Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 10.09.2014, Az.: 8 ME 87/14
Anordnung des Sofortvollzugs einer wohnsitzbeschränkenden Auflage
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 10.09.2014
- Aktenzeichen
- 8 ME 87/14
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2014, 21551
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OVGNI:2014:0910.8ME87.14.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG Oldenburg - 02.07.2014
Rechtsgrundlagen
- § 80 Abs. 1 VwGO
- § 80 Abs. 5 VwGO
- § 12 Abs. 2 S. 2 AufenthG
- § 61 Abs. 1 S. 2 AufenthG
Fundstellen
- AUAS 2014, 218-219
- FStNds 2014, 699-701
- InfAuslR 2014, 436-437
- ZAR 2014, 49
- ZAR 2015, 40
Amtlicher Leitsatz
Allein das Interesse an einer gleichmäßigen fiskalischen Belastung einzelner Kommunen durch ausländische Empfänger sozialer Leistungen vermag die sofortige Vollziehung einer wohnsitzbeschränkenden Auflage nicht zu rechtfertigen.
Tenor:
Auf die Beschwerde der Antragsteller wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Oldenburg - 11. Kammer - vom 2. Juli 2014 geändert.
Die aufschiebende Wirkung der von den Antragstellern vor dem Verwaltungsgericht Oldenburg - 11 A 1877/14 - gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 28. April 2014 erhobenen Klage wird wiederhergestellt.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen mit Ausnahme der Kosten des Beigeladenen, die nicht erstattungsfähig sind.
Der Streitwert des Beschwerdeverfahrens und unter Änderung der Streitwertfestsetzung im Beschluss des Verwaltungsgerichts Oldenburg - 11. Kammer - vom 2. Juli 2014 der Streitwert des erstinstanzlichen Verfahrens vorläufigen Rechtsschutzes werden auf jeweils 5.000 EUR festgesetzt.
Gründe
Die Beschwerde der Antragsteller gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts ist zulässig und begründet. Das Verwaltungsgericht hat es zu Unrecht abgelehnt, die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragsteller gegen den für sofort vollziehbar erklärten Bescheid der Antragsgegnerin vom 28. April 2014 über die Verhängung wohnsitzbeschränkender Auflagen wiederherzustellen.
Nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht der Hauptsache die aufschiebende Wirkung der Klage ganz oder teilweise wiederherstellen. Ist die sofortige Vollziehung von der Behörde den formellen Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO genügend angeordnet worden, so setzt die gerichtliche Entscheidung nach § 80 Abs. 5 VwGO über die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage eine Abwägung des Interesses des Antragstellers, von der Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsakts bis zur endgültigen Entscheidung über seine Rechtmäßigkeit verschont zu bleiben, gegen das vorrangig öffentliche Interesse an dessen sofortiger Vollziehung voraus (vgl. Senatsbeschl. v. 16.3.2004 - 8 ME 164/03 -, NJW 2004, 1750 m.w.N.).
Im Rahmen dieser Abwägung hat das Verwaltungsgericht zutreffend berücksichtigt, dass dem öffentlichen Vollzugsinteresse überhaupt nur dann Vorrang eingeräumt werden kann, wenn der angefochtene Verwaltungsakt voraussichtlich auch im Hauptsacheverfahren Bestand haben, mithin sich als rechtmäßig erweisen wird. Die Annahme der voraussichtlichen Rechtmäßigkeit des Bescheides der Antragsgegnerin vom 28. April 2014 ist auch unter Berücksichtigung der mit der Beschwerde geltend gemachten Gründe, auf deren Prüfung sich der Senat nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO zu beschränken hat, nicht zu beanstanden.
Das Verwaltungsgericht hat indes nicht hinreichend berücksichtigt, dass für die Anordnung des Sofortvollzugs einer wohnsitzbeschränkenden Auflage, die in das auch Ausländern zustehende Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und die davon umfasste Freiheit der Wahl des Aufenthaltsortes und des Wohnsitzes in der Bundesrepublik Deutschland eingreift (vgl. BVerfG, Beschl. v. 9.2.2001 - 1 BvR 781/98 -, DVBl. 2001, 892, 893; Beschl. v. 18.7.1973 - 1 BvR 23/73 -, BVerfGE 35, 382, 399), und deren Gewicht durch die Anordnung des Sofortvollzugs noch zusätzlich verschärft wird, ein über das Interesse am Erlass des Verwaltungsakts hinausgehendes besonderes öffentliches Interesse an einer Wohnsitzverlegung vor Eintritt der Unanfechtbarkeit erforderlich ist. Die voraussichtliche Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsakts begründet für sich allein nur das allgemeine Interesse an seiner Vollziehung, nicht aber zugleich auch deren, für die behördliche Anordnung nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO erforderliche Dringlichkeit (vgl. grundlegend BVerfG, Beschl. v. 27.4.2005 - 1 BvR 223/05 -, NVwZ 2005, 1303; Beschl. v. 18.7.1973, a.a.O., S. 402; Finkelnburg/Dombert/Külp-mann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 6. Aufl., Rn. 757 f. m.w.N.).
An dem danach erforderlichen besonderen öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung fehlt es hier.
Es ergibt sich entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin nicht aus dem Interesse an einer gleichmäßigen Belastung der Kommunen mit Ausgaben für an Ausländer zu erbringende Sozialleistungen. Nach der ermessenslenkenden Verwaltungsvorschrift in Nr. 12.2 f. der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz - AVwV AufenthG - vom 26. Oktober 2009 (GMBl. S. 877), die in Niedersachsen auch für die Erteilung wohnsitzbeschränkender Auflagen zu Duldungen Anwendung findet (vgl. Senatsbeschl. v. 23.11.2012 - 8 LA 149/12 -, [...] Rn. 21), zielt die wohnsitzbeschränkende Auflage bereits als solche darauf ab, mittels einer regionalen Bindung die überproportionale fiskalische Belastung einzelner Länder und Kommunen durch ausländische Empfänger sozialer Leistungen zu verhindern (vgl. Nr. 12.2.5.2.1 Satz 1 AVwV AufenthG). Dieses durchaus berechtigte öffentliche Interesse am Erlass einer wohnsitzbeschränkenden Auflage (vgl. BVerfG, Beschl. v. 9.2.2001, a.a.O., S. 892 f.) vermag aber regelmäßig nicht zugleich deren sofortige Vollziehung zu rechtfertigen (vgl. zu den hier ersichtlich nicht einschlägigen Ausnahmen: Finkelnburg/Dombert/ Külpmann, a.a.O., Rn. 759 m.w.N.). Vielmehr bedarf es eines hierüber hinausgehenden öffentlichen Interesses am Sofortvollzug (vgl. BVerfG, Beschl. v. 27.4.2005, a.a.O.; v. 18.7.1973, a.a.O.; Senatsbeschl. v. 21.3.2014 - 8 ME 24/14 -, Rn. 4; v. 10.5.2012 - 8 ME 59/12 , [...] Rn. 4; v. 29.7.2011 - 8 ME 36/11 -, [...] Rn. 22 jeweils m.w.N.). Das Interesse an einer gleichmäßigen Belastung der Kommunen mit Ausgaben für an Ausländer zu erbringende Sozialleistungen allein vermag die sofortige Vollziehung einer wohnsitzbeschränkenden Auflage daher nicht zu rechtfertigen (vgl. auch VG Gelsenkirchen, Beschl. v. 15.8.2007 - 9 L 708/07 -, [...] Rn. 29 f.).
Ein besonderes öffentliches Vollzugsinteresse ergibt sich auch nicht aus dem allgemeinen öffentlichen Interesse an der Einhaltung aufenthaltsrechtlicher Vorschriften. Der Gesetzgeber hat durch die Regelung des § 84 Abs. 1 AufenthG zu erkennen gegeben, in den Fällen der Erteilung wohnsitzbeschränkender Auflagen zu Aufenthaltserlaubnissen nach § 12 Abs. 2 Satz 2 AufenthG (vgl. hierzu Senatsbeschl. v. 13.4.2010 - 8 ME 5/10 -, [...] Rn. 21) und zu Duldungen nach § 61 Abs. 1 Satz 2 AufenthG (vgl. hierzu Senatsbeschl. v. 23.11.2012, a.a.O., Rn. 15 f.) regelmäßig keinen der dem Abwarten des Hauptsacheverfahrens entgegenstellt, unverzüglichen Handlungsbedarf zu sehen, es vielmehr beim Grundsatz des § 80 Abs. 1 VwGO bleiben sollte, wonach der Klage aufschiebende Wirkung zukommt. Die infolgedessen bestehende aufschiebende Wirkung einer Klage gegen einen auf § 12 Abs. 2 Satz 2 AufenthG oder § 61 Abs. 1 Satz 2 AufenthG gestützten Bescheid und die hieran anknüpfende Möglichkeit, während des Rechtsmittelverfahrens den Wohnsitz frei von den verfügten Beschränkungen zu wählen, ist Folge des gesetzlichen, durch Art. 19 Abs. 4 GG garantierten Rechtsschutzsystems und daher hinzunehmen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO und 162 Abs. 3 VwGO. Etwaige außergerichtliche Kosten des Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig, weil der Beigeladene im Ausgangs- und auch im Beschwerdeverfahren keinen eigenen Sachantrag gestellt und sich somit auch keinem Kostenrisiko ausgesetzt hat (vgl. zu diesen Aspekten: BVerwG, Beschl. v. 13.1.1987 - BVerwG 6 C 55.83 -, Buchholz 310 § 162 VwGO Nr. 21).
Die Festsetzung des Streitwertes für das Beschwerdeverfahren beruht auf §§ 47 Abs. 1 Satz 1, 53 Abs. 2 Nr. 2, 39 Abs. 1, 52 Abs. 1 und 2 GKG (vgl. zur Anwendung des Auffangstreitwertes bei Streitigkeiten sowohl um eine wohnsitzbeschränkende Auflage zu einer Aufenthaltserlaubnis: Senatsbeschl. v. 13.4.2010 - 8 ME 5/10 -, Umdruck S. 2 und 15, als auch zu einer Duldung: Senatsbeschl. v. 23.11.2012 - 8 LA 149/12 -, Umdruck S. 2 und 3) und Nr. 1.5 Satz 1 Halbsatz 1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (NordÖR 2014, 11). Die Änderung der Festsetzung des Streitwertes für das erstinstanzliche Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes erfolgt gemäß § 63 Abs. 3 Satz 1 GKG.