Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 24.07.2019, Az.: 10 ME 154/19

Anspruch; Entfernung; Fahrzeit; Ganztagsbetreuung; Kindertagesstätte; Wohnort; Zumutbarkeit

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
24.07.2019
Aktenzeichen
10 ME 154/19
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2019, 69766
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 02.07.2019 - AZ: 4 B 723/19

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Die Grenze der Zumutbarkeit der Entfernung zwischen dem Wohnort des Kindes und der Kindertagesstätte lässt sich nicht abstrakt-generell festlegen.

2. Ohne Besonderheiten des Einzelfalls kann eine Entfernung von 30 Minuten pro Weg noch als zumutbar angesehen werden.

3. Bei der Beurteilung der Zumutbarkeit ist auch die Entfernung zur Arbeitsstätte der Eltern bzw. des Elternteils zu berücksichtigen, wobei allerdings eine besonders lange Fahrzeit zur Arbeitsstätte nicht dazu führen kann, eine – für sich gesehen – wohnortnahe Einrichtung wegen der insgesamt hohen Fahrzeit als unzumutbar anzusehen.

Tenor:

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Stade - 4. Kammer - vom 2. Juli 2019 wird zurückgewiesen.

Der Antragsteller trägt die außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Die Beschwerde des am 22. Juli 2016 geborenen Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts, mit dem dieses seinen Antrag, ihm ab dem 1. August 2019 einen Platz in der Kindertagesstätte “ G.“, hilfsweise in einer anderen Kindertagesstätte, mit einer Ganztagesbetreuung von 8.00 Uhr bis 17.00 Uhr zuzuweisen, abgelehnt hat, hat keinen Erfolg. Denn das Verwaltungsgericht hat zu Recht festgestellt, dass der Antragsteller einen Anordnungsanspruch hinsichtlich der begehrten Ganztagesbetreuung nicht glaubhaft gemacht hat. Die von dem Antragsteller dagegen vorgebrachten Beschwerdegründe, auf deren Prüfung der Senat sich nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO zu beschränken hat, stellen die Feststellungen des Verwaltungsgerichts nicht in Frage.

Der Antragsteller hat entgegen der Auffassung seiner Prozessbevollmächtigten keinen Anspruch auf Förderung in einer Kindertageseinrichtung mit einer täglichen Betreuungszeit von 8.00 Uhr bis 17.00 Uhr.

Nach § 24 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII hat ein Kind, das - wie der Antragsteller - das 3. Lebensjahr vollendet hat, bis zum Schuleintritt Anspruch auf Förderung in einer Tageseinrichtung. Der Anspruch richtet sich nach § 12 Abs. 1 Satz 2 des Niedersächsischen Gesetzes über Tageseinrichtungen für Kinder (KiTaG) auf einen Platz in einer Vormittagsgruppe eines Kindergartens. Nach § 8 Abs. 2 Satz 1 KiTaG müssen die Kindertagesstätten für alle Kinder wenigstens an 5 Tagen in der Woche vormittags eine Betreuung in der Gruppe von mindestens 4 Stunden anbieten. Nach § 24 Abs. 3 Satz 2 SGB VIII haben die Träger der öffentlichen Jugendhilfe allerdings darauf hinzuwirken, dass für diese Altersgruppe ein bedarfsgerechtes Angebot an Ganztagsplätzen zur Verfügung steht. § 8 Abs. 2 Satz 2 KiTaG regelt diesbezüglich, dass der örtliche Träger und die Gemeinde, die die Förderung der Kinder in Tageseinrichtungen wahrnimmt, darauf hinzuwirken haben, dass je nach Bedarf in zumutbarer Entfernung Kindertagesstätten angeboten werden, die ganztags betreuen oder zumindest eine tägliche Betreuungszeit von wenigstens 6 Stunden an 5 Tagen in der Woche anbieten.

Aus diesen Vorschriften ergibt sich kein Anspruch des Antragstellers auf Förderung im Umfang von 9 Stunden am Tag. Denn nach § 24 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII und den genannten landesrechtlichen Vorschriften besteht lediglich ein Anspruch auf eine halbtägige Förderung (Senatsbeschluss vom 19.12.2018 - 10 ME 395/18 -, juris 1. Leitsatz und Rn. 4; Kaiser in Kunkel/Kepert/Pattar, SGB VIII, 7. Aufl. 2018, beck-online, § 24 Rn. 34; Rixen in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 2. Aufl. 2018, § 24 Rn. 21; Happe/Saurbier in Jans/Happe/Saurbier/Maas, Kinder- und Jugendhilferecht, 3. Aufl., Stand: Januar 2018, § 24 SGB VIII Rn. 33; Fischer in Schellhorn/Fischer/Mann/Kern, SGB VIII, 5. Aufl. 2017, § 24 Rn. 24; Struck in Wiesner, SGB VIII, 5. Aufl. 2015, § 24 Rn. 58). Dies ergibt sich bereits eindeutig aus dem Wortlaut des § 24 Abs. 3 Sätze 1 und 2 SGB VIII. Denn daraus, dass im Hinblick auf die Ganztagsbetreuung in § 24 Abs. 3 Satz 2 SGB VIII eine bloß objektiv-rechtliche Hinwirkungspflicht formuliert ist, folgt, dass sie nicht vom Rechtsanspruch des Satzes 1 umfasst ist. Die Regelung dieser Hinwirkungspflicht wäre nämlich erkennbar sinnlos, wenn auf eine Ganztagsbetreuung bereits ein subjektiver Anspruch bestünde.

Entgegen der Behauptung der Prozessbevollmächtigten des Antragstellers ergibt sich nichts Anderes aus der von ihr angeführten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des Bundesverfassungsgerichts. Den von ihr zitierten Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts vom 23. Oktober 2018 (- 5 C 15.17 -, juris) betreffend eine Kostenerstattungsstreitigkeit und vom 26. Oktober 2017 (- 5 C 19.16 -, juris) betreffend den Anspruch der Kinder, die das 1. Lebensjahr vollendet haben, nach § 24 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII auf Förderung in einer Tageseinrichtung oder in der Kindertagespflege, deren Umfang sich § 24 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Abs. 1 Satz 3 SGB VIII nach dem individuellen Bedarf richtet, lassen sich nicht ansatzweise Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass entgegen dem klaren Wortlaut des § 24 Abs. 3 SGB VIII ein Kind, das das 3. Lebensjahr vollendet hat, einen Anspruch auf ganztägige Förderung in einer Kindertageseinrichtung haben soll. In keiner Weise nachvollziehbar ist im vorliegenden Zusammenhang die Zitierung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom 28. Mai 1993 (- 2 BvF 2/90, 2 BvF 4/92, 2 BvF 5/92 -, juris) betreffend die verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine für das gesamte Deutschland geltende Regelung des Schwangerschaftsabbruchs und vom 10. November 1998 (- 2 BvR 1057/91, 2 BvR 1226/91, 2 BvR 980/91 -, juris) betreffend den Familienlastenausgleich, da diese keine Hinweise darauf enthalten, dass der Gesetzgeber aus verfassungsrechtlichen Gründen verpflichtet ist, eine ganztägige Betreuung für Kinder, die das 3. Lebensjahr vollendet haben, in einer Kindertageseinrichtung zu schaffen. Im Übrigen übersieht die Prozessbevollmächtigte des Antragstellers, dass ein drei Jahre altes Kind nach § 24 Abs. 3 Satz 3 SGB VIII bei besonderem Bedarf oder ergänzend auch in Kindertagespflege gefördert werden kann, was hier jedoch vom Antragsteller nicht begehrt wird.

Dass im Zuständigkeitsbereich des Antragsgegners tatsächlich Ganztagsplätze in zumutbarer Entfernung zum Wohnort des Antragstellers zum 1. August 2019 zur Verfügung stehen und diese dem Antragsteller zu Unrecht, nämlich in einer den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG verletzenden Weise, vorenthalten worden sind, hat der Antragsteller zur Begründung seiner Beschwerde nicht vorgetragen. Dahingehende Anhaltspunkte sind im Übrigen auch nicht ersichtlich.

Im Hinblick auf den erforderlichen zeitlichen Umfang der halbtägigen Betreuung kann hier dahinstehen, ob wegen § 22 Abs. 2 Nr. 3 SGB VIII, wonach die Tageseinrichtungen den Eltern dabei helfen sollen, Erwerbstätigkeit und Kindererziehung besser miteinander vereinbaren zu können, die Betreuungszeit mindestens 6 Stunden betragen muss (so Struck in Wiesner, a.a.O., § 24 Rn. 58) oder ob, was die Abgrenzung zur nicht vom Anspruch nach § 24 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII umfassten Ganztagsbetreuung nahelegt, eine halbtägige Betreuung im Umfang von mindestens 4 Stunden, wie sie in § 8 Abs. 2 Satz 1 KiTaG geregelt ist, ausreichend sein kann (so Rixen in Schlegel/Voelzke, a.a.O., § 24 Rn. 21). Denn jedenfalls ist die vom Antragsteller begehrte Betreuung im Umfang von 9 Stunden täglich nicht vom Anspruch gemäß § 24 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII umfasst. Außerdem ist dem Antragsteller nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts neben dem Betreuungsplatz in der Kindertageseinrichtung “ H.“ mit einer Betreuungszeit von 5 Stunden täglich (von 8:00 Uhr bis 13:00 Uhr) auch ein - den Anspruch nach § 24 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII in jedem Fall abdeckender - Platz in der Kindertageseinrichtung “ I.“ mit einer Betreuungszeit von 6 Stunden täglich (von 8:00 Uhr bis 14:00 Uhr) angeboten worden.

Auch im Hinblick auf die Entfernung zwischen dem Wohnort des Antragstellers und den ihm angebotenen Kindertagesstätten bestehen keine rechtlichen Bedenken.

Nach § 12 Abs. 1 Satz 4 KitaG ist der Anspruch auf den Besuch eines Kindergartens möglichst ortsnah zu erfüllen. Welche Entfernung zwischen Wohnort und Tagesstätte dabei noch zumutbar ist, lässt sich nicht abstrakt-generell festlegen (Bayerischer VGH, Urteil vom 22.07.2016 - 12 BV 15.719 -, juris 7. Leitsatz und Rn. 48), hängt also von den Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalls ab. Insofern sind neben der Entfernung das Alter des zu transportierenden Kindes, die zur Verfügung stehenden Transportmittel und Nahverkehrsanbindungen, die Aufgabenteilung in der Familie sowie die Arbeitsplätze und Arbeitszeiten der Eltern zu berücksichtigen (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 08.12.2016 - 12 S 1782/15 -, juris Rn. 42). Ohne Besonderheiten des Einzelfalls kann eine Entfernung von 30 Minuten pro Weg (insgesamt also eine Stunde Fahrzeit) noch als zumutbar angesehen werden, stellt also die Grenze der Zumutbarkeit dar und ist damit eine Richtschnur für deren Beurteilung (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 08.12.2016 - 12 S 1782/15 -, juris Rn. 42 m.w.N.; Struck in: Wiesner, a.a.O., § 24 Rn. 40; Kaiser in Kunkel/Kepert/Pattar, a.a.O., § 24 Rn. 18).

Danach liegen beide von dem Antragsgegner angebotenen Kindertagesstätten in einer auch unter Berücksichtigung des Alters des Antragstellers ohne weiteres zumutbaren Entfernung zu dessen Wohnort. Denn nach den zutreffenden, mithilfe eines Routenplaners getroffenen Feststellungen des Verwaltungsgerichts liegt die Einrichtung H. 10,03 km vom Wohnort des Antragstellers entfernt und beträgt die Fahrzeit 10 Minuten. Die Entfernung zur Einrichtung I. beträgt danach 10,21 km und die Fahrzeit 12 Minuten.

Im Hinblick auf § 22 Abs. 2 Nr. 3 SGB VIII, wonach die Tageseinrichtungen den Eltern dabei helfen sollen, Erwerbstätigkeit und Kindererziehung besser miteinander vereinbaren zu können, ist jedoch auch die Entfernung zur Arbeitsstätte und der damit verbundene gesamte zeitliche Aufwand für die Eltern zu berücksichtigen (ebenso Bayerischer VGH, Urteil vom 22.07.2016 - 12 BV 15.719 -, juris 7. Leitsatz und Rn. 48 m.w.N.), wobei allerdings eine besonders lange Fahrzeit zur Arbeitsstätte nicht dazu führen kann, eine - für sich gesehen - wohnortnahe Einrichtung wegen der insgesamt hohen Fahrzeit als unzumutbar anzusehen. Doch auch unter Berücksichtigung der Fahrstrecke zur Arbeitsstelle der Eltern des Antragstellers ist hier die Zumutbarkeit zu bejahen. Die Fahrzeit beträgt nach den Angaben der Prozessbevollmächtigten des Antragstellers 22 Minuten. Die Arbeitsstätte soll in entgegengesetzter Richtung zu den angebotenen Kindertagesstätten liegen. Daraus resultiert eine Gesamtfahrzeit von höchstens 46 Minuten (2 × 12 Minuten = 24 Minuten für die Fahrten zur Kindertagesstätte I. und zurück + 22 Minuten zur Arbeitsstätte), die nach dem oben Gesagten jedenfalls zumutbar ist. Denn danach ist eine Gesamtfahrzeit von einer Stunde noch zumutbar (vgl. Struck in Wiesner, SGB VIII, a.a.O., § 24 Rn. 40, wonach ein Zeitaufwand von 30 Minuten für die Fahrt zwischen Wohnort und Tageseinrichtung zuzüglich weiteren 30 Minuten für die Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeitsstätte insgesamt als noch zumutbar anzusehen ist). Hier kommt hinzu, dass die Eltern des Antragstellers, die beide in Führungspositionen tätig sein sollen und offenbar beide über ein Kraftfahrzeug verfügen, sich beim Bringen und Abholen des Kindes abwechseln können.

Eine andere Beurteilung ergibt sich schließlich auch nicht aus dem von der Prozessbevollmächtigten des Antragstellers zitierten Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 26. Oktober 2017 (- 5 C 19.16 -, juris). Denn entgegen deren Behauptung hat das Bundesverwaltungsgericht in dieser Entscheidung eine tägliche Fahrzeit von zwei Stunden nicht als unzumutbar bezeichnet. Das Bundesverwaltungsgericht hat darin vielmehr lediglich festgestellt, dass es revisionsrechtlich an die Beurteilung der Vorinstanz, „der mit zwei Stunden pro Tag anzusetzende Zeitaufwand für die Bewältigung des Weges von der Praxis zu der Tagespflegestelle und zurück sei der freiberuflich tätigen Mutter des Klägers nicht mehr zuzumuten“, gebunden sei (juris Rn. 62).

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 2, 188 VwGO.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).