Verwaltungsgericht Lüneburg
Beschl. v. 21.02.2020, Az.: 1 B 46/19

8 Punkte; Abgabe Führerschein; Entziehung der Fahrerlaubnis; örtliche Zuständigkeit; Verwarnung; Zwangsgeldandrohung

Bibliographie

Gericht
VG Lüneburg
Datum
21.02.2020
Aktenzeichen
1 B 46/19
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2020, 71638
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Spricht eine örtlich unzuständige Behörde eine Verwarnung nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 StVG aus, führt das in entsprechender Anwendung von § 46 VwVfG nicht dazu, dass die Aufhebung einer nachfolgenden Entziehung der Fahrerlaubnis beansprucht werden kann.

Gründe

I.

Der Antragsteller begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen die Entziehung seiner Fahrerlaubnis, die damit verbundene Aufforderung zur Abgabe seines Führerscheins und die Androhung der Festsetzung eines Zwangsgeldes.

Er ist Inhaber einer Fahrerlaubnis für die Klassen A, BE, C1E, CE, L und T. Er war bis zum 30. November 2017 in D. (Landkreis E.) wohnhaft. Seither ist er in F. (Landkreis G.) gemeldet.

Das Kraftfahrt-Bundesamt informierte den Landkreis E. mit Schreiben vom 14. November 2016 über die im Fahreignungsregister enthaltenen Eintragungen und einen erreichten Punktestand von vier Punkten:

Tattag

Eintritt Rechtskraft

Verkehrszuwiderhandlung

Bewertung nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem

Datum der Tilgung

07.10.2014

03.12.2014

Überschreiten der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 34 km/h

1 Punkte

03.06.2017

31.05.2016

25.08.2016

Überschreiten der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 30 km/h

1 Punkt

25.02.2019

11.07.2016

05.11.2016

Überschreiten der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 45 km/h

2 Punkte

05.11.2021

Der Landkreis E. ermahnte daraufhin den Antragsteller mit Bescheid vom 19. Dezember 2016. Zugleich wurde der Antragsteller darauf hingewiesen, er könne durch die freiwillige Teilnahme an einem Fahreignungsseminar einen Punkt im Fahreignungsregister abbauen.

Unter dem 20. April 2017 benachrichtigte das Kraftfahrt-Bundesamt den Landkreis E., dass ein Punktestand von sechs Punkten erreicht worden sei. Es teilte die bereits mit Schreiben vom 14. November 2016 übermittelten sowie folgende weitere im Fahreignungsregister enthaltene Eintragungen mit:

Tattag

Eintritt Rechtskraft

Verkehrszuwiderhandlung

Bewertung nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem

Datum der Tilgung

03.11.2016

24.12.2016

Überschreiten der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 21 km/h

1 Punkt

24.06.2019

02.12.2016

14.04.2017

Überschreiten der zulässigen Höchstgeschwindigkeit innerhalb geschlossener Ortschaften um 18 km/h

1 Punkt

14.10.2019

Daraufhin verwarnte der Landkreis E. den Antragsteller mit Bescheid vom 23. Mai 2017, zugestellt am 26. Mai 2017 (Bl. 20 der Beiakte), unter Verweis auf die im Fahreignungsregister enthaltenen und mit sechs Punkten zu bewertenden Verkehrszuwiderhandlungen.

Mit Schreiben vom 7. Dezember 2017 informierte das Kraftfahrt-Bundesamtes den Landkreis E. über die dort eingetragenen Ordnungswidrigkeiten und den erneut erreichten Punktestand von sechs Punkten:

Tattag

Eintritt Rechtskraft

Verkehrszuwiderhandlung

Bewertung nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem

Datum der Tilgung

31.05.2016

25.08.2016

Überschreiten der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 30 km/h

1 Punkt

25.02.2019

11.07.2016

05.11.2016

Überschreiten der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 45 km/h

2 Punkte

05.11.2021

03.11.2016

24.12.2016

Überschreiten der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 21 km/h

1 Punkt

24.06.2019

02.12.2016

14.04.2017

Überschreiten der zulässigen Höchstgeschwindigkeit innerhalb geschlossener Ortschaften um 18 km/h

1 Punkt

14.10.2019

15.09.2017

22.11.2017

Überschreiten der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 25 km/h

1 Punkt

22.05.2020

Der Landkreis E. verwarnte sodann den Antragsteller mit Bescheid vom 23. Januar 2018, dem Antragsteller am 26. Januar 2018 in F. zugestellt (Bl. 33 der Beiakte). Zudem wurde der Antragsteller darauf hingewiesen, dass bei Erreichen von acht oder mehr Punkten die Fahrerlaubnis zu entziehen sei und dass er freiwillig an einem Fahreignungsseminar teilzunehmen könne, ohne dass dafür ein Punkterabatt gewährt werde.

Am 2. Februar 2018 teilte der Landkreis E. dem Antragsgegner mit, dass dieser nunmehr für den Antragsteller zuständig sei.

Am 6. September 2019 erhielt der Antragsgegner vom Kraftfahrt-Bundesamt die Auskunft über zwei weitere Eintragungen im Fahreignungsregister:

Tattag

Eintritt Rechtskraft

Verkehrszuwiderhandlung

Bewertung nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem

Datum der Tilgung

25.09.2018

20.12.2018

Überschreiten der zulässigen Höchstgeschwindigkeit innerhalb geschlossener Ortschaften um 18 km/h

1 Punkt

20.06.2021

18.12.2018

20.06.2019

Überschreiten der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 26 km/h

1 Punkte

20.12.2021

Unter Bezugnahme auf die Eintragungen im Fahreignungsregister hörte der Antragsgegner den Antragsteller mit Schreiben vom 16. September 2019 zur beabsichtigten Entziehung der Fahrerlaubnis an. Im Rahmen des folgenden Schriftwechsels teilte der Antragsgegner dem Antragsteller mit, die Verwarnung vom 23. Januar 2018 sei rechtmäßig ergangen, obwohl sie vom Landkreis E. ausgesprochen worden sei. Bestünden weiterhin Zweifel an der rechtmäßigen Zustellung der Verwarnung, werde die Zustimmung nachträglich erteilt.

Mit Bescheid vom 7. November 2019 entzog der Antragsgegner dem Antragsteller die Fahrerlaubnis für alle Klassen, forderte ihn unter Anordnung der sofortigen Vollziehung auf, den Führerschein unverzüglich, spätestens am 14. November 2019, abzugeben, drohte für den Fall der nicht rechtzeitigen Ablieferung des Führerscheins die Festsetzung eines Zwangsgeldes in Höhe von 500 EUR an und setzte Kosten in Höhe von 150 EUR fest. Zur Begründung führte er aus: Ein Fahrerlaubnisinhaber sei ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen, wenn sich acht Punkte oder mehr im Fahreignungsregister ergäben. Der Landkreis E. habe den Antragsteller mit Verfügung vom 19. Dezember 2016 bei einem Punktestand von vier Punkten ermahnt sowie mit Verfügungen vom 23. Mai 2017 und 23. Januar 2018 bei einem Punktestand von jeweils sechs Punkten verwarnt. Die Verkehrszuwiderhandlungen vom 25. September 2018 und 18. Dezember 2018 hätten zwischenzeitlich zu einem Punktestand von acht Punkten geführt.

Dagegen hat der Antragsteller am 6. Dezember 2019 Klage erhoben und um vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht. Er trägt zur Begründung im Wesentlichen vor: Da er seit dem 5. Dezember 2017 in F. wohne, sei der Landkreis E. nicht zuständig gewesen, die Verwarnung vom 23. Januar 2018 auszusprechen. Der seither allein zuständige Antragsgegner habe aber eine Verwarnung nicht wiederholt. Daneben habe er - der Antragsteller - die Verwarnungen nicht erhalten. Der Zweck der Verwarnungen und der Hinweise auf den drohenden Entzug der Fahrerlaubnis habe daher nicht erreicht werden können. Die Entziehung der Fahrerlaubnis und die Anordnung der sofortigen Vollziehung würden darüber hinaus überwiegende und dringende Gründe für eine konkrete, unmittelbar drohende Gefahr für den öffentlichen Straßenverkehr erfordern. Die erforderliche Güterabwägung habe der Antragsgegner lediglich formelhaft und unter Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vorgenommen. Bis zum Zeitpunkt der Entziehung der Fahrerlaubnis sei er - der Antragsteller - im Transportwesen tätig gewesen. Er sei daher dringend auf eine Fahrerlaubnis angewiesen.

Der Antragsteller beantragt,

die aufschiebende Wirkung seiner Klage gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 7. November 2019 anzuordnen.

Der Antragsgegner beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Er trägt im Wesentlichen vor: Der angegriffene Bescheid sei rechtmäßig. Insoweit verweise er - der Antragsgegner - auf die diesem Bescheid beigegebene Begründung. Der Antragsteller sei wegen der Eintragungen im Fahreignungsregister ermahnt und verwarnt worden. Die Verwarnungen vom 23. Mai 2017 und 23. Januar 2018 seien dem Antragsteller jeweils mit Postzustellungsurkunde zugestellt worden. Nach dem Landesrecht Mecklenburg-Vorpommerns sei der Landrat des Landkreises E. zuständig gewesen. Er - der Antragsgegner - stimme der Verwarnung des Antragstellers durch den Landkreis E. nachträglich zu. Da sie an keinem Mangel leide, sei die Wiederholung der Verwarnung nicht erforderlich gewesen. Auch habe er die Anordnung der sofortigen Vollziehung hinsichtlich der Anordnung, den Führerschein abzuliefern, hinreichend begründet.

II.

Der Antrag des Antragstellers auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ist, soweit er sich auf die Entziehung der Fahrerlaubnis und die Androhung der Festsetzung eines Zwangsgeldes bezieht, als Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung und, soweit er gegen die Aufforderung zur Ablieferung ihres Führerscheines gerichtet ist, als Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 7. November 2019 auszulegen (§§ 122 Abs. 1, 88 VwGO). Eine Anfechtungsklage gegen die Entziehung der Fahrerlaubnis hat gemäß § 4 Abs. 9 StVG, eine Anfechtungsklage gegen die Androhung der Festsetzung eines Zwangsgeldes hat gemäß § 64 Abs. 4 Satz 1 NPOG keine aufschiebende Wirkung. Die Aufforderung zur Abgabe des Führerscheins erklärte der Antragsgegner nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO für sofort vollziehbar.

Soweit der Antragsgegner durch den angefochtenen Bescheid ferner Verwaltungskosten in Höhe von 150 EUR festsetzte, geht die Kammer davon aus, dass der Antragsteller nicht auch hiergegen vorläufigen Rechtsschutz begehrt, da er insoweit keine Einwände erhoben hat und auch die Zulässigkeitsvoraussetzungen nach § 80 Abs. 6 VwGO für einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO nicht vorliegen.

Der so verstandene Antrag des Antragstellers bleibt ohne Erfolg. Der zulässige Antrag ist unbegründet.

Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache die aufschiebende Wirkung der Klage in den Fällen des Abs. 2 Nr. 1 bis 3 ganz oder teilweise anordnen oder im Falle des Abs. 2 Nr. 4 ganz oder teilweise wiederherstellen. Hiernach entscheidet das Gericht auf der Grundlage einer eigenen Abwägung des Interesses des Antragstellers, von der Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsaktes bis zur endgültigen Entscheidung über seine Rechtmäßigkeit verschont zu bleiben, gegen das besondere öffentliche Interesse an dessen sofortiger Vollziehung (vgl. BVerwG, Beschl. v. 19.12.2014 - 7 VR 5.14 -, juris Rn. 9; Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 10.9.2014 - 8 ME 87/14 -, juris Rn. 2). Im Rahmen der Interessenabwägung kommt den Erfolgsaussichten des in der Hauptsache eingelegten Rechtsbehelfs eine entscheidende Bedeutung zu. Ergibt sich bei der im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzes nur gebotenen summarischen Überprüfung, dass der Rechtsbehelf in der Hauptsache keinen Erfolg haben wird, weil sich der angegriffene Verwaltungsakt als offensichtlich rechtmäßig erweist, so überwiegt regelmäßig das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsaktes. Erweist sich der Rechtsbehelf bei summarischer Überprüfung demgegenüber als offensichtlich erfolgreich, überwiegt regelmäßig das Interesse des Adressaten des Verwaltungsaktes, von dessen Vollziehung vorerst verschont zu bleiben. Stellen sich die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs hingegen als offen dar, so ist eine Abwägung der widerstreitenden Interessen erforderlich, bei der in Rechnung zu stellen ist, welche Gründe bei bestehender Unsicherheit im Hinblick auf die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs für und gegen eine Aufrechterhaltung der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsaktes sprechen (vgl. Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 10.5.2010 - 13 ME 181/09 -, juris Rn. 4). In den Fällen, in denen das Entfallen der aufschiebenden Wirkung einer Anfechtungsklage durch Bundesgesetz oder für Landesrecht durch Landesgesetz vorgeschrieben ist (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO), ist zu berücksichtigen, dass das öffentliche Vollzugsinteresse bereits durch den gesetzlich angeordneten Ausschluss der aufschiebenden Wirkung erhebliches Gewicht erhält (vgl. BVerwG, Beschl. v. 7.8.2014 - 9 VR 2.14 -, juris Rn. 3; Bayerischer VGH, Beschl. v. 9.8.2018 - 15 CS 18/1285 -, juris Rn. 33; Sächsisches OVG, Beschl. v. 27.10.2010 - 5 B 286/10 -, juris Rn. 12). Insbesondere wenn in diesen Fällen die im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzes gebotene summarische Überprüfung ergibt, dass die mit dem Hauptantrag erhobene Anfechtungsklage voraussichtlich keinen Erfolg haben wird, besteht kein Anlass, von der gesetzlich bestimmten Regel der sofortigen Vollziehbarkeit abzugehen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 30.9.2008 - 7 VR 1.08 -, juris Rn. 6).

Nach Maßgabe dessen ist der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage des Antragstellers gegen die Entziehung der Fahrerlaubnis und die Androhung der Festsetzung eines Zwangsgeldes sowie auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Aufforderung zur Ablieferung seines Führerscheines unbegründet.

1.

Die Abwägung des Interesses des Antragsstellers, von der Vollziehung der Fahrerlaubnisentziehung bis zur endgültigen Entscheidung über ihre Rechtmäßigkeit verschont zu bleiben, gegen das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung fällt zu Ungunsten des Antragstellers aus. Nach der gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage wird die Klage des Antragstellers gegen die Entziehung der Fahrerlaubnis voraussichtlich ohne Erfolg bleiben, weil der angefochtene Bescheid insoweit rechtmäßig ist. Der Antragsgegner entzog dem Antragsteller zu Recht die Fahrerlaubnis nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG.

Der angefochtene Verwaltungsakt unterliegt zunächst in formeller Hinsicht keinen rechtlichen Bedenken. Insbesondere hörte der Antragsgegner den Antragsteller vor Erlass des angefochtenen Bescheides an (§ 1 Abs. 1 NVwVfG in Verbindung mit § 28 Abs. 1 Satz 1 VwVfG). Auch in materiell-rechtlicher Hinsicht erweist sich die Entziehung der Fahrerlaubnis als rechtmäßig. Nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG gilt der Inhaber einer Fahrerlaubnis als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen und ist die Fahrerlaubnis zu entziehen, sobald sich acht oder mehr Punkte nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem ergeben. Diese Voraussetzungen liegen hier vor.

Für den Antragsteller ergaben sich am 18. Dezember 2018 - dem Tag der Begehung der von ihm zuletzt begangenen und in das Fahreignungsregister eingetragenen Ordnungswidrigkeit - in der Summe acht Punkte nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem mit der Folge, dass er als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen galt und ihm die Fahrerlaubnis zu entziehen war. In diesem Zusammenhang hat die Fahrerlaubnisbehörde nach § 4 Abs. 5 Satz 5 StVG für das Ergreifen der Maßnahmen nach Satz 1 auf den Punktestand abzustellen, der sich zum Zeitpunkt der Begehung der letzten zur Ergreifung der Maßnahme führenden Straftat oder Ordnungswidrigkeit ergeben hat (sog. Tattagprinzip). Punkte ergeben sich gemäß § 4 Abs. 2 Satz 3 StVG mit der Begehung der Straftat oder Ordnungswidrigkeit, sofern sie rechtskräftig geahndet wird. Dabei ist die Behörde an die rechtskräftige Entscheidung über die Straftat oder die Ordnungswidrigkeit gebunden (§ 4 Abs. 5 Satz 4 StVG).

Der Antragsgegner stützte seine Entscheidung zu Recht auf die im angefochtenen Bescheid benannten, rechtskräftig geahndeten Verkehrsordnungswidrigkeiten. Bei der Berechnung des Punktestandes werden gemäß § 4 Abs. 5 Satz 6 Nr. 1 StVG Zuwiderhandlungen unabhängig davon berücksichtigt, ob nach deren Begehung bereits Maßnahmen nach Satz 1 ergriffen worden sind. Nach Nr. 2 werden sie nur dann berücksichtigt, wenn deren Tilgungsfrist zu dem in Satz 5 genannten Zeitpunkt noch nicht abgelaufen war. Spätere Verringerungen des Punktestandes auf Grund von Tilgungen bleiben unberücksichtigt (§ 4 Abs. 5 Satz 7 StVG). Zum hier maßgeblichen Zeitpunkt, dem 18. Dezember 2018, war die jeweilige Tilgungsfrist für die im Bescheid genannten früheren Verkehrsordnungswidrigkeiten noch nicht abgelaufen. Die Tilgungsfrist für die Verkehrsordnungswidrigkeiten vom 31. Mai 2016, 3. November 2016, 2. Dezember 2016, 15. September 2017, 25. September 2018 und 18. Dezember 2018, die jeweils mit einem Punkt bewertet wurden, beträgt jeweils 2 Jahre und 6 Monate (§ 29 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 Buchst. a StVG) und für die Verkehrsordnungswidrigkeit vom 11. Juli 2019, die mit zwei Punkten bewertet wurde, fünf Jahre (§ 29 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Buchst. b StVG) ab dem Tag der Rechtskraft oder Unanfechtbarkeit der Bußgeldentscheidung (§ 29 Abs. 4 Nr. 3 StVG). Unter Berücksichtigung des jeweiligen Eintritts der Rechtskraft ist die Tilgungsfrist der Verkehrsordnungswidrigkeit vom 31. Mai 2016 erst am 25. Februar 2019, vom 3. November 2016 am 24. Juni 2019 und vom 2. Dezember 2016 am 14. Oktober 2019 abgelaufen beziehungsweise läuft sie für die Verkehrsordnungswidrigkeiten vom 11. Juli 2019 am 5. November 2021, vom 15. September 2017 am 22. Mai 2020, vom 25. September 2018 am 20. Juni 2021 und vom 18. Dezember 2018 am 20. Dezember 2021 ab.

Der Antragsgegner beachtete das Gebot des stufenweisen Vorgehens des § 4 Abs. 5 Satz 1 in Verbindung mit § 4 Abs. 6 Satz 1 und 2 StVG. § 4 Abs. 5 Satz 1 StVG bestimmt, dass die Fahrerlaubnisbehörde gegenüber dem Inhaber einer Fahrerlaubnis die in den Nummern 1 bis 3 aufgeführten Maßnahmen (zunächst Ermahnung, sodann Verwarnung und schließlich Entziehung der Fahrerlaubnis) stufenweise zu ergreifen hat. Dieses Stufensystem wird im Hinblick auf seine Rechtsfolgen in § 4 Abs. 6 StVG näher präzisiert. Nach Satz 1 dieser Vorschrift darf die Fahrerlaubnisbehörde eine Maßnahme nach Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 oder Nr. 3 nur ergreifen, wenn die Maßnahme der davor liegenden Stufe nach Absatz 5 Nr. 1 oder 2 bereits ergriffen worden ist. Sofern die Maßnahme der davor liegenden Stufe noch nicht ergriffen worden ist, ist diese zu ergreifen, § 4 Abs. 6 Satz 2 StVG.

Vorliegend wurden gegenüber dem Antragsteller unter Beachtung der vorstehenden Vorgaben die beiden vor der Entziehung der Fahrerlaubnis liegenden Stufen des Maßnahmensystems in nicht zu beanstandender Weise ergriffen.

Mit Bescheid vom 19. Dezember 2016 ermahnte der Landkreis E. den Antragsteller unter dem zutreffenden Hinweis darauf, dass im Fahreignungsregister rechtskräftige Verkehrsverstöße eingetragen seien, die insgesamt mit vier Punkten zu bewerten seien (§ 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 StVG). Der Landkreis E. war für die Durchführung der Ermahnung sachlich und örtlich zuständig. Die sachliche Zuständigkeit ergibt sich aus 73 Abs. 1 Satz 1 Fahrerlaubnis-Verordnung vom 13. Dezember 2010 (BGBl. I S. 1980) in der Fassung vom 2. Oktober 2015 (BGBl. I S. 1674) - FeV - in Verbindung mit § 3 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3b der Straßenverkehr-Zuständigkeitslandesverordnung des Landes Mecklenburg-Vorpommern vom 7. September 2016 (GVOBl. M-V S. 782). Die örtliche Zuständigkeit folgt aus § 73 Abs. 2 Satz 1 FeV, da der Antragsteller zum damaligen Zeitpunkt seinen Wohnsitz in D. hatte. Die Ermahnung war mit dem nach § 4 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 1 StVG vorgeschriebenen Hinweis verbunden, es bestehe die Möglichkeit zur freiwilligen Teilnahme an einem Fahreignungsseminar.

Nachdem sich der aus dem Fahreignungsregister ergebende Punktestand aufgrund der Verkehrszuwiderhandlung vom 15. September 2017 auf sechs Punkte erhöht hatte, sprach der Landkreis E. mit Bescheid vom 23. Januar 2018 eine Verwarnung aus. Diese Verwarnung ist auch beachtlich. Zunächst begegnet die örtliche Zuständigkeit keinen durchgreifenden Bedenken. Zwar war im Januar 2018 nicht mehr der Landkreis E., sondern der Antragsgegner örtlich zuständig, da der Antragsteller laut Auskunft der Samtgemeide H. (Bl. 38 d.A.) seit dem 1. Dezember 2017 in F. seinen Wohnsitz hatte (§ 73 Abs. 2 Satz 1 FeV in der Fassung der Verordnung vom 2. Januar 2018 (BGBl. I S. 2). Insoweit übertrug der Antragsgegner seine Zuständigkeit wirksam nach § 1 Abs. 1 NVwVfG in Verbindung mit § 3 Abs. 3 VwVfG, indem er mit Schriftsatz vom 7. November 2019 (Bl. 55 der Beiakte) und damit bis zum Abschluss des Verwaltungsverfahrens nachträglich der Durchführung der Verwarnung durch den Landkreis E. zustimmte. Aber selbst, wenn man dem nicht folgen wollte und von einer Verwarnung durch eine unzuständige Behörde ausgehen wollte, wäre dies unschädlich. Der Antragsteller erhielt die Verwarnung und konnte daher von den maßgeblichen Umständen Kenntnis erlangen. Die Verwarnung wurde dem Antragsteller ausweislich der Postzustellungsurkunde (Bl. 33 der Beiakte) am 26. Januar 2018 an seinem neuen Wohnsitz in F. zugestellt. Die Postzustellungsurkunde begründet als öffentliche Urkunde vollen Beweis der darin bezeugten Tatsachen, § 173 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 418 Abs. 1 ZPO. Der Beweis der Unrichtigkeit (§ 418 Abs. 2 ZPO) ist vorliegend nicht erbracht worden. Die von § 4 Abs. 5 Satz 2 und 3 StVG verfolgte Warn- und Unterrichtungsfunktion, nämlich den Betroffenen anzuraten, sein bisherigen Verhalten im Straßenverkehr zu ändern und Verkehrsverstöße zu vermeiden, ihn auf die Möglichkeit einer freiwilligen Teilnahme an einem Fahreignungsseminar hinzuweisen sowie über die drohende Entziehung der Fahrerlaubnis bei Erreichen von acht Punkten erneut zu unterrichten, wurde damit erreicht. Die Entscheidung über den Ausspruch einer Verwarnung steht nicht im Ermessen der zuständigen Behörde, so dass selbst ein Tätigwerden einer örtlich unzuständigen Behörde in entsprechender Anwendung des § 1 Abs. 1 NVwVfG in Verbindung mit § 46 VwVfG keine Auswirkungen auf das spätere Verfahren betreffend die Entziehung der Fahrerlaubnis haben kann (vgl. Kammerbeschl. v. 23.4.2018 - 1 B 16/18 -, n.v., BA S. 6; VG Augsburg, Urt. v. 24.1.2006 - Au 3 K 05/1068, juris Rn. 19). Nach diesen Vorschriften bleiben Verletzungen von Vorschriften über das Verfahren, die Form oder die örtliche Unzuständigkeit unbeachtlich im Sinne einer fehlenden Rechtsverletzung des Betroffenen, wenn - wie hier - offensichtlich ist, dass die Verletzung solcher Vorschriften die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst hat (zur Zulässigkeit einer entsprechenden Anwendung auf andere Rechtsakte als Verwaltungsakte vgl. Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Aufl. 2018, § 46 Rn. 17).

2.

Im Hinblick auf die Aufforderung zur Abgabe des Führerscheins genügt zunächst die Begründung der Anordnung der sofortigen Vollziehung den sich aus § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO ergebenden Anforderungen. Erforderlich für das Vorliegen einer hinreichenden schriftlichen Begründung im Sinne dieser Vorschrift ist eine auf den konkreten Einzelfall abstellende Darlegung des besonderen öffentlichen Interesses dafür, dass ausnahmsweise die sofortige Vollziehbarkeit notwendig ist und dass hinter dieses erhebliche öffentliche Interesse das Interesse des Betroffenen zurücktreten muss, zunächst von dem von ihm angegriffenen Verwaltungsakt verschont zu werden. Dem Begründungserfordernis ist nicht erst dann Genüge getan, wenn ein besonderes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung tatsächlich vorliegt. Ausreichend ist vielmehr – wie bei der Begründung eines Verwaltungsaktes nach § 39 Abs. 1 Satz 2 VwVfG –, dass die Behörde die wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Gründe mitteilt, die sie im konkreten Einzelfall zu der Annahme des Vorliegens eines besonderen Vollzugsinteresses und damit zur Anordnung der sofortigen Vollziehung bewogen haben. Da sich diese Begründung auf das besondere öffentliche Interesse an der Vollziehung zu beziehen hat, ist eine gesonderte Darstellung der diesem Interesse entgegenstehenden Interessen des von der sofortigen Vollziehung nachteilig Betroffenen keine Voraussetzung der formalen Ordnungsmäßigkeit der Begründung. In diesem Zusammenhang ist nicht entscheidungserheblich, ob bereits die von dem Antragsgegner getroffene Entscheidung über den Sofortvollzug auf einer auch inhaltlich tragfähigen, materiell ausreichenden Abwägung beruhte (vgl. Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 7.3.2017 - 12 ME 12/17 -, n.v.). Die Begründung des Antragsgegners für die Anordnung der sofortigen Vollziehung genügt diesen Anforderungen. Der Antragsgegner begründete seine Anordnung der sofortigen Vollziehung hinreichend. Er stützte die Notwendigkeit der sofortigen Vollziehbarkeit darauf, dass die Nichteignung des Antragstellers zum Führen von Kraftfahrzeugen feststehe, ihm aber ein gegebenenfalls lange dauerndes Rechtsbehelfsverfahren ermögliche, durch Vorlage des Führerscheins eine Fahrerlaubnis vorzutäuschen und so als Kraftfahrer am öffentlichen Straßenverkehr teilzunehmen. Davon gehe eine Gefährdung für das Leben des Antragstellers und andere Verkehrsteilnehmer aus.

Die Abwägung des Interesses des Antragstellers, von der Abgabe des Führerscheins bis zur endgültigen Entscheidung über deren Rechtmäßigkeit verschont zu bleiben, gegen das besondere öffentliche Interesse an dessen sofortiger Vollziehung fällt zu Ungunsten des Antragstellers aus. Nach summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage wird die Klage des Antragstellers gegen die Verpflichtung zur Abgabe des Führerscheins voraussichtlich keinen Erfolg haben. Die vom Antragsgegner angeordnete unverzügliche Abgabe des Führerscheins ist vorgesehene Folge einer Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 3 Abs. 2 StVG in Verbindung mit § 47 Abs. 1 FeV) und unterliegt keinen rechtlichen Bedenken.

Es ist auch ein besonderes Vollzugsinteresse gegeben, das in der Wahrung der Sicherheit des Straßenverkehrs zu sehen ist. Die hier gesetzlich angeordnete sofortige Vollziehbarkeit des Fahrerlaubnisentzuges kann nur dann Wirksamkeit erlangen, wenn auch der Führerschein unmittelbar eingezogen wird. Andernfalls bestünde die Gefahr, dass sich der Antragsteller - trotz bestehender, sofort vollziehbarer Entziehung der Fahrerlaubnis - unberechtigterweise als Fahrerlaubnisinhaber ausweisen könnte.

3.

Darüber hinaus überwiegt das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung der Androhung der Festsetzung eines Zwangsgeldes in Höhe von 500 EUR das Interesse des Antragstellers, hiervon bis zur endgültigen Entscheidung über ihre Rechtmäßigkeit verschont zu bleiben.

Nach der gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage wird die Klage auch insoweit voraussichtlich ohne Erfolg bleiben. Die Androhung der Zwangsgeldfestsetzung für den Fall, dass der Antragsteller seinen Führerschein nicht unverzüglich, spätestens am 14. November 2019, abgibt, ist rechtmäßig. Sie stützt sich auf § 70 Abs. 1 Niedersächsisches Verwaltungsvollstreckungsgesetz vom 4. Juli 2011 (Nds. GVBl. S. 238) in der Fassung vom 11. September 2019 (Nds. GVBl. S. 258) in Verbindung mit § 64 Abs. 1, § 65 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2, § 70 Niedersächsisches Polizei- und Ordnungsbehördengesetz vom 19. Januar 2005 (Nds. GVBl. 2005, 9) in der Fassung vom 11. September 2019 (Nds. GVBl. S. 258) und ist rechtlich nicht zu beanstanden. Insbesondere setzte der Antragsgegner dem Antragsteller eine angemessene Frist zur Erfüllung der Pflicht, den Führerschein abzugeben. Die Frist konnte auf einen Zeitpunkt vor Eintritt der Bestandskraft des Grundverwaltungsaktes abstellen, da dieser für sofort vollziehbar erklärt worden war (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 22.4.2010 - OVG 11 B 9/09 -, juris Rn. 16 f.; Kammerbeschl. v. 1.3.2019 - 1 A 129/17 -, n.v., BA S. 13 m.w.N.).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1, § 43 Abs. 1 GKG und orientiert sich an Nr. 46.4, Nr. 1.5 und Nr. 1.7.2 des Streitwertkataloges für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (NordÖR 2014, 11).