Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 10.05.2023, Az.: 6 A 2409/23

Gruppenverfolgung; Verwestlichung; Yezidin; Anspruch einer Yezidin aus dem Distrikt Tel Kaif im Distrikt Niniwe auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen westlicher Identitätsprägung

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
10.05.2023
Aktenzeichen
6 A 2409/23
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2023, 24169
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGHANNO:2023:0510.6A2409.23.00

Tenor:

Die Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Der Bescheid vom 24.04.2017 wird aufgehoben, soweit er dem entgegensteht.

Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Die Entscheidung ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.

Tatbestand

Die im Jahr 2008 geborene Klägerin ist irakische Staatsangehörige kurdischer Volks- und yezidischer Glaubenszugehörigkeit, reiste im Juli 2015 mit ihrer Mutter und vier Geschwistern in das Bundesgebiet ein und stellte am 12.04.2016 bei dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) einen schriftlichen Asylantrag.

Bei ihrer persönlichen Anhörung am 19.04.2017 gab die Mutter der Klägerin ausweislich des Anhörungsprotokolls im Wesentlichen an: Vor ihrer Ausreise im Juli 2015 habe die Familie, die aus den Eltern und insgesamt sieben Kindern bestanden habe, in Khatareh gelebt. In der Schulzeit sei die Mutter mit den Kindern nach Khanek gegangen, wo sie eine Wohnung besessen hätten. Der Vater habe Schafe besessen und es sei ihnen gut gegangen. Sie seien aus Angst vor dem IS nach Deutschland gekommen.

Mit Bescheid vom 24.04.2017 lehnte das Bundesamt die Anträge der Klägerin sowie ihrer Mutter und ihrer vier Geschwister auf Anerkennung als Asylberechtigte, auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und des subsidiären Schutzes ab, stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorlägen, forderte die Klägerin, ihre Mutter und ihre Geschwister unter Androhung ihrer Abschiebung in den Irak zur Ausreise auf und befristete ein Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung. Zur Begründung führte das Bundesamt aus, soweit die Klägerin sich auf die Furcht vor dem IS berufe, sei weder ihr noch ihrer Familie persönlich etwas widerfahren, so dass keine Verfolgungsgefahr angenommen werden könne. Mit der Wohnung in Khanek stehe zudem ein Zufluchtsort zur Verfügung, der in den Kurdischen Autonomiegebieten liege, die nicht unmittelbar von den Kämpfen gegen den IS betroffen seien. Hier sei auch mit der Unterstützung durch die Familie zu rechnen.

Die Klägerin, ihre Mutter und ihre vier Geschwister haben am 11.05.2017 Klage erhoben (6 A 3930/17). Sie tragen zur Begründung vor, ihr Dorf Khatareh sei vom IS angegriffen worden, nachdem sie von dort geflohen seien. Nachdem sie sich zunächst ohne jegliche Hilfe in Zakho aufgehalten hätten, seien sie in ein Flüchtlingslager für Yeziden nach Khanek gegangen. Im Irak lebe nur noch die Großmutter, die aber aus Deutschland mit Geldmitteln unterstützt werden müsse. Die Klägerin sei mit sieben Jahren in die Bundesrepublik eingereist und habe die prägenden Jahre in der westlichen Kultur verbracht. Sie besuche die Schule, habe Freundschaften geschlossen, spreche perfekt Deutsch und sei erfolgreich integriert. Von einem deutschen Mädchen ihres Alters sei sie nicht zu unterscheiden. Sie besuche derzeit den Hauptschulzweig einer KGS, und träume davon, das Abitur zu machen, um später Medizin studieren zu können. Ihre Hobbies seien Lesen, Kochen und Fahrrad fahren, sie treffe sich häufig mit Freunden und sei an Mode und Styling interessiert. Ihr Ziel sei, selbstständig und unabhängig zu leben. Sie könne sich nicht vorstellen, nach dem typischen irakischen Rollenbild zu leben, also jung zu heiraten und nur Hausfrau und Mutter zu sein. Sie wünsche sich eine gleichberechtigte Partnerschaft. Ein Leben im Irak sei für sie nicht vorstellbar und auch nicht zumutbar, da ihr die dortigen Moralvorstellungen und Lebensweisen aufgezwungen würden. Sie könne ihr Leben dort nicht selbstbestimmt und frei von religiösen Regeln leben. Es drohe ihr geschlechtsspezifische Verfolgung.

Das Gericht hat das Verfahren hinsichtlich der Klägerin durch Beschluss vom 11.04.2023 abgetrennt.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 24.04.2017 zu verpflichten, ihr die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,

hilfsweise ihr subsidiären Schutz zuzuerkennen,

hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 des Aufenthaltsgesetzes vorliegen,

Die Beklagte beantragt unter Bezugnahme auf ihren Bescheid,

die Klage abzuweisen.

Die Klägerin wurde in der mündlichen Verhandlung persönlich angehört; insoweit wird auf das Sitzungsprotokoll verwiesen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs des Bundesamtes (Beiakte 001) Bezug genommen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage, über die die Berichterstatterin als Einzelrichterin nach Übertragung des Rechtsstreits durch die Kammer durch Beschluss vom 05.03.2018 zu entscheiden hat (§ 76 Abs. 1 AsylG), ist begründet. Das Gericht ist dabei nicht gehindert, aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 10.05.2023 über die Klage zu entscheiden, obwohl kein Vertreter der Beklagten erschienen ist, denn das Gericht hat die Beteiligten mit der Ladung darauf hingewiesen, dass auch in ihrer Abwesenheit mündlich verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 VwGO).

Der streitgegenständliche Bescheid des Bundesamtes vom 24.04.2017 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1, Abs. 1 Satz 1 VwGO). Die Klägerin hat in dem für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

Die Klägerin hat einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aus § 3 AsylG. Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach Abs. 1 ist, grundsätzlich die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560) - Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) -, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.

Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten nach § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) - Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) - keine Abweichung zulässig ist (Nr. 1), oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2).

Akteure, von denen Verfolgung ausgehen kann, sind gemäß § 3c AsylG der Staat (Nr. 1), Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (Nr. 2), sowie nichtstaatliche Akteure (Nr. 3), sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.

Zwischen den Verfolgungsgründen und den Verfolgungshandlungen muss eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG). Dabei ist unerheblich, ob der Ausländer tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden (§ 3b Abs. 2 AsylG).

Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer für seine Person bei verständiger, objektiver Würdigung der gesamten Umstände seines Falles solche Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, sodass ihm nicht zuzumuten ist, im Herkunftsland zu bleiben oder dorthin zurückzukehren. Beachtlich im vorgenannten Sinne ist die Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung dann, wenn bei zusammenfassender Bewertung des Lebenssachverhaltes die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deswegen gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen (vgl. etwa BVerwG, Beschl. v. 07.02.2008 - 10 C 33.07 -, juris Rn. 37). Dieser Maßstab entspricht dem für die Verfolgungsprognose unionsrechtlich einheitlichen Wahrscheinlichkeitsmaßstab der "tatsächlichen Gefahr" ("real risk") eines Schadenseintritts, der unabhängig davon Geltung beansprucht, ob der Ausländer verfolgt oder unverfolgt ausgereist ist (BVerwG, Urt. v. 01.06.2011 - 10 C 25.10 -, juris Rn. 22).

Vorverfolgten kommt allerdings die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU zugute. Danach ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird.

Die persönlichen Umstände, aus denen er seine Furcht vor Verfolgung herleitet, hat der Ausländer glaubhaft zur Überzeugung des Gerichts darzulegen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 21.07.1989 - 9 B 239.89 -, juris Rn. 3; VGH Bad.-Württ., Urt. v. 27.08.2013 - A 12 S 2023/11 -, juris Rn. 35).

Bezugspunkt für die Gefahrenprognose ist bei einer nicht landesweiten Gefahrenlage der tatsächliche Zielort des Ausländers bei einer Rückkehr. Dies ist in der Regel die Herkunftsregion des Ausländers, in die er typischerweise zurückkehren wird. Etwas anderes gilt jedenfalls dann, wenn sich der Ausländer schon vor der Ausreise und unabhängig von den fluchtauslösenden Umständen von dieser gelöst und in einem anderen Landesteil mit dem Ziel niedergelassen hatte, dort auf unabsehbare Zeit zu leben (BVerwG, Urt. v. 31.03.2013 - 10 C 15.12 -, juris Rn. 13 f. zu § 60 Abs. 7 AufenthG).

Nach § 3e Abs. 1 AsylG wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat (Nr. 1) und er sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (Nr. 2).

Gemessen an diesen Kriterien hat die Klägerin einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu der sozialen Gruppe irakischer Frauen, deren Identität westlich geprägt ist (vgl. § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 AsylG), wäre sie im Falle einer Rückkehr in den Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung im Sinne von § 3a Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 AsylG ausgesetzt.

1. Nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 AsylG gilt eine Gruppe insbesondere dann als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 4 AsylG kann eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht anknüpft.

Auf Basis dieses rechtlichen Maßstabes bilden irakische Frauen eine bestimmte soziale Gruppe, sofern sie - beispielsweise infolge eines längeren Aufenthalts in Europa - in einem solchen Maße in ihrer Identität westlich geprägt worden sind, dass sie entweder nicht mehr dazu in der Lage wären, bei einer Rückkehr in den Irak ihren Lebensstil den dort erwarteten Verhaltensweisen und Traditionen anzupassen, oder denen dies infolge des erlangten Grads ihrer westlichen Identitätsprägung nicht mehr zugemutet werden kann (VG Hannover, Urt. v. 22.6.2020 - 12 A 773/18 -, n.v., Urt. v. 10.04.2019 - 6 A 2689/17 -, juris Rn. 27, und Urt. v. 10.12.2018 - 6 A 6837/16 -, juris Rn. 58; VG Stade, Urt. v. 23.07.2019 - 2 A 19/17 -, juris Rn. 39 ff.; VG Aachen, Urt. v. 03.05.2019 - 4 K 3092/17.A -, juris Rn. 30; VG Gelsenkirchen, Urt. v. 08.06.2017 - 8a K 1971/16.A -, juris Rn. 33; VG Göttingen, Urt. v. 05.07.2011 - 2 A 215/09 -, juris Rn. 24 ff.; vgl. auch Nds. OVG, Beschl. v. 16.02.2006 - 9 LB 27/03 -, juris Rn. 13). Derart in ihrer Identität westlich geprägte Frauen teilen sowohl einen unveränderbaren gemeinsamen Hintergrund als auch bedeutsame Merkmale im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 AsylG. Sie werden wegen ihrer deutlich abgegrenzten Identität von der irakischen Gesellschaft als andersartig betrachtet.

Nach den vorliegenden Erkenntnissen (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Irak, 28.08.2022, S. 96-108, Auswärtiges Amt, Lagebericht v. 28.10.2022, S. 11 ff.; ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Autonome Region Kurdistan: Lage alleinstehender Frauen; Sicherheitslage, 12.08.2019; UNHCR, Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus dem Irak fliehen, Mai 2019, S. 99-112; EUAA, Irak - Gezielte Gewalt gegen Individuen, Januar 2022, S. 85 - 99; ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Lage westlich orientierter Frauen, 30.04.2018; Human Rights Watch, No one is safe. Abuses of women in Iraq's criminal justice system, Februar 2014) sind Frauen im Irak weitreichender Diskriminierung ausgesetzt. Konservative, patriarchalische soziale Normen und die Dominanz religiöser Werte in den verschiedenen Gemeinschaften im Irak verhindern die effektive und gleichberechtigte Teilnahme von Frauen am politischen, sozialen und wirtschaftlichen Leben. Frauen, die sich der rechtlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Diskriminierung der Frauen im Irak aufgrund ihrer westlichen Prägung entgegenstellen, werden wegen ihrer deutlich abgegrenzten Identität von der irakischen Gesellschaft als andersartig betrachtet und können einer beachtlichen Verfolgungsgefahr ausgesetzt sein (so VG Hannover, Urt. v. 18.03.2021 - 12 A 1130/18 -, n.v.). Dies gilt auch für Frauen in der Region Kurdistan-Irak.

In der Verfassung ist die Gleichstellung der Geschlechter festgeschrieben und eine Frauenquote von 25 % im Parlament (Autonome Region Kurdistan-Irak: 30 %) verankert. In politischen Entscheidungsprozessen spielen Frauen jedoch eine untergeordnete Rolle. Nur wenige Frauen nehmen Spitzenpositionen in Politik, Verwaltung und Wirtschaft ein. Nach Angaben der Unabhängigen Hohen Wahlkommission haben 2.009 Kandidatinnen an den letzten Parlamentswahlen teilgenommen. Während des Wahlkampfs wurden die Plakate der Kandidatinnen beschädigt, und es wurden Fotos online gestellt, die die Kandidatinnen scheinbar in freizügiger Kleidung zeigten. Einige Kandidatinnen zogen ihre Kandidatur zurück, nachdem sie Drohungen und Einschüchterungen erhalten hatten. Im Präsidium des Parlaments ist keine Frau vertreten. Im Regierungskabinett gibt es seit Oktober 2019 eine Frau, die Bildungsministerin. Die Hauptstadt Bagdad hatte von 2015 bis 2020 eine Frau als Bürgermeisterin, der Posten gilt allerdings als wenig einflussreich. In Kurdistan ist eine Frau Parlamentspräsidentin, es gibt drei Ministerinnen und einige hochrangige Richterinnen. Gleichwohl stellen diese Frauen Ausnahmen in einer männerdominierten Berufswelt dar. Frauen sind auf Gemeinde- und Bundesebene, in Verwaltung und Regierung unterrepräsentiert. Sie werden selten in Entscheidungspositionen und einflussreiche Positionen ernannt. Die traditionelle Rollenverteilung in der Familie lässt wenig Möglichkeiten für Frauen, sich im Studium oder im Beruf weiter zu entwickeln. Dies wird zum Teil mit der religiösen Tradition begründet, beruht aber auch auf den weit verbreiteten patriarchalischen Strukturen. Dabei stellt die Quote zwar sicher, dass Frauen zahlenmäßig vertreten sind, sie führt aber nicht dazu, dass Frauen einen wirklichen Einfluss auf Entscheidungsfindungsprozesse haben bzw. dass das Interesse von Frauen auf der Tagesordnung der Politik steht.

Frauen sind weit verbreiteter gesellschaftlicher Diskriminierung ausgesetzt und werden unter mehreren Aspekten der Gesetzgebung ungleich behandelt. Laut Art. 14 und 20 der Verfassung ist jede Art von Diskriminierung aufgrund des Geschlechtes verboten. Art. 41 bestimmt jedoch, dass Iraker Personenstandsangelegenheiten ihrer Religion entsprechend regeln dürfen. Viele Frauen kritisieren diesen Artikel als Grundlage für eine Re-Islamisierung des Personenstandsrechts und damit eine Verschlechterung der Stellung der Frau. Zudem findet auf einfachgesetzlicher Ebene die verfassungsrechtlich garantierte Gleichstellung häufig keine Entsprechung. Defizite bestehen insbesondere im Familien-, Erb- und Strafrecht sowie im Staatsangehörigkeitsrecht. In der Praxis ist die Bewegungsfreiheit für Frauen stärker eingeschränkt als für Männer. So hindert das Gesetz Frauen beispielsweise daran, ohne die Zustimmung eines männlichen Vormunds oder gesetzlichen Vertreters einen Reisepass zu beantragen oder ein Dokument zur Feststellung des Personenstands zu erhalten, welches für den Zugang zu Beschäftigung, Bildung und einer Reihe von Sozialdiensten erforderlich ist.

"Ehrenmorde" gegen Frauen sind in der irakischen Gesellschaft verbreitet. 2015 haben Regierung und Parlament der RKI in Abänderung des irakischen Strafrechts den "Ehrenmord" anderen Morden strafrechtlich gleichgestellt. Sowohl Politik als auch Rechtslage der RKI sprechen sich ausdrücklich gegen "Ehrenmorde" aus. In einigen gesellschaftlichen Gruppen gilt der "Ehrenmord" allerdings immer noch als rechtfertigbar. Im Zentralirak gelten bei "Ehrenmord" zudem mildernde Umstände.

Die Gewalt gegen Frauen und Mädchen ist seit 2003 gestiegen und setzt sich unvermindert fort. Frauen und Mädchen sind im Irak Opfer von gesellschaftlichen, rechtlichen und wirtschaftlichen Diskriminierungen, Entführungen und Tötungen aus politischen, religiösen oder kriminellen Gründen, sexueller Gewalt, erzwungener Umsiedlung, häuslicher Gewalt, "Ehrenmorden" und anderen schädlichen traditionellen Praktiken, wie etwa (Sex-)Handel und erzwungener Prostitution. In den Familien sind patriarchische Strukturen weit verbreitet; Frauen werden immer noch in Ehen gezwungen. Mehr als 20 % der Frauen werden vor ihrem 18. Lebensjahr verheiratet, viele davon im Alter von 10 bis 14 Jahren.

Frauen wird überproportional der Zugang zu Bildung und Teilnahme am Arbeitsmarkt verwehrt. Je höher die Bildungsstufe ist, desto weniger Mädchen sind vertreten. Frauen und Mädchen sind im Bildungssystem deutlich benachteiligt und haben noch immer einen schlechteren Bildungszugang als Jungen und Männer. Schätzungen zufolge sind Frauen etwa doppelt so stark von Analphabetismus betroffen wie Männer. In ländlichen Gebieten ist die Einschulungsrate für Mädchen weit niedriger als jene für Jungen. Häufig lehnen die Familien eine weiterführende Schule für Mädchen ab oder ziehen eine "frühe Ehe" für sie vor.

Frauen sind außerdem wirtschaftlicher Diskriminierung hinsichtlich des Zugangs zum Arbeitsmarkt, Kredit und Lohngleichheit ausgesetzt. Die geschätzte Erwerbsquote von Frauen lag 2014 bei nur 14%, der Anteil an der arbeitenden Bevölkerung bei 17%. Jene rund 85% der Frauen, die nicht an der irakischen Arbeitswelt teilhaben, sind einem erhöhten Armutsrisiko ausgesetzt, selbst wenn sie in der informellen Wirtschaft mit Arbeiten wie Nähen oder Kunsthandwerk beschäftigt sind. Den Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation von 2010 zufolge führt der Irak die Liste der Länder mit der niedrigsten Erwerbsbeteiligung von Frauen an. In einem Artikel von Al-Monitor vom Dezember 2017 wird berichtet, dass für viele Menschen im Irak die einzig akzeptablen Arbeitsplätze für Frauen in bestimmten häuslichen Bereichen oder Regierungsabteilungen zu finden sind. Frauen und Mädchen, die in Geschäften, Cafés, im Unterhaltungssektor, in der Krankenpflege oder im Transportsektor (Taxi-/LKW-Fahrer) arbeiten, sind verpönt.

Weiblich geführte Haushalte haben nicht unbedingt Zugang zu Finanzanlagen, Sozialleistungen oder dem öffentlichen Verteilungssystem. Viele sind auf Unterstützung durch ihre Familien, Behörden und Nichtregierungsorganisationen angewiesen. Während die meisten Frauen im Irak theoretisch Anspruch auf öffentliche oder NGO-Hilfe haben, erhalten in der Praxis nur 20-25% von ihnen diese Hilfe. Darüber hinaus deckt die Hilfe nur einen Teil des jeweiligen Haushaltsbedarfs ab. Haushalte mit weiblichen Familienoberhäuptern sind besonders anfällig für Unsicherheit bei der Nahrungsmittelversorgung. Aufgrund vieler Hindernisse beim Zugang zu Beschäftigung müssen Frauen auf andere Mittel zurückgreifen, um ihren Lebensunterhalt zu sichern, wie Geld leihen, Essen rationieren und ihre Kinder zur Arbeit schicken. Im Kontext einer Gesellschaft, in der die Erwerbstätigkeit von Frauen traditionell gering ist, sind solche Haushalte mit erhöhten bürokratischen Hindernissen und sozialer Stigmatisierung, insbesondere auch im Rückkehrprozess konfrontiert. Ohne männliche Angehörige erhöht sich das Risiko für diese Familien, Opfer von Kinderheirat und sexueller Ausbeutung zu werden.

Die Stellung der Frau hat sich im Vergleich zur Zeit des Saddam-Regimes dramatisch verschlechtert. Mit der Erosion von Sicherheit und Stabilität einhergehend haben frauenfeindliche Ideologien propagierende Milizen Frauen und Mädchen zur Zielscheibe von Angriffen gemacht und sie eingeschüchtert, sich aus dem öffentlichen Leben fernzuhalten. Frauen sehen sich dem Risiko ausgesetzt, von Mitgliedern der ausschließlich männlichen Polizei oder anderen Sicherheitskräften belästigt und misshandelt zu werden. Die größten Opfer der fortdauernden Unsicherheit sind junge Frauen. Die prekäre Sicherheitslage in Teilen der irakischen Gesellschaft und insbesondere unter Binnenflüchtlingen hat negative Auswirkungen auf das Alltagsleben und die politischen Freiheiten der Frauen. Frauen, die in politischen und sozialen Bereichen tätig sind, darunter Frauenrechtsaktivistinnen, Wahlkandidatinnen, Geschäftsfrauen, Journalistinnen sowie Models und Teilnehmerinnen an Schönheitswettbewerben, sind Einschüchterungen, Belästigungen und Drohungen ausgesetzt. Dadurch sind sie oft gezwungen, sich aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen oder aus dem Land zu fliehen.

Sowohl Männer als auch Frauen stehen unter Druck, sich an konservative Normen zu halten, was das persönliche Erscheinungsbild betrifft. Vor allem im schiitisch geprägten Südirak werden auch nicht gesetzlich vorgeschriebene islamische Regeln, z.B. Kopftuchzwang an Schulen und Universitäten, stärker durchgesetzt. Frauen werden unter Druck gesetzt, ihre Freizügigkeit und Teilnahme am öffentlichen Leben einzuschränken. Einige Muslime bedrohen Frauen und Mädchen, unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit, wenn sich diese weigern, ein Hijab zu tragen, bzw. wenn sie sich in westlicher Kleidung kleiden oder sich nicht an die strengen Auslegungen islamischer Normen, die das Verhalten in der Öffentlichkeit dominieren, halten. Vertreter christlicher Nichtregierungsorganisationen gaben an, zahlreiche Frauen, auch Christinnen, hätten berichtet, sie würden nach Schikanen ein Hijab tragen. Der Kleidungsstil, der von Frauen erwartet wird, ist im Irak über die letzten zwei Dekaden konservativer geworden. Dieses Phänomen hat sich nach 2003 dadurch beschleunigt, dass sunnitische und schiitische religiöse Kräfte im Irak auf dem Vormarsch sind. In schiitischen Gebieten, einschließlich Basra und Bagdad, versuchen schiitische Milizen, strikte Bekleidungsvorschriften durchzusetzen, und sind für gewalttätige Übergriffe auf Frauen verantwortlich, deren Kleidungsstil als unangebracht angesehen wird.

In Gebieten, in denen es eine starke Präsenz von Milizen gibt, kommt es vor, dass diese Milizen in Bezug auf Frauen (aber auch ganz allgemein) konservativere kulturelle Normen und Konventionen einführen bzw. sogar gewaltsam erzwingen. Einige Milizen schränken die Rechte von Frauen systematisch ein. Ob und wie weit dies geht, hängt nicht nur von der jeweiligen Miliz ab, sondern auch von den jeweiligen lokalen Kommandanten. Betroffen sind nicht nur Frauen in Gebieten, die unter der Kontrolle der Milizen stehen, sondern auch Frauen in anderen Städten wie z.B. Bagdad und Basra, in denen der Einfluss der Milizen sehr groß ist. Die Milizen operieren diesbezüglich ungestraft, zum Teil auch in Komplizenschaft mit den lokalen Behörden. So berichtet EASO von einem (datumsmäßig nicht näher bezeichneten) Vorfall in Bagdad, bei dem Mitglieder einer Miliz ein angebliches Bordell gestürmt und sämtliche Anwesenden getötet hätten. Überdies seien in Basra Frauen von unbekannten Milizionären getötet worden, wobei man an ihren Leichnamen Bekennerschreiben gefunden habe, denen zufolge die Frauen anstößige Kleidung getragen hätten oder in kompromittierenden Situationen angetroffen worden seien. Nach Auskunft der Iraq Civil Solidarity Initiative wurden im schiitisch dominierten Basra im Sommer 2016 mehrere Cafés im Stadtzentrum, die Frauen beschäftigten und sich zum Teil nur wenige Meter von der Residenz des Gouverneurs und anderen Sicherheitseinrichtungen entfernt befanden, von religiösen Extremisten in die Luft gesprengt. Als Reaktion hierauf hätten viele in örtlichen Cafés oder der Tourismusindustrie beschäftigte Frauen ihren Arbeitsplatz aufgegeben.

Im Frühjahr 2022 stieg die Zahl von tödlichen Angriffen auf Frauen durch Familienmitglieder in der Region Kurdistan-Irak stark an (Deadly attacks on women rise sharply in Iraqi Kurdistan, 20.03.2022, [https://www.france24.com/en/live-news/20220320-deadly-attacks-on-women-rise-sharply-in-iraqi-kurdistan], In Iraqi Kurdistan, deadly attacks on Kurdish women are on the rise, 20.03.2022 [https://ekurd.net/iraqi-kurdistan-deadly-attacks-2022-03-20], abgerufen am 15.05.2023). Während im Jahr 2020 25 Frauen und im Jahr 2021 45 getötet worden seien, seien in den ersten drei Monaten des Jahres 2022 bereits elf Frauen in der Region Kurdistan-Irak Opfer von tödlichen Übergriffen gewesen. So berichten die Meldungen von einer Aktivistin für Frauenrechte, die von ihrem 18jährigen Bruder erschossen worden sei, da sie sich nicht der Familie untergeordnet habe. Die geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen wird begünstigt durch gesellschaftliche Faktoren wie etwa Hassreden gegen Frauen in den sozialen Netzwerken, welche in der RKI zur Normalität geworden sind. Wenn Nachrichtenplattformen über "Ehrenmorde" berichten, lobt eine beträchtliche Anzahl von Menschen die Täter und rechtfertigt die Taten. Das Bildungssystem der RKI kann nicht Schritt halten mit der Schnelligkeit der Veränderungen, die die sozialen Medien ermöglichen (Ruwayda Mustafah, Washington Institute, 28.03.2022, https://www.washingtoninstitute.org/policy-analysis/addressing-violence-against-women-iraqi-kurdistan). Der Hohe Rat für Frauenangelegenheiten der RKI und die Generaldirektion für die Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen (DCVAW) erklärten, dass die Online-Belästigung von Mädchen und Frauen stark zugenommen habe. Nach Angaben der DCVAW gehen 75 % der Fälle von geschlechtsspezifischer Gewalt auf soziale Netzwerke zurück (U. S. Department of State (USDOS), Iraq 2021 Human Rights Report, 12.04.2022, S. 48) (vgl. VG Braunschweig, Urt. v. 26.01.2023 - 2 A 172/19 -, juris).

Etwas anderes folgt auch nicht aus aktuellen Entwicklungen im Sinne eines kulturellen Wandels innerhalb der traditionell patriarchalisch geprägten Gemeinschaft der Yeziden, der die Klägerin angehört. Zwar wird berichtet, dass sich, ausgelöst durch die Erfahrung von Völkermord und Vertreibung, die Verschleppung und Versklavung tausender Yezidinnen und unterstützt durch Programme zu Bildung und Frauenrechten in den Vertriebenenlagern die Situation für Frauen mittlerweile deutlich verbessert habe (vgl. hierzu: VG Hannover, Urt. v. 21.11.2022 - 12 A 1928/18 -, juris, Rn. 33). Frauen und Mädchen seien sich ihrer bürgerlichen Rechte und Freiheiten zunehmend bewusst und mehr Frauen als je zuvor nähmen am Arbeitsleben teil. So dürften yezidische Frauen ihr Dorf - anders als früher - ohne einen männlichen Vormund verlassen und auch Reisen unternehmen, in Initiativen engagierte Yezidinnen würden Politiker treffen und über Gerechtigkeit und Entschädigung für ihre Glaubensgemeinschaft sprechen. Yezidische Frauen würden an Universitäten studieren, es gebe Fahrschulen für Frauen sowie eine Yezidin, die 2021 an den Wahlen zur "Miss Irak" teilgenommen habe. Es gebe Frauenversammlungen und Demonstrationen. In einer Reportage über yezidische Frauen im Nordirak seien Frauen in der Öffentlichkeit zu sehen, die geschminkt seien und westliche Kleidung trügen. Diese Beobachtungen lassen sich jedoch aktuell nicht derart verallgemeinern, dass allen yezidischen Frauen in der RKI die entsprechenden Freiheiten zur Verfügung stehen. Für die Annahme, dass yezidische Frauen, die sich der rechtlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Diskriminierung der Frauen im Irak aufgrund ihrer westlichen Prägung entgegenstellen, nicht mehr wegen ihrer deutlich abgegrenzten Identität von der irakischen Gesellschaft als andersartig betrachtet werden und einer beachtlichen Verfolgungsgefahr ausgesetzt sein können, genügt nicht nur die Beobachtung, dass die beschriebenen Verhaltensweisen einzelnen Personen möglich sind. Vielmehr muss auch feststellbar sein, dass Frauen, die aufgrund ihres Verhaltens bzw. ihres Aussehens als andersartig betrachtet werden und Diskriminierung im Sinne einer Verfolgung erfahren, staatlichen Schutz vor dieser Verfolgung erlangen können (§ 3c AsylG). Eine Änderung in der Fähigkeit der kurdischen Regionalregierung, den Schutz von Frauen zu verbessern ist indes nicht feststellbar. Zwar hat die kurdische Regionalregierung ihre Anstrengungen zum Schutz der Frauen verstärkt. So wurden im Innenministerium vier Abteilungen zum Schutz von weiblichen Opfern von (familiärer) Gewalt sowie vier staatliche Frauenhäuser eingerichtet. Zwei weitere werden von NGOs betrieben. Zusätzlich unterstützt der Hohe Frauenrat (High Council of Women Affairs - HCWA) der kurdischen Regionalregierung den Schutz von Frauenrechten. Seit 2011 gibt es ein kurdisches Gesetz gegen häusliche Gewalt, in dem weibliche Genitalverstümmelung, Zwangsverheiratung von Frauen und andere Gewalt innerhalb der Familie unter Strafe gestellt werden. Die gesetzlichen Regelungen werden in der Praxis allerdings nicht durchgängig umgesetzt. Eine vom Frauenrechtskomitee des kurdischen Parlaments initiierte Reform des Gesetzes zur Bekämpfung häuslicher Gewalt, die eine Erweiterung der Schutzrechte von Frauen vorsieht, scheiterte zunächst am Widerstand der islamistischen Parteien. Sie erreichten, dass der Änderungsantrag der Fatwa-Kommission der RKI zur Überprüfung auf Konformität mit islamischem Recht vorgelegt wurde.

Angesichts des beschriebenen kulturellen und gesellschaftlichen Wandels innerhalb der RKI sind die dortigen Entwicklungen künftig sorgfältig zu beobachten. Es erscheint indes unwahrscheinlich, dass zuvörderst die von mehreren Diskriminierungsformen betroffenen yezidischen Frauen, die gesellschaftlich sowohl aufgrund ihrer Religion marginalisiert als auch aufgrund ihres Geschlechts diskriminiert werden, nicht mehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr einer Verfolgung droht.

Die Annahme eines westlichen Lebensstils ist nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 Buchst. a Halbsatz 1 AsylG jedoch nur beachtlich, wenn er die betreffende Frau in ihrer Identität maßgeblich prägt, d.h. auf einer ernsthaften und nachhaltigen inneren Überzeugung beruht. Ob eine in ihrer Identität westlich geprägte irakische Frau im Fall ihrer Rückkehr in den Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG ausgesetzt ist, bedarf überdies einer umfassenden Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalls. Dabei ist die individuelle Situation der Frau nach ihrem regionalen und sozialen, insbesondere dem familiären Hintergrund zu beurteilen. Dies ist dem Umstand geschuldet, dass sich die konkrete Situation irakischer Frauen je nach regionalem und sozialen Hintergrund stark unterscheiden kann, wobei insbesondere zu berücksichtigen ist, ob und inwieweit die Betreffende voraussichtlich durch einen Familien- oder Stammesverbund vor Verfolgungsmaßnahmen geschützt werden kann (vgl. VG Hannover, Urt. v. 18.03.2021 - 12 A 1130/18 -, n.v.; Nds. OVG, Urt. v. 21.09.2015 - 9 LB 20/14 -, juris Rn. 38-39 zu Afghanistan).

Unter Anwendung dieses rechtlichen Maßstabes ist die Einzelrichterin aufgrund des in der mündlichen Verhandlung gewonnen persönlichen Eindrucks zu der Überzeugung gelangt, dass die Klägerin im Rahmen ihres Aufenthalts in Deutschland, der die Hälfte ihres Lebens umfasst, eine solche nachhaltige Prägung erfahren hat, die auf einer ernsthaften und nachhaltigen inneren Überzeugung beruht. Es steht ferner zur Überzeugung der Einzelrichterin fest, dass die westliche Lebensweise in der Persönlichkeit der Klägerin so tief verwurzelt ist, dass sie diese nicht mehr ablegen kann, jedenfalls aber, dass es ihr nicht mehr zumutbar wäre, sich dem im Irak vorherrschenden traditionellen Sitten- und Rollenbild von Frauen und Mädchen zu unterwerfen, da sie hierfür den wesentlichen Kerngehalt ihrer Persönlichkeit aufgeben müsste.

In der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin deutlich gemacht, dass ihr Selbstbestimmung trotz ihres noch jungen Lebensalters besonders wichtig ist. Sie könne es sich nicht vorstellen, einen Mann zu heiraten, den sie nicht heiraten wolle und den sie auch nicht gut kenne. Dies sei jedoch im Irak so üblich. Sie wolle auch deshalb nicht dorthin zurückkehren, weil sie als Mädchen dort die Schule nicht beenden und als Frau dort nicht arbeiten könne. Ihre Zukunftspläne stellte die Klägerin in einer altersentsprechenden Tiefe dar: Sie wolle gerne Ärztin werden und sei sich bewusst, dass sie hierfür das Abitur ablegen und studieren müsse.

Dadurch, dass sie die persönlichkeitsprägenden Jahre ihrer Jugend in Deutschland verbracht hat, hat die Klägerin zudem einen Alltag verinnerlicht, in dem der natürliche Umgang von Jungen und Mädchen gleich welcher Herkunft und eine ungezwungene Freizeitgestaltung für sie Selbstverständlichkeiten sind. Sie sei mit Mädchen befreundet und verstehe sich auch mit den Jungen aus ihrer Klasse gut. Die Schwierigkeiten, sich als Yezidin in die muslimisch geprägte irakische Gesellschaft einzufügen, hat die Klägerin nie kennen gelernt. Sie hat erklärt, dass sie sich an die Zeit im Irak kaum erinnern könne, weil sie bei der Ausreise so jung gewesen sei. Die Sozialisation ist demnach fast vollständig in Deutschland erfolgt. Da die Klägerin noch jung ist, kann nicht sicher prognostiziert werden, welchen Lebensweg sie einschlagen wird. Ihre Vorstellungen von ihrer Lebensgestaltung entsprechen jedoch nicht dem traditionellen Rollenbild und setzen sie im Falle der Rückkehr in den Irak der Gefahr von Verfolgungshandlungen in Form der Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt gem. § 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG aus.

Ausreichender staatlicher Schutz bzw. interner Schutz vor Verfolgung durch staatliche oder nichtstaatliche Akteure (vgl. §§ 3d, 3e AsylG) steht der Klägerin nach den vorstehenden Ausführungen nicht zur Verfügung. Das beschriebene Verhalten gegenüber "westlich" orientierten Frauen und Mädchen geht sowohl von staatlichen als auch nichtstaatlichen Akteuren aus und ist in sämtlichen Provinzen des Irak - lediglich in unterschiedlichem Ausmaß der hieraus folgenden traditionellen Richtsätze und Gepflogenheiten - fest in der irakischen, männlich dominierten Gesellschaft verankert, sodass der Klägerin die vorbeschriebenen Gefahren landesweit drohen. Dabei ist festzustellen, dass der irakische Staat trotz der generellen Zielsetzungen in der Verfassung bislang weder im einfachen Recht noch in der Praxis effektive Maßnahmen zum Schutz von Frauen ergriffen hat (vgl. VG Gelsenkirchen, Urt. v. 08.06.2017 - 8a K 1971/16.A -, juris Rn. 74-77).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 und § 711 Satz 1 und 2 ZPO.