können Personen, die freiwillig oder zwangsweise nach Afghanistan zurückgekehrt sind, dennoch verschiedene Unterstützungsformen in Anspruch nehmen. Für Rückkehrer leisten UNHCR und IOM in der ersten Zeit Unterstützung. Bei der Anschlussunterstützung ist die Transition von humanitärer Hilfe hin zu Entwicklungszusammenarbeit nicht immer lückenlos. Wegen der hohen Fluktuation im Land und der notwendigen Zeit der Hilfsorganisationen, sich darauf einzustellen, ist Hilfe nicht immer sofort dort verfügbar, wo Rückkehrer sich niederlassen. UNHCR beklagt zudem, dass sich viele Rückkehrer in Gebieten befinden, die für Hilfsorganisationen aufgrund der Sicherheitslage nicht erreichbar sind. Soziale, ethnische und familiäre Netzwerke sind für einen Rückkehrer unentbehrlich. Der Großteil der nach Afghanistan zurückkehrenden Personen verfügt über ein familiäres Netzwerk, auf das in der Regel zurückgegriffen wird. Wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage, den ohnehin großen Familienverbänden und individuellen Faktoren ist diese Unterstützung jedoch meistens nur temporär und nicht immer gesichert. Neben der Familie als zentrale Stütze der afghanischen Gesellschaft, kommen noch weitere wichtige Netzwerke zum Tragen, wie z.B. der Stamm, der Clan und die lokale Gemeinschaft (siehe zum Ganzen: Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Gesamtaktualisierung am 16. Dezember 2020, S. 299 ff., 321 ff.).
Laut dem Bericht des European Asylum Support Office (EASO) von August 2020 stellt die Weltbank in ihrem Entwicklungsupdate für Afghanistan vom Juli 2020 fest, dass das Bruttoinlandsprodukt (BIP) Afghanistans im Jahr 2020 um 5,5 % bis 7,4 % schrumpfen wird, als Folge der COVID-19-Maßnahmen, was die Armut verschärfen und zu einem starken Rückgang der Staatseinnahmen führen wird. Modellierte Schätzungen für 2020 zeigen einen Anstieg der Arbeitslosenquote in Afghanistan im Vergleich zu 2019 und 2018, wobei die Gesamtarbeitslosenquote (Personen ab 15 Jahren) auf 11,2 % und die Jugendarbeitslosigkeit (15-24 Jahre) auf 17,5 % geschätzt wird. Schätzungsweise mehr als die Hälfte der Bevölkerung ist auf der Suche nach Arbeit. In ihrem im Juli 2020 veröffentlichten Afghanistan Development Update stellt die Weltbank fest, dass die COVID-19 Maßnahmen die Industrie, den Dienstleistungssektor und die Geschäftsaktivitäten erheblich beeinträchtigt haben, was zu Arbeitsplatzverlusten geführt hat. Es wird erwartet, dass das Pro-Kopf-BIP stark fallen wird - um 13 % bis 2021 - und mittelfristig unter dem Niveau vor COVID-19 bleiben wird. Infolgedessen wird erwartet, dass die Armutsquote möglicherweise 2020 73 Prozent erreichen könnte. Binnenvertriebene und Rückkehrer ziehen es vor, sich auf der Suche nach Sicherheit in städtischen Zentren niederzulassen. Aufgrund des anhaltenden Konflikts und der Dürre im Winter 2017/18 mussten viele afghanische Landbewohner ihre Wohnorte aufgeben und verloren dadurch Arbeit und Einkommen. Die Land-Stadt-Migration, die durch die Verschlechterung der landwirtschaftlichen Produktion verursacht wurde, führte zu einer weiteren Begrenzung städtischer Beschäftigungsmöglichkeiten. In ihrem im Juli 2020 veröffentlichten Afghanistan Development Update berichtet die Weltbank, dass als Folge der COVID-19-Maßnahmen der Prozentsatz der Afghanen, die in Armut leben, von 55 % im Jahr 2017 auf 61 % bis 72 % im Jahr 2020 ansteigen könnte, was auf sinkende Einkommen und steigende Preise für Lebensmittel und andere Haushaltswaren zurückzuführen ist (EASO, Afghanistan: Key socio-economic indicators, August 2020, p. 23, 28, 29 und 36).
Nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln ist eine pauschale Beurteilung der Lebensbedingungen für Rückkehrer nach Afghanistan nicht möglich. Nicht für sämtliche Rückkehrer aus dem westlichen Ausland kann angenommen werden, die schlechten Bedingungen im Land könnten generell und bei allen diesen Rückkehrern ganz außerordentliche individuelle Umstände darstellen mit der Folge, dass bei allen Rückkehrern die hohen Anforderungen zur Bejahung eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK trotz fehlenden Akteurs erfüllt sind. Die Lage der Rückkehrer, obwohl die Situation für sie schwierig ist, stellt sich nicht für alle gleichermaßen problematisch dar. Berichte dahin, dass Rückkehrer generell oder aber jedenfalls in sehr großer Zahl und unabhängig von ihrer persönlichen Disposition ihr Existenzminimum nicht sichern könnten, liegen dem Gericht nicht vor. Das Gericht geht daher in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass zur Beurteilung der Gefahrenlage die individuellen Umstände des Rückkehrers maßgeblich sind und in der Regel für die Personengruppe der jungen, alleinstehenden und arbeitsfähigen männlichen afghanischen Staatsangehörigen bei einer Rückkehr in die Hauptstadt Kabul oder in eine andere größere Stadt wie Herat oder Mazar-e Sharif trotz der schwierigen humanitären Situation in aller Regel eine extreme Gefahrensituation im Sinne des § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG in verfassungskonformer Auslegung selbst dann nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit droht, wenn der Rückkehrer beruflich nicht besonders qualifiziert ist und weder über nennenswertes Vermögen noch über Rückhalt und Unterstützung durch Familie oder Bekannte verfügt (ebenso Nds. OVG, Urt. v. 29.1.2019 - 9 LB 93/18 -, juris Rn 55 ff.).
Dieser Maßstab bedarf allerdings mit Blick auf die anhaltenden Auswirkungen der im Jahr 2020 aufgetretenen Covid-19-Pandemie, insbesondere die dadurch gegebenen Erschwernisse für den Arbeitsmarkt, aktuell der Modifizierung. Auch wenn eine verlässliche Einschätzung der weiteren Auswirkungen der Pandemie aufgrund der dynamischen Entwicklung des Infektionsgeschehens nicht möglich ist, kann nicht davon ausgegangen werden, dass es sich bei der derzeitigen Zuspitzung der humanitären Lage in Afghanistan um ein temporäres Phänomen mit der Aussicht auf alsbaldige entscheidungserhebliche Verbesserungen handelt (OVG Bremen, Urt. v. 22.9.2020 - 1 LB 258/20 -, juris Rn. 52). Derzeit sind angesichts der gravierenden Verschlechterung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Afghanistan infolge der COVID-19-Pandemie daher auch im Falle eines leistungsfähigen, erwachsenen Mannes ohne Unterhaltsverpflichtungen bei Rückkehr aus dem westlichen Ausland die hohen Anforderungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK regelmäßig erfüllt, wenn in seiner Person keine besonderen begünstigenden Umstände vorliegen. Derartige Umstände können dann gegeben sein, wenn der Schutzsuchende in Afghanistan ein hinreichend tragfähiges und erreichbares familiäres oder soziales Netzwerk hat, er nachhaltige finanzielle oder materielle Unterstützung durch Dritte erfährt oder über ausreichendes Vermögen verfügt (VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 17.12.2020 - A 11 S 2042/20 -, juris Rn. 105 m. w. N.).
Besondere günstige Umstände beim Kläger liegen hier vor. Der Kläger verfügt über ein familiäres Netzwerk in Afghanistan, welches unterstützungsfähig ist. Drei Onkel väterlicherseits leben in G., unter anderem der Onkel, bei dem er vor seiner Ausreise in Afghanistan gelebt und in dessen Laden er gearbeitet hat. Darüber hinaus lebt eine Tante mütterlicherseits in G. sowie zwei Tanten väterlicherseits in H.. Darüber hinaus halten sich sechs Cousins in H. auf, die dort im handwerklichen Bereich arbeiten (Sitzungsprotokoll, S. 2 f.). Damit verfügt der Kläger über Netzwerke in H. und in G., über die er – im Vergleich zu Rückkehrern ohne Netzwerk – erleichterte Zugangsmöglichkeiten zum Arbeitsmarkt hat und zudem durch diese auch in sonstiger Weise unterstützt werden kann. Hinzu kommt, dass der Onkel in G. weiterhin den Laden führt, in dem der Kläger vor seiner Ausreise aus Afghanistan bereits gearbeitet hat. Auch wenn die wirtschaftliche Lage insgesamt aufgrund der Covid-19-bedingten Auswirkungen nach dem Vorbringen des Klägers nunmehr schlecht sei (Sitzungsprotokoll, S. 2), sind Unterstützungsleistungen der Familie hierdurch nicht ausgeschlossen. Hierbei fällt maßgeblich ins Gewicht, dass nach dem Vorbringen des Klägers die wirtschaftliche Lage seiner Familie, insbesondere die seines Onkels, vor Corona-19 gut gewesen sei (Sitzungsprotokoll, S. 3) und der Onkel in der Lage gewesen ist, die Ausreise des Klägers zu finanzieren. Hinzu kommt, dass sowohl sein Onkel als auch der Kläger selbst über Ländereien verfügen (Sitzungsprotokoll, S. 3) und der Kläger seine Familie daher als grundsätzlich „wohlhabend“ bezeichnet (Sitzungsprotokoll, S. 3). Damit liegen für den arbeitsfähigen Kläger besonders begünstigende Umstände vor, nach denen die hohen Anforderungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK hier nicht erfüllt sind.
Mit Blick auf das unterstützungsfähige Netzwerk des Klägers in Afghanistan bedarf es keiner Entscheidung, ob besondere Umstände, die trotz der gravierenden Verschlechterung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Afghanistan infolge der COVID-19-Pandemie einem Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG entgegenstehen, auch darin liegen können, dass eine besondere Belastbarkeit, Durchsetzungsfähigkeit oder fachliche Qualifikation des Ausländers vorliegt, so dass er im Falle einer Abschiebung nach Afghanistan in der Lage wäre, dort aus eigener Kraft - auch ohne familiäres Netzwerk - seinen Lebensunterhalt zumindest am Rande des Existenzminimums nachhaltig zu sichern (so OVG Rh.-Pf., Urt. v. 30.11.2020 - 13 A 11421/19 -, juris Rn. 136; vgl. ferner OVG Bremen, Urt. v. 24.11.2020 - 1 LB 351/20 -, juris Rn. 52 ff.).
3.
Es besteht auch kein nationales Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG für den Kläger. Danach soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht.
Im Hinblick auf die Lebensbedingungen, die den Kläger in Afghanistan erwarten, insbesondere die dort herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage, kann er Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nur ausnahmsweise beanspruchen, wenn er bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Nur dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Wann danach allgemeine Gefahren von Verfassungs wegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden (vgl. BVerwG, U. v. 29.9.2011 - 10 C 23.10 -, juris Rn. 22). Der Ausländer muss im Fall der Abschiebung gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert werden. Dies ist nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln wie oben dargelegt nicht der Fall. Das Gericht geht - wie bereits ausgeführt - davon aus, dass der Kläger aufgrund seines familiären Netzwerks und seiner Ländereien im Fall einer zwangsweisen Rückführung nach Afghanistan in der Lage wäre, ein kleines Einkommen zu erzielen und damit auch ein Leben wenigstens am Rande des Existenzminimums zu bestreiten. Eine lebensbedrohliche oder schwerwiegende Erkrankung im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würde, hat der Kläger nicht.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 155 Abs. 2 VwGO i. V. m. § 83 b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.