Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 21.01.2014, Az.: 9 LA 60/13

Gefahren bzw. Verfolgungsmaßnahmen afghanischer Frauen bei einer Rückkehr in ihr Heimatland

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
21.01.2014
Aktenzeichen
9 LA 60/13
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2014, 10329
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2014:0121.9LA60.13.0A

Verfahrensgang

vorgehend
VG Osnabrück - 24.09.2012 - 5 A 93/12

Fundstellen

  • AUAS 2014, 33-35
  • InfAuslR 2014, 119-121

Amtlicher Leitsatz

Welchen Gefahren bzw. Verfolgungsmaßnahmen afghanische Frauen bei einer Rückkehr in ihr Heimatland gemäß § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG a. F. (nunmehr § 3 Abs. 1 und § 3a Abs. 2 Nr. 6 AsylVfG n. F.) wegen ihres Geschlechts ausgesetzt sind, lässt sich nicht generell beantworteten. Vielmehr sind bei der Beurteilung die konkreten Umstände des Einzelfalles, d. h. die individuelle Situation der Frau nach ihrer Stellung und dem regionalen und sozialen, insbesondere familiären Hintergrund zu berücksichtigen.

Tenor:

Die Anträge der Klägerinnen, die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Osnabrück - Einzelrichterin der 5. Kammer - vom 24. September 2012 zuzulassen und ihnen Prozesskostenhilfe für das Zulassungsverfahren zu bewilligen, werden abgelehnt.

Die Klägerinnen tragen die außergerichtlichen Kosten des Zulassungsverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Kosten des Prozesskostenhilfeverfahrens werden nicht erhoben. Außergerichtliche Kosten des Prozesskostenhilfeverfahrens werden nicht erstattet.

Gründe

Der unbeschränkt gestellte und auf § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG (grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache) gestützte Antrag der Klägerinnen auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.

Ein Verfahren hat grundsätzliche Bedeutung, wenn es eine Rechts- oder Tatsachenfrage aufwirft, die von einer über den Einzelfall hinausgehenden Bedeutung ist und im allgemeinen Interesse der Klärung bedarf. Zur Darlegung dieses Zulassungsgrunds hat ein Antragsteller die für grundsätzlich klärungsbedürftig gehaltene Frage zu formulieren sowie näher zu begründen, weshalb sie eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung hat und ein allgemeines Interesse an ihrer Klärung besteht. Darzustellen ist weiter, dass sie entscheidungserheblich ist und ihre Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten steht. In der Sache fehlt es an der Klärungsbedürftigkeit, wenn sich die Rechts- oder Tatsachenfrage unschwer aus dem Gesetz oder auf der Grundlage der vorhandenen Rechtsprechung beantworten lässt (zu alledem etwa Nds. OVG, Beschlüsse vom 20.04.2009 - 9 LA 432/07 -, vom 29.02.2008 - 5 LA 167/04 - und vom 09.10.2007 - 5 LA 237/05 -).

Nach diesen Maßstäben genügt der Zulassungsantrag der Klägerinnen nicht den Anforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylVfG, soweit er sich dagegen richtet, dass das Verwaltungsgericht die Anerkennung der Klägerinnen als Asylberechtigte und die Gewährung von Abschiebungsschutz gemäß § 60 Absätze 2, 3, 5 und 7 Satz 1 AufenthG abgelehnt hat. Hinsichtlich dieser Anspruchsnormen wird im Zulassungsantrag eine grundsätzlich klärungsbedürftige Frage nicht aufgeworfen.

Den Anforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylVfG ist indessen Genüge getan, soweit die Klägerinnen bezogen auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylVfG in Verbindung mit § 60 Abs. 1 Sätze 1 und 3 AufenthG in der jeweils vor dem 1. Dezember 2013 geltenden Fassung (nunmehr §§ 3, 3a bis 3e AsylVfG i. V. m. § 60 Abs. 1 AufenthG in der Fassung des Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU vom 28.08.2013, BGBl. I, S. 3474 ff.) die Frage stellen, "ob Frauen in Afghanistan generell eine geschlechtsspezifische Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG droht". Diese Frage rechtfertigt die begehrte Zulassung der Berufung nicht, weil das Vorbringen der Klägerinnen im Zulassungsverfahren nicht erkennen lässt, dass ein Bedarf besteht, sie in einem Berufungsverfahren zu klären:

Der Senat geht in Übereinstimmung mit der einhelligen Rechtsprechung anderer Gerichte und den aktuellen Erkenntnisquellen zur Situation von Frauen in der afghanischen Gesellschaft davon aus, dass trotz der Stärkung der Rechte der Frauen in der afghanischen Verfassung und Gesetzgebung Frauen und Mädchen nach wie vor in der afghanischen Gesellschaft sowie von der Polizei und Justiz schwer benachteiligt werden. Seit dem Sturz der Taliban hat es zwar einige deutliche Verbesserungen gegeben, wie etwa einen verbesserten Zugang zur Bildung, Arbeit und medizinischen Versorgung. Gleichwohl ist die Diskriminierung der Frauen in der afghanischen Gesellschaft weit verbreitet. Frauen werden Opfer von Zwangsverheiratung, Vergewaltigung, Entführung, Ehrenmorden und häuslicher Gewalt. Dies betrifft insbesondere alleinstehende Frauen und Frauen ohne männlichen Schutz. Die registrierten Fälle von Gewalttaten gegen Frauen sind gerade seit 2012 stark angestiegen, ebenso die Zahl der Mädchen und Frauen, die wegen sogenannter "moralischer" Verbrechen festgehalten werden (vgl. etwa VG Köln, Urteil vom 27.02.2013 - 14 K 2177/11.A -; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 18.07.2013 - 5a K 4418/11.A -; VG München, Urteil vom 09.07.2013 - M 1 K 13.30202 -; VG Stuttgart, Urteil vom 25.06.2013 - A 6 K 2412/12 -; VG Meiningen, Urteil vom 09.08.2012 - 8 K 20101/11 Me -; VG Potsdam, Urteil vom 16.03.2012 - 6 K 1099/10.A -, jeweils zitiert nach [...]; Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 04.06.2013, S. 12 f.; UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender - zusammenfassende Übersetzung - vom 24.03.2011, S. 7 f.; Schweizerische Flüchtlingshilfe vom 30.09.2013, Afghanistan: Update, Die aktuelle Sicherheitslage, S. 15 f.; Amnesty International, Amnesty Report 2013 Afghanistan, S. 3). Daraus folgt jedoch noch kein grundsätzlicher Klärungsbedarf der aufgeworfenen Frage in einem Berufungsverfahren. Denn welchen Gefahren bzw. Verfolgungsmaßnahmen afghanische Frauen bei einer Rückkehr in ihr Heimatland gemäß § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG a. F. (nunmehr § 3 Abs. 1 und § 3a Abs. 2 Nr. 6 AsylVfG n. F.) wegen ihres Geschlechts ausgesetzt sind, lässt sich nicht generell beantworteten. Vielmehr sind bei der Beurteilung die konkreten Umstände des Einzelfalles, d. h. die individuelle Situation der Frau nach ihrer Stellung und dem regionalen und sozialen, insbesondere familiären Hintergrund zu berücksichtigen (in diesem Sinne auch VG Köln, Urteil vom 27.02.2013 - 14 K 2177/11.A - zitiert nach [...]; HessVGH, Beschluss vom 26.06.2007 - 8 ZU 452/06.A - ESVGH 57, 250 = AuAS 2007, 202). Einer geschlechtsspezifischen, von den individuellen Umständen abhängigen Verfolgung unterliegen danach insbesondere Frauen, deren Verhalten als nicht mit den von der Gesellschaft, der Tradition und dem Gesetz auferlegten Geschlechterrollen vereinbar angesehen wird, die von Zwangsheirat betroffen sind oder alleinstehende Frauen oder Frauen ohne männlichen Schutz einschließlich geschiedener Frauen, unverheirateter, jedoch nicht jungfräulicher Frauen und Frauen, deren Verlobung gelöst wurde (hierzu im Einzelnen UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender - zusammenfassende Übersetzung - vom 24.03.2011, S. 7 f. zur Verfolgungsgefahr von Frauen mit bestimmten Profilen). Anhaltspunkte für eine generelle geschlechtsspezifische Verfolgung von Frauen ungeachtet ihrer individuellen Situation ergeben sich aus dem Zulassungsvorbringen der Klägerinnen nicht. Die von ihnen in Bezug genommenen Entscheidungen beziehen sich sämtlich auf die geschlechtsspezifische Verfolgung von allein stehenden bzw. unbegleitet nach Afghanistan zurückkehrenden Frauen ohne Unterstützung eines Familienverbandes. Auch vor dem Hintergrund der Ausführungen des Verwaltungsgerichts, wonach das Vorbringen der Klägerinnen zu ihrer Verfolgungsgeschichte (u. a. zu einer der Klägerin zu 1. als Witwe drohenden Zwangsheirat) unglaubhaft ist, und sie sich im Übrigen auch nach Kabul zu den Eltern der Klägerin zu 1. bzw. Großeltern der Klägerin zu 2. begeben könnten, die sie nach ihrem eigenen Vorbringen finanziell und auch sonst unterstützten, ist die Frage einer geschlechtsspezifischen Verfolgung von Frauen in Afghanistan im Berufungsverfahren nicht generell zu klären.

Der zweiten, bezogen auf § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG a.F. (nunmehr § 60 Abs. 2 AufenthG i. V. m. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylVfG) aufgeworfenen Frage, "ob in Afghanistan ein innerstaatlicher Konflikt im Sinne von Art. 15 c der Qualifikationsrichtlinie vorliegt, dessen Opfer die Zivilbevölkerung ist, so dass die individuelle Gefahr einer Lebens- bzw. Gesundheitsbedrohung im Falle der Rückkehr besteht", kommt die geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung ebenfalls nicht zu. Zur Begründung ihrer Ansicht, dass ein solcher Konflikt bestehe und eine individuelle Gefahr für die Zivilbevölkerung gegeben sei, führen die Klägerinnen im Wesentlichen keine eigenständigen Erwägungen an, sondern verweisen auf ein Urteil des Verwaltungsgerichts Gießen vom 20. Juni 2011 (2 K 499/11), und geben sie einen Auszug aus einem Urteil des Verwaltungsgerichts Wiesbaden vom 23. Februar 2012 (7 K 293/11) wieder. Dadurch ist eine die Zulassung der Berufung rechtfertigende grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache im Sinne von § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG aus folgenden Gründen nicht dargetan:

Der wörtlich wiedergegebene Auszug aus dem Urteil des Verwaltungsgerichts Wiesbaden äußert sich lediglich zur Sicherheitslage in Afghanistan in den Jahren 2010 und 2011. Die von den Verwaltungsgerichten in Gießen und Wiesbaden gezogene Folgerung, in ganz Afghanistan herrsche ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, wird von der obergerichtlichen Rechtsprechung wegen zu geringer regionaler Differenzierung abgelehnt (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 06.03.2012 - A 11 S 3177/11 - ZAR 2012, 164; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 13.09.2012 - 13 A 2721/10.A -). Dem schließt sich der Senat an. Die Frage, ob ein innerstaatlicher Konflikt vorliegt und daraus eine rechtlich erhebliche Gefahrenlage folgt, ist nicht in Bezug auf Afghanistan insgesamt klärungsfähig. Denn der innerstaatliche Konflikt ist je nach Region unterschiedlich stark ausgeprägt. Der Kampf zwischen den Sicherheitskräften und der Aufstandsbewegung findet vor allem in den südwestlichen, südlichen und östlichen Landesteilen statt. Durch die in der Begründung des Zulassungsantrags vorgenommene Bezugnahme auf die Verwaltungsgerichte Gießen und Wiesbaden wird damit bereits von der Sache her nicht dargelegt, dass die gesetzlichen Voraussetzungen für die Annahme eines (räumlich begrenzten) innerstaatlichen Konflikts erfüllt sind. Es fehlen darüber hinaus jegliche Ausführungen dazu, dass die geschilderten Gewalttaten ein solches Maß an Intensität und Dauerhaftigkeit erreicht haben, dass sie als tatbestandsmäßiger Konflikt im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG a. F. angesehen werden können. Außerdem wäre nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 4.09 - BVerwGE 136, 361) zur Feststellung der erforderlichen Gefahrendichte eine "jedenfalls annäherungsweise quantitative Ermittlung der in dem betreffenden Gebiet lebenden Zivilpersonen einerseits und der Akte willkürlicher Gewalt andererseits, die von den Konfliktparteien gegen Leib und Leben von Zivilpersonen in diesem Gebiet verübt werden, sowie eine wertende Gesamtbetrachtung mit Blick auf die Anzahl der Opfer und die Schwere der Schädigungen bei der Zivilbevölkerung erforderlich". Auch derartige Darlegungen enthalten der Zulassungsantrag und das Urteil des Verwaltungsgerichts Wiesbaden, soweit es wiedergegeben ist, nicht einmal ansatzweise (hierzu bereits der Senatsbeschluss vom 27.03.2013 - 9 LA 64/13 -).

Der Antrag der Klägerinnen auf Gewährung von Prozesskostenhilfe ist abzulehnen, weil die Rechtsverfolgung, wie sich aus den vorstehenden Ausführungen ergibt, keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet (vgl. § 166 VwGO i. V. m. § 114 Satz 1 ZPO).

Die Kostenentscheidungen für das Zulassungsverfahren beruhen auf § 154 Abs. 2 VwGO und § 83b AsylVfG. Die Entscheidungen über die Kosten des Prozesskostenhilfeverfahrens ergeben sich aus §§ 1 Abs. 2 Nr. 1, 3 Abs. 2 GKG in Verbindung mit dem Kostenverzeichnis zum Gerichtskostengesetz, das für dieses Verfahren keinen Gebührentatbestand enthält, und aus § 166 VwGO i. V. m. § 118 Abs. 1 Satz 4 ZPO.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylVfG).