Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 30.05.2022, Az.: 12 A 12267/17

verwestlichte Frau; Verwestlichung; Verwestlichung

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
30.05.2022
Aktenzeichen
12 A 12267/17
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2022, 59269
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tenor:

Die Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin zu 1. die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen und den Klägerinnen zu 2. und zu 3. die Flüchtlingseigenschaft unter der Bedingung zuzuerkennen, dass der Verpflichtungsausspruch in Bezug auf die Klägerin zu 1. rechtskräftig wird. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 28.11.2017 wird in Bezug auf die Klägerinnen zu 1. bis 3. hinsichtlich der Ziffern 1 und 3 bis 5 aufgehoben.

Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Die Entscheidung ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerinnen vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages leisten.

Tatbestand:

Die Klägerinnen begehren die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise die Gewährung subsidiären Schutzes und weiter hilfsweise die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG).

Die Klägerin zu 1. ist am J. 1986 in K. (Irak) geboren und die am L. 2011 und am M. 2014 geborenen Klägerinnen zu 2. und 3. sind ihre Töchter. Sie sind irakische Staatsangehörige kurdischer Volkszugehörigkeit. Im September 2017 reisten die Klägerinnen gemeinsam mit dem Ehemann der Klägerin zu 1. - dem Vater der Klägerinnen zu 2. und 3. - in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellten am 05.10.2017 einen Asylantrag.

Der Ehemann der Klägerin zu 1. berichtete in seiner Anhörung vor dem A. (Bundesamt) am 18.10.2017, er habe in K. mehrere Apotheken und zwei Supermärkte besessen. Bereits im Jahr 2013 sei er bedroht und zu Geldzahlungen aufgefordert worden und im Jahr 2014 sei auf seinen Bruder, der in einer der Apotheken gearbeitet habe, geschossen worden. Im Jahr 2016 sei ein anderer Bruder, der ebenfalls in einer seiner Apotheken gearbeitet habe, entführt und getötet worden. Als im Jahr 2017 Unbekannte versucht hätten, die Klägerin zu 3. zu entführen, sei er mit den Klägerinnen zunächst zu seinem Schwiegervater gefahren und dann mit ihnen ausgereist. Bei einer Rückkehr in den Irak fürchte er, dass entweder er oder die Klägerinnen zu 2. und 3. getötet würden.

Die Klägerin zu 1. teilte in ihrer Anhörung am 18.10.2017 mit, ihr Ehemann habe ihr erst in der Türkei von den Bedrohungen erzählt. Zuvor habe sie gedacht, es handele sich um eine Urlaubsreise.

Mit Bescheid vom 28.11.2017 lehnte das Bundesamt es ab, die Klägerinnen und den Ehemann der Klägerin zu 1. als asylberechtigt anzuerkennen oder ihnen die Flüchtlingseigenschaft oder subsidiären Schutz zuzuerkennen (Nrn. 1 bis 3). Es stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 4). Nach Ablauf einer Ausreisefrist 30 Tagen drohte es den Klägerinnen und dem Ehemann der Klägerin zu 1. die Abschiebung in den Irak oder in einen anderen aufnahmebereiten Staat an und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Nrn. 5 und 6). Zur Begründung führte das Bundesamt aus, die vorgetragenen Erpressungs- und Entführungsversuche knüpften nicht an ein flüchtlingsrechtlich relevantes Merkmal an. Zudem sei die Schilderung aufgrund verschiedener Ungereimtheiten nicht glaubhaft. Den Klägerinnen und dem Ehemann der Klägerin zu 1. drohe auch kein ernsthafter Schaden im Sinne von § 4 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 Asylgesetz (AsylG). Hinsichtlich eines drohenden Schadens durch Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung sei auf die Ausführungen zum Flüchtlingsschutz zu verweisen. Kriegsbedingte Gefahren hätten die Klägerinnen und der Ehemann der Klägerin zu 1. nicht erwähnt und sie hätten sich bereits 2013/2014 vorübergehend in N. in Sicherheit gebracht. Angesichts der finanziellen Mittel und des familiären Rückhaltes der Klägerinnen und des Ehemannes der Klägerin zu 1. könnten sie sich bei Bedarf in einem sicheren Gebiet wie der Autonomen Region Kurdistan aufhalten. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) bestehe aufgrund der derzeitigen humanitären Bedingungen im Irak auch unter Berücksichtigung der individuellen Umstände der Klägerinnen und des Ehemannes der Klägerin zu 1. nicht. Mit ihrem finanziellen und familiären Hintergrund und den beruflichen Erfahrungen des Ehemannes der Klägerin zu 1. würde es ihnen gelingen, erneut im Irak Fuß zu fassen. Gefahren im Sinne von § 60 Abs. 7 AufenthG seien weder vorgetragen noch ersichtlich.

Am 08.12.2017 haben die Klägerinnen gemeinsam mit dem Ehemann der Klägerin zu 1. Klage erhoben. Zunächst haben sie geltend gemacht, sie seien vom IS und von schiitischen Milizen verfolgt worden. Die schiitischen Milizen hätten die Kläger als Kurden und wegen der Konfessionslosigkeit des Ehemannes der Klägerin zu 1. vertreiben wollen. Die vom Bundesamt angenommen Widersprüche seien konstruiert. Des Weiteren drohe den Klägern durch die bewaffneten Auseinandersetzungen im Nordirak ein ernsthafter Schaden. Aufgrund der Vorverfolgung der Kläger durch schiitische Milizen lägen in ihren Personen individuelle gefahrerhöhende Merkmale vor. Eine innerstaatliche Fluchtalternative stehe ihnen nicht zur Verfügung, nachdem der Konflikt durch die Offensive vom 16.10.2017 neu entfacht worden sei. Aufgrund der den Klägern drohenden Festnahmen, Entführungen, Misshandlungen und extralegalen Hinrichtungen seien mindestens Abschiebungsverbote festzustellen.

Am 07.05.2018 hat der Ehemann der Klägerin zu 1. seinen Asylantrag zurückgenommen und ist am 19.06.2018 freiwillig in den Irak ausgereist. Mit Schreiben vom 22.06.2018 hat der Landkreis D-Stadt eine schriftliche Erklärung des Ehemannes der Klägerin zu 1. vom 14.06.2018 vorgelegt, mit der er die Klage gegen den Ablehnungsbescheid vom 28.11.2017 zurückgenommen und sich mit einer Weiterleitung der Erklärung an das zuständige Gericht einverstanden erklärt hat. Mit Beschluss vom 16.02.2022 wurde das Verfahren des Ehemannes der Klägerin zu 1. abgetrennt und unter dem Aktenzeichen 12 A 594/22 eingestellt.

Die Klägerinnen haben an ihrer Klage festgehalten. Sie meinen, für die Klägerin zu 1. komme eine geschlechtsspezifische Verfolgung oder die Gewährung subsidiären Schutzes in Betracht. Zwei Monate, nachdem der Ehemann der Klägerin zu 1. Deutschland verlassen habe, habe er sich bei ihr gemeldet und verlangt, dass sie mit den Klägerinnen zu 2. und 3. umgehend in den Irak komme. Als sie das abgelehnt habe, habe er ihr mitgeteilt, er werde sie töten und die Klägerinnen zu 2. und 3. zu sich holen. Aus Angst vor den Bedrohungen sei sie im Januar 2019 mit den Klägerinnen zu 2. und 3. in einen anderen Ort gezogen und habe eine Auskunftssperre einrichten lassen. Außerdem habe sie eine Strafanzeige wegen Bedrohung gegen ihren Ehemann gestellt. Nach der Trennung von ihrem Ehemann habe sich ihr Leben grundlegend verändert. Sie habe eine Ausbildung zur Pflegeassistentin begonnen und mittlerweile fast abgeschlossen und werde im Sommer mit einer weiteren Ausbildung zur Heilerziehungspflegerin anfangen. In der Freizeit fahre sie mit den Klägerinnen zu 2. und 3. gerne Fahrrad, treffe sich mit Freundinnen und höre Musik. Sie schreibe an einem Gedichtband, in dem sie sich mit Frauenaspekten, unter anderem der Freiheit von Frauen, beschäftige. Die Klägerinnen zu 2. und 3. sollten an Karate- und Musikkursen teilnehmen und sie lege großen Wert auf ihre Schulbildung. Sie wolle unter keinen Umständen wieder das Leben im Irak führen müssen, wie sie es kenne, und wünsche sich insbesondere für ihre Töchter, dass sie sich frei entfalten und gleichberechtigt an einer freien Gesellschaft teilhaben könnten. Bei einer Rückkehr in den Irak fürchte sie, dass ihr Ehemann ihr die Klägerinnen zu 2. und 3. wegnehmen und ihr selbst etwas antun würde. Ihre eigene Familie würde ihr davor keinen Schutz bieten, sondern verlangen, dass sie zu ihr zurückkehre. Ihre Familie akzeptiere nicht, dass sie als Frau alleine lebe, und habe sie schon mehrfach zur Rückkehr aufgefordert.

Die Klägerinnen beantragen,

die Beklagte unter Teilaufhebung des Bescheides vom 28.11.2017 zu verpflichten, ihnen die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,

hilfsweise, ihnen subsidiären Schutz zu gewähren,

weiter hilfsweise, festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Irak vorliegen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung verweist sie auf den angefochtenen Bescheid. Ergänzend teilt sie mit, die Klägerinnen hätten den Vortrag hinsichtlich der Bedrohung durch den Ehemann der Klägerin zu 1. und hinsichtlich der bestehenden Familienverhältnisse nicht ausreichend dargetan.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge sowie auf die Sitzungsniederschrift vom 30.05.2022 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Trotz des Ausbleibens der Beklagten im Termin zur mündlichen Verhandlung kann ein Urteil ergehen, da sie gemäß § 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) mit der Ladung darauf hingewiesen worden ist, dass auch ohne sie verhandelt und entschieden werden kann.

Die Klage ist zulässig und begründet. Die Beklagte ist zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu verpflichten, vgl. § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO. Daher ist der Bescheid vom 28.11.2017 hinsichtlich der Klägerinnen teilweise aufzuheben, vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.

I. Die Klägerin zu 1. hat Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aus § 3 Abs. 4 i.V.m. Abs. 1 AsylG.

Danach wird einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG oder das Bundesamt hat nach § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG von der Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG abgesehen. Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28.07.1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.

Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten gemäß § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die (1.) aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist, oder (2.) in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher Weise betroffen ist. Als derartige Verfolgung kann nach § 3a Abs. 2 Nr. 1 unter anderem die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt gelten.

Gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 4 gilt eine Gruppe insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn (a) die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und (b) die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 4 AsylG kann eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht anknüpft.

Die Verfolgung kann gemäß § 3c Nr. 3 AsylG auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat oder Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, wirksamen und dauerhaften Schutz vor Verfolgung zu bieten.

Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer - bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr - die genannten Gefahren mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Hierfür ist erforderlich, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine individuelle Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab gilt unabhängig von der Frage, ob der Ausländer vorverfolgt ausgereist ist oder nicht. Vorverfolgte werden nach den unionsrechtlichen Vorgaben nicht über einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab, sondern über die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU privilegiert. Danach besteht bei ihnen eine tatsächliche Vermutung, dass ihre Furcht vor Verfolgung begründet ist. Diese Vermutung kann widerlegt werden. Hierfür ist es erforderlich, dass stichhaltige Gründe dagegen sprechen, dass ihnen erneut eine derartige Verfolgung droht (vgl. ausführlich u. m.w.N. zum Wahrscheinlichkeitsmaßstab BVerwG, Urt. v. 04.07.2019 - 1 C 31/18 - juris Rn. 16 ff.).

Gemäß § 3e AsylG wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft allerdings nicht zuerkannt, wenn er (1.) in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d hat und (2.) sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.

Nach diesen Maßgaben ist den Klägerin zu 1. die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, weil sie aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu der sozialen Gruppe irakischer Frauen, deren Identität westlich geprägt ist, im Falle einer Rückkehr in den Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung ausgesetzt wäre. Nach der ständigen Rechtsprechung der Kammer werden Frauen, die sich der bestehenden rechtlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Diskriminierung der Frauen im Irak aufgrund ihrer westlichen Prägung entgegenstellen, wegen ihrer deutlich abgegrenzten Identität von der irakischen Gesellschaft als andersartig betrachtet und können einer beachtlichen Verfolgungsgefahr ausgesetzt sein (vgl. u.a. Urt. v. 02.02.2022 - 12 A 12106/17 -, juris; ähnlich u.a. auch Urt. v. 10.05.2022 - 6 A 3221/17 - und Urt. v. 16.05.2021 - 3 A 5361/19 -, jeweils V.n.b.). Dem liegen folgende Erwägungen zugrunde (VG Hannover, Urt. v. 18.03.2021 - 12 A 1130/18 -, n.v., UA S. 6 ff.).:

„Auf Basis dieses rechtlichen Maßstabes bilden irakische Frauen eine bestimmte soziale Gruppe, sofern sie - beispielsweise infolge eines längeren Aufenthalts in Europa - in einem solchen Maße in ihrer Identität westlich geprägt worden sind, dass sie entweder nicht mehr dazu in der Lage wären, bei einer Rückkehr in den Irak ihren Lebensstil den dort erwarteten Verhaltensweisen und Traditionen anzupassen, oder denen dies infolge des erlangten Grads ihrer westlichen Identitätsprägung nicht mehr zugemutet werden kann (VG Hannover, Urt. v. 22.6.2020 - 12 A 773/18 -, n.v., Urt. v. 10.04.2019 - 6 A 2689/17 -, juris Rn. 27, und Urt. v. 10.12.2018 - 6 A 6837/16 -, juris Rn. 58; VG Stade, Urt. v. 23.07.2019 - 2 A 19/17 -, juris Rn. 39 ff.; VG Aachen, Urt. v. 03.05.2019 - 4 K 3092/17.A -, juris Rn. 30; VG Gelsenkirchen, Urt. v. 08.06.2017 - 8a K 1971/16.A -, juris Rn. 33; VG Göttingen, Urt. v. 05.07.2011 - 2 A 215/09 -, juris Rn. 24 ff.; vgl. auch Nds. OVG, Beschl. v. 16.02.2006 - 9 LB 27/03 -, juris Rn. 13). Derart in ihrer Identität westlich geprägte Frauen teilen sowohl einen unveränderbaren gemeinsamen Hintergrund als auch bedeutsame Merkmale im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 AsylG. Sie werden wegen ihrer deutlich abgegrenzten Identität von der irakischen Gesellschaft als andersartig betrachtet.

Nach den vorliegenden Erkenntnissen (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Irak, 17.03.2020, S. 96-108, Auswärtiges Amt, Lagebericht v. 02.03.2020, S. 14 f.; ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Autonome Region Kurdistan: Lage alleinstehender Frauen; Sicherheitslage, 12.08.2019; UNHCR, Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus dem Irak fliehen, Mai 2019, S. 99-112; EASO, Gezielte Gewalt gegen Individuen, März 2019, S. 175-189; ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Lage westlich orientierter Frauen, 30.04.2018; Human Rights Watch, No one is safe. Abuses of women in Iraq’s crimi-nal justice system, Februar 2014) sind Frauen im Irak weitreichender Diskriminierung ausgesetzt. Konservative, patriarchalische soziale Normen und die Dominanz religiöser Werte in den verschiedenen Gemeinschaften im Irak verhindern die effektive und gleichberechtigte Teilnahme von Frauen am politischen, sozialen und wirtschaftlichen Leben.

In der Verfassung ist die Gleichstellung der Geschlechter festgeschrieben und eine Frauenquote von 25 % im Parlament (Autonome Region Kurdistan-Irak: 30 %) verankert. Nach Angaben der Unabhängigen Hohen Wahlkommission haben 2.009 Kandidatinnen an den letzten Parlamentswahlen teilgenommen. Während des Wahlkampfs wurden die Plakate der Kandidatinnen beschädigt, und es wurden Fotos online gestellt, die die Kan-didatinnen scheinbar in freizügiger Kleidung zeigten. Einige Kandidatinnen zogen ihre Kandidatur zurück, nachdem sie Drohungen und Einschüchterungen erhalten hatten. Im Präsidium des Parlaments ist keine Frau vertreten. Im Regierungskabinett gibt es seit Oktober 2019 eine Frau, die Bildungsministerin. Die Hauptstadt Bagdad hatte von 2015 bis 2020 eine Frau als Bürgermeisterin, der Posten gilt allerdings als wenig einflussreich. In Kurdistan ist eine Frau Parlamentspräsidentin, es gibt drei Ministerinnen und einige hochrangige Richterinnen. Gleichwohl stellen diese Frauen Ausnahmen in einer männerdominierten Berufswelt dar. Frauen sind auf Gemeinde- und Bundesebene, in Verwaltung und Regierung unterrepräsentiert. Sie werden selten in Entscheidungspositionen und einflussreiche Positionen ernannt. Die traditionelle Rollenverteilung in der Familie lässt wenig Möglichkeiten für Frauen, sich im Studium oder im Beruf weiter zu entwickeln. Dies wird zum Teil mit der religiösen Tradition begründet, beruht aber auch auf den weit verbreiteten patriarchalischen Strukturen. Dabei stellt die Quote zwar sicher, dass Frauen zahlenmäßig vertreten sind, sie führt aber nicht dazu, dass Frauen einen wirklichen Einfluss auf Entscheidungsfindungsprozesse haben bzw. dass das Interesse von Frauen auf der Tagesordnung der Politik steht.

Frauen sind weit verbreiteter gesellschaftlicher Diskriminierung ausgesetzt und werden unter mehreren Aspekten der Gesetzgebung ungleich behandelt. Laut Art. 14 und 20 der Verfassung ist jede Art von Diskriminierung aufgrund des Geschlechtes verboten. Art. 41 bestimmt jedoch, dass Iraker Personenstandsangelegenheiten ihrer Religion entsprechend regeln dürfen. Viele Frauen kritisieren diesen Artikel als Grundlage für eine Re-Islamisierung des Personenstandsrechts und damit eine Verschlechterung der Stellung der Frau. Zudem findet auf einfachgesetzlicher Ebene die verfassungsrechtlich garantierte Gleichstellung häufig keine Entsprechung. Defizite bestehen insbesondere im Familien-, Erb- und Strafrecht sowie im Staatsangehörigkeitsrecht. In der Praxis ist die Bewegungsfreiheit für Frauen stärker eingeschränkt als für Männer. So hindert das Gesetz Frauen beispielsweise daran, ohne die Zustimmung eines männlichen Vormunds oder gesetzlichen Vertreters einen Reisepass zu beantragen oder ein Dokument zur Feststellung des Personenstands zu erhalten, welches für den Zugang zu Beschäftigung, Bildung und einer Reihe von Sozialdiensten erforderlich ist.

Die Gewalt gegen Frauen und Mädchen ist seit 2003 gestiegen und setzt sich unvermindert fort. Frauen und Mädchen sind im Irak Opfer von gesellschaftlichen, rechtlichen und wirtschaftlichen Diskriminierungen, Entführungen und Tötungen aus politischen, religiösen oder kriminellen Gründen, sexueller Gewalt, erzwungener Umsiedlung, häuslicher Gewalt, "Ehrenmorden" und anderen schädlichen traditionellen Praktiken, wie etwa (Sex-)Handel und erzwungener Prostitution. In den Familien sind patriarchische Strukturen weit verbreitet; Frauen werden immer noch in Ehen gezwungen. Mehr als 20 % der Frauen werden vor ihrem 18. Lebensjahr verheiratet, viele davon im Alter von 10 bis 14 Jahren.

Frauen wird überproportional der Zugang zu Bildung und Teilnahme am Arbeitsmarkt verwehrt. Je höher die Bildungsstufe ist, desto weniger Mädchen sind vertreten. Frauen und Mädchen sind im Bildungssystem deutlich benachteiligt und haben noch immer einen schlechteren Bildungszugang als Jungen und Männer. Schätzungen zufolge sind Frauen etwa doppelt so stark von Analphabetismus betroffen wie Männer. In ländlichen Gebieten ist die Einschulungsrate für Mädchen weit niedriger als jene für Jungen. Häufig lehnen die Familien eine weiterführende Schule für Mädchen ab oder ziehen eine „frühe Ehe“ für sie vor.

Frauen sind außerdem wirtschaftlicher Diskriminierung hinsichtlich des Zugangs zum Arbeitsmarkt, Kredit und Lohngleichheit ausgesetzt. Die geschätzte Erwerbsquote von Frauen lag 2014 bei nur 14%, der Anteil an der arbeitenden Bevölkerung bei 17%. Jene rund 85% der Frauen, die nicht an der irakischen Arbeitswelt teilhaben, sind einem erhöhten Armutsrisiko ausgesetzt, selbst wenn sie in der informellen Wirtschaft mit Arbeiten wie Nähen oder Kunsthandwerk beschäftigt sind. Den Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation von 2010 zufolge führt der Irak die Liste der Länder mit der niedrigsten Erwerbsbeteiligung von Frauen an. In einem Artikel von Al-Monitor vom Dezember 2017 wird berichtet, dass für viele Menschen im Irak die einzig akzeptablen Arbeitsplätze für Frauen in bestimmten häuslichen Bereichen oder Regierungsabteilungen zu finden sind. Frauen und Mädchen, die in Geschäften, Cafés, im Unterhaltungssektor, in der Krankenpflege oder im Transportsektor (Taxi-/LKW-Fahrer) arbeiten, sind verpönt.

Weiblich geführte Haushalte haben nicht unbedingt Zugang zu Finanzanlagen, Sozialleistungen oder dem öffentlichen Verteilungssystem. Viele sind auf Unterstützung durch ihre Familien, Behörden und Nichtregierungsorganisationen angewiesen. Während die meisten Frauen im Irak theoretisch Anspruch auf öffentliche oder NGO-Hilfe haben, erhalten in der Praxis nur 20-25% von ihnen diese Hilfe. Darüber hinaus deckt die Hilfe nur einen Teil des jeweiligen Haushaltsbedarfs ab. Haushalte mit weiblichen Familienoberhäuptern sind besonders anfällig für Unsicherheit bei der Nahrungsmittelversorgung. Aufgrund vieler Hindernisse beim Zugang zu Beschäftigung müssen Frauen auf andere Mittel zurückgreifen, um ihren Lebensunterhalt zu sichern, wie Geld leihen, Essen rationieren und ihre Kinder zur Arbeit schicken. Im Kontext einer Gesellschaft, in der die Erwerbstätigkeit von Frauen traditionell gering ist, sind solche Haushalte mit erhöhten bürokratischen Hindernissen und sozialer Stigmatisierung, insbesondere auch im Rückkehrprozess konfrontiert. Ohne männliche Angehörige erhöht sich das Risiko für diese Familien, Opfer von Kinderheirat und sexueller Ausbeutung zu werden.

Die Stellung der Frau hat sich im Vergleich zur Zeit des Saddam-Regimes dramatisch verschlechtert. Mit der Erosion von Sicherheit und Stabilität einhergehend haben frauenfeindliche Ideologien propagierende Milizen Frauen und Mädchen zur Zielscheibe von Angriffen gemacht und sie eingeschüchtert, sich aus dem öffentlichen Leben fernzuhalten. Frauen sehen sich dem Risiko ausgesetzt, von Mitgliedern der ausschließlich männlichen Polizei oder anderen Sicherheitskräften belästigt und misshandelt zu werden. Die größten Opfer der fortdauernden Unsicherheit sind junge Frauen. Die prekäre Sicherheitslage in Teilen der irakischen Gesellschaft und insbesondere unter Binnenflüchtlingen hat negative Auswirkungen auf das Alltagsleben und die politischen Freiheiten der Frauen. Frauen, die in politischen und sozialen Bereichen tätig sind, darunter Frauenrechtsaktivistinnen, Wahlkandidatinnen, Geschäftsfrauen, Journalistinnen sowie Models und Teilnehmerinnen an Schönheitswettbewerben, sind Einschüchterungen, Belästigungen und Drohungen ausgesetzt. Dadurch sind sie oft gezwungen, sich aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen oder aus dem Land zu fliehen.

Sowohl Männer als auch Frauen stehen unter Druck, sich an konservative Normen zu halten, was das persönliche Erscheinungsbild betrifft. Vor allem im schiitisch geprägten Südirak werden auch nicht gesetzlich vorgeschriebene islamische Regeln, z.B. Kopf-tuchzwang an Schulen und Universitäten, stärker durchgesetzt. Frauen werden unter Druck gesetzt, ihre Freizügigkeit und Teilnahme am öffentlichen Leben einzuschränken. Einige Muslime bedrohen Frauen und Mädchen, unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit, wenn sich diese weigern, ein Hijab zu tragen, bzw. wenn sie sich in westlicher Kleidung kleiden oder sich nicht an die strengen Auslegungen islamischer Normen, die das Verhalten in der Öffentlichkeit dominieren, halten. Vertreter christlicher Nichtregierungsorganisationen gaben an, zahlreiche Frauen, auch Christinnen, hätten berichtet, sie würden nach Schikanen ein Hijab tragen. Der Kleidungsstil, der von Frauen erwartet wird, ist im Irak über die letzten zwei Dekaden konservativer geworden. Dieses Phänomen hat sich nach 2003 dadurch beschleunigt, dass sunnitische und schiitische religiöse Kräfte im Irak auf dem Vormarsch sind. Im IS-Gebiet gibt es einen strengen Dresscode, der strikt durchgesetzt wird. In schiitischen Gebieten, einschließlich Basra und Bagdad, versuchen schiitische Milizen ebenfalls strikte Bekleidungsvorschriften durchzusetzen und sind für gewalttätige Übergriffe auf Frauen verantwortlich, deren Kleidungsstil als unangebracht angesehen wird. Über die Jahre 2006 und 2007 ist bekannt, dass Milizen in Basra und Diyala hunderte Frauen töteten, weil sie den „Dresscode“ nicht eingehalten hatten. Es gibt Befürchtungen, dass ein solches Ausmaß erneut droht.

In Gebieten, in denen es eine starke Präsenz von Milizen gibt, kommt es vor, dass diese Milizen in Bezug auf Frauen (aber auch ganz allgemein) konservativere kulturelle Normen und Konventionen einführen bzw. sogar gewaltsam erzwingen. Einige Milizen schränken die Rechte von Frauen systematisch ein. Ob und wie weit dies geht, hängt nicht nur von der jeweiligen Miliz ab, sondern auch von den jeweiligen lokalen Kommandanten. Betroffen sind nicht nur Frauen in Gebieten, die unter der Kontrolle der Milizen stehen, sondern auch Frauen in anderen Städten wie z.B. Bagdad und Basra, in denen der Einfluss der Milizen sehr groß ist. Die Milizen operieren diesbezüglich ungestraft, zum Teil auch in Komplizenschaft mit den lokalen Behörden. So berichtet EASO von einem (datumsmäßig nicht näher bezeichneten) Vorfall in Bagdad, bei dem Mitglieder einer Miliz ein angebliches Bordell gestürmt und sämtliche Anwesenden getötet hätten. Überdies seien in Basra Frauen von unbekannten Milizionären getötet worden, wo-bei man an ihren Leichnamen Bekennerschreiben gefunden habe, denen zufolge die Frauen anstößige Kleidung getragen hätten oder in kompromittierenden Situationen gefunden worden seien. Nach Auskunft der Iraq Civil Solidarity Initiative wurden im schiitisch dominierten Basra im Sommer 2016 mehrere Cafés im Stadtzentrum, die Frauen beschäftigten und sich zum Teil nur wenige Meter von der Residenz des Gouverneurs und anderen Sicherheitseinrichtungen entfernt befanden, von religiösen Extremisten in die Luft gesprengt. Als Reaktion hierauf hätten viele in örtlichen Cafés oder der Tourismusindustrie beschäftigte Frauen ihren Arbeitsplatz aufgegeben.

Im Jahr 2018 gab es eine Reihe von Morden an Frauen, die in der Öffentlichkeit standen und als gegen soziale Gebräuche und traditionelle Geschlechterrollen verstoßend wahrgenommen wurden, darunter Frauenrechtsaktivistinnen und Personen, die mit der Beauty- und Modebranche in Verbindung standen. Im September 2018 wurde Tara Fares, eine ehemalige Schönheitskönigin, die als Model und als Social Media Influence-rin arbeitete, einen westlichen Lebensstil pflegte und sich gegen die traditionellen Rollenbilder der irakischen Gesellschaft stellte, in Bagdad auf offener Straße von unbekannten Tätern erschossen. Der irakische Premierminister Haider al-Abadi ordnete eine Untersuchung durch das Innenministerium und die Geheimdienste mit der Begründung an, es bestehe im Hinblick auf vergleichbare Tötungen und Entführungen von Frauen der Verdacht einer gezielten Kampagne. Dem Guardian zufolge hatten alle Opfer eine öffentliche Präsenz und eine Stimme, die jene Elemente der irakischen Gesellschaft verunsicherten, die nach wie vor starre Ansichten darüber hegen, wie Frauen sich zu verhalten haben. Die Leiterin des Forums für irakische Journalistinnen teilte der New York Times mit, dass die gezielte Gewalt gegen prominente und einflussreiche Frauen im Irak drastisch angestiegen sei.

In der Autonomen Region Kurdistan führten die Behörden verschiedene Gesetzesreformen und institutionelle Reformen zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen durch. So wurden im Innenministerium vier Abteilungen zum Schutz von weiblichen Opfern von (familiärer) Gewalt sowie drei staatliche Frauenhäuser eingerichtet. Zwei weitere werden von Nichtregierungsorganisationen betrieben. Seit 2011 gibt es ein kurdisches Gesetz gegen häusliche Gewalt, in dem weibliche Genitalverstümmelung, Zwangsverheiratung von Frauen und andere Gewalt innerhalb der Familie unter Strafe gestellt werden. Trotz dieser Bemühungen ist geschlechtsspezifische Gewalt, unter anderem wegen der schwachen und nicht durchgängigen Gesetzesumsetzung und der vorherrschenden patriarchalen Geschlechternormen, noch immer weitverbreitet. In der Autonomen Region Kurdistan sind Frauen ähnlichen Risiken der Diskriminierung vonseiten der Behörden und der Gesellschaft ausgesetzt wie in anderen Teilen des Landes. Ihnen wird in mancher Hinsicht zwar zusätzlicher Schutz gewährt, in den meisten Bereichen entspricht die Gesetzgebung der kurdischen Regionalregierung jedoch der Bundesgesetzgebung und Frauen sind Diskriminierung ausgesetzt. In Kurdistan ist es alleinstehenden Frauen aus kulturellen Gründen beispielsweise nicht möglich, selbst Eigentum zu mieten oder sich in Hotels aufzuhalten. Die sich verschlechternde finanzielle Lage in Kombination mit gesellschaftlichen Einschränkungen für Frauen im Irak hat die Möglichkeiten für Frauen, alleine zu leben, verringert. Insbesondere Erbil und Dohuk sind beide als konservative Regionen mit strenger Kontrolle über Frauen bekannt.

Frauen, die sich der vorbeschriebenen rechtlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Diskriminierung der Frauen im Irak aufgrund ihrer westlichen Prägung entgegenstellen, werden wegen ihrer deutlich abgegrenzten Identität von der irakischen Gesellschaft als andersartig betrachtet und können einer beachtlichen Verfolgungsgefahr ausgesetzt sein.

Die Annahme eines westlichen Lebensstils ist nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 Buchst. a Halbsatz 1 AsylG jedoch nur beachtlich, wenn er die betreffende Frau in ihrer Identität maßgeblich prägt, d.h. auf einer ernsthaften und nachhaltigen inneren Überzeugung beruht. Ob eine in ihrer Identität westlich geprägte irakische Frau im Fall ihrer Rückkehr in den Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG ausgesetzt ist, bedarf überdies einer umfassenden Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalls. Dabei ist die individuelle Situation der Frau nach ihrem regionalen und sozialen, insbesondere dem familiären Hintergrund zu beurteilen. Dies ist dem Umstand geschuldet, dass sich die konkrete Situation irakischer Frauen je nach regionalem und sozialen Hintergrund stark unterscheiden kann, wobei insbesondere zu berücksichtigen ist, ob und inwieweit die Betreffende voraussichtlich durch einen Familien- oder Stammesverbund vor Verfolgungsmaßnahmen geschützt werden kann (vgl. Nds. OVG, Urt. v. 21.09.2015 - 9 LB 20/14 -, juris Rn. 38-39).“

Diese Annahmen sind weiterhin zutreffend. Nach wie vor sind Frauen, insbesondere wenn ihr Verhalten nicht dem traditionellen Rollenbild entspricht, massiven Übergriffen bis hin zur Tötung ausgesetzt, vor denen der irakische Staat sie nicht effektiv schützt (vgl. European Union Agency for Asylum (EUAA), Iraq – Targeting of Individuals, January 2022, S. 78 ff.; A., Briefing Notes v. 28.02.2022, S. 5).

Nach der Anhörung der Klägerin zu 1. in der mündlichen Verhandlung hat die Einzelrichterin die Überzeugung gewonnen, dass sie in den vergangenen Jahren in Deutschland eine westlich geprägte Identität entwickelt hat, die für sie von zentraler Bedeutung ist. Sie war westlich gekleidet, trat selbstbewusst auf und sprach gut deutsch. Ihre Angaben waren stringent, detailreich und kongruent zu den jeweils erkennbaren Emotionen und standen im Einklang mit den vorgelegten und vorhandenen Unterlagen wie den Berichten des Kindergartens der Klägerin zu 3. in der Ausländerakte, der Strafanzeige gegen den Ehemann der Klägerin zu 1., der Meldeauskunft mit Auskunftssperre oder dem aktuellen Zeugnis und der Aufnahmezusage der O.. Demnach wollte die Klägerin bereits als Jugendliche im Irak Polizistin werden, wurde jedoch von ihrer konservativen Familie daran gehindert. Gegen anfängliche Widerstände durfte sie dann zwar ein anderes Studium in Wohnortnähe aufnehmen, wurde aber jeweils von ihrem ältesten Bruder dorthin gebracht und abgeholt. Dieser Bruder war sehr streng und misshandelte sie beispielsweise körperlich, als sie einmal mit einem kurzen Kleid zur Geburtstagsfeier einer Freundin gegangen war. Ihren Ehepartner hatte sie sich entgegen dem Willen der Familie selbst ausgesucht. Deshalb durfte sie zunächst drei Monate lang das Haus nicht verlassen, konnte ihn nach Vermittlung durch Dritte später aber doch heiraten. Der Ehemann untersagte ihr allerdings ebenfalls, nach dem Bachelorabschluss noch einen Masterabschluss zu erwerben, berufstätig zu sein oder alleine aus dem Haus zu gehen. Wie die Klägerin zu 1. bereits bei ihrer Anhörung vor dem Bundesamt ausgeführt hatte, traf er auch die Entscheidung zur Ausreise aus dem Irak, ohne sie einzubeziehen. Nachdem ihr Mann beschlossen hatte, wieder in den Irak zurückzukehren, hat die Klägerin zu 1. sich gegen ihn aufgelehnt und ist mit den Klägerinnen zu 2. und 3. alleine in Deutschland geblieben. Danach hat sie sich mit den Klägerinnen zu 2. und 3. an einem anderen Wohnort ein neues Leben aufgebaut und die Möglichkeit ergriffen, eine Berufsausbildung zu absolvieren. Nachdem ihr dies gut gelungen ist, hat sie bereits alles für eine weitere Ausbildung in die Wege geleitet und hat ihren künftigen beruflichen Werdegang klar vor Augen. Die Klägerinnen zu 2. und 3. erzieht sie alleine und ebenfalls entgegen dem traditionellen Rollenbild, indem sie gesteigerten Wert auf ihre schulische Bildung legt und ihre Freizeit unter anderem mit Fahrradfahren, Kampfsport und Musik gestaltet.

Die Klägerin zu 1. konnte authentisch vermitteln, dass die westliche Lebensweise in ihrer Persönlichkeit mittlerweile so tief verwurzelt ist, dass sie diese nicht mehr ablegen kann, jedenfalls aber, dass es ihr nicht mehr zumutbar wäre, sich dem im Irak vorherrschenden traditionellen Sitten- und Rollenbild von Frauen zu unterwerfen, da sie hierfür einen wesentlichen Kerngehalt ihrer Persönlichkeit aufgeben müsste. Sie hat sehr plastisch geschildert, wie wichtig es ihr nach den entgegengesetzten Erfahrungen im Irak ist, als Frau berufstätig zu sein und eigenständig zu leben, sich ohne männliche Begleitung frei bewegen, sich westlich und modisch kleiden und vielfältige Freiheiten nutzen zu können. Zudem hatte sie zum einen bereits im Irak Bestrebungen zu einem selbstbestimmten Leben, an dem sie jedoch weitgehend gehindert wurde. Zum anderen hat sie für die Verwirklichung dieses Lebensmodells in Deutschland den Bruch mit ihrem Ehemann, der sie daraufhin massiv bedroht hat, und die Ablehnung durch den Großteil ihrer Familie in Kauf genommen.

Bei einer Rückkehr in den Irak würde der Klägein zu 1. kein wirksamer Schutz durch einen Familienverband zur Verfügung stehen. Vonseiten ihres Ehemannes wird sie seit der Trennung bedroht. Ihre eigene Familie hat sie bereits früher stark eingeschränkt und bei missbilligtem Verhalten körperlich misshandelt oder unter Hausarrest gestellt. Nach der Trennung von ihrem Ehemann hat ihre Familie deutlich gemacht, dass sie den Lebensstil der Klägerin zu 1. nicht akzeptiert und sie zu Rückkehr in den Irak zu ihrer Familie aufgefordert. Zu ihren in Deutschland lebenden Brüdern hat die Klägerin zu 1. den Kontakt aufgrund der fortwährenden Kritik abgebrochen, lediglich zu ihrer ebenfalls nach hier geflohenen Schwester hat sie ein gutes Verhältnis.

Ausreichender staatlicher Schutz oder interner Schutz vor Verfolgung durch staatliche oder nichtstaatliche Akteure ist für die Klägerin zu 1. nicht erreichbar. Das beschriebene Verhalten gegenüber „westlich“ orientierten Frauen geht sowohl von staatlichen als auch nichtstaatlichen Akteuren aus und ist in sämtlichen Provinzen des Irak - lediglich in unterschiedlichem Ausmaß der hieraus folgenden traditionellen Richtsätze und Gepflogenheiten - fest in der irakischen, männlich dominierten Gesellschaft verankert, sodass der Klägerin zu 1. die vorbeschriebenen Gefahren landesweit drohen. Dabei ist festzustellen, dass der irakische Staat trotz der generellen Zielsetzungen in der Verfassung bislang weder im einfachen Recht noch in der Praxis effektive Maßnahmen zum Schutz von Frauen ergriffen hat (vgl. VG Gelsenkirchen, Urt. v. 08.06.2017 - 8a K 1971/16.A -, juris Rn. 74-77 und aktuell EUAA, Iraq – Targeting of Individuals, January 2022, S. 78 ff.).

II. Die Klägerinnen zu 2. und 3. haben als minderjährige Töchter der Klägerin zu 1. einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 26 Abs. 2, Abs. 5 Sätze 1 und 2 AsylG.

Der unanfechtbaren Anerkennung des Stammberechtigten, die nach § 26 Abs. 2, Abs. 5 AsylG für die Gewährung von Familienflüchtlingsschutz erforderlich ist, steht dabei die rechtskräftige gerichtliche Verpflichtung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge zur Anerkennung des Stammberechtigten gleich (vgl. BVerwG, Urt. v. 5.5.2009 – 10 C 21/08 –, juris Ls. 2.a) u. Rn. 29). Die in § 26 Abs. 2, Abs. 5 AsylG normierte Voraussetzung, dass die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft für den Stammberechtigten unanfechtbar bzw. rechtskräftig geworden sein muss, berücksichtigt die Einzelrichterin dadurch, dass die Beklagte lediglich verpflichtet wird, die positive Entscheidung bezüglich des Klägerinnen zu 2. und 3. unter der aufschiebenden Bedingung des Eintritts der Rechtskraft des die Klägerin zu 1. betreffenden Teils des vorliegenden Urteils auszusprechen. Auf diese Weise wird der Eintritt der Voraussetzungen des zu erteilenden Verwaltungsakts gewährleistet.

III. Nach alledem ist die Beklagte zu verpflichten, den Klägerinnen die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Neben der Ablehnung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in Ziffer 1 des angegriffenen Bescheides müssen folglich auch die Ablehnung der Gewährung subsidiären Schutzes und der Feststellung von Abschiebungsverboten sowie die Abschiebungsandrohung und die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes (mit dem damit konkludent angeordneten Einreise- und Aufenthaltsverbot, vgl. dazu Nds. OVG, Urt. v. 06.05.2020 - 13 LB 190/19 -, juris Rn. 55 m.w.N.) in den Ziffern 3 bis 6 aufgehoben werden.

IV. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 83b gerichtskostenfrei. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 und § 711 Satz 1 und 2 ZPO.