Verwaltungsgericht Braunschweig
Urt. v. 26.01.2023, Az.: 2 A 172/19

soziale Gruppe; Verwestlichung; Yeziden; Flüchtlingsschutz für verwestlichte Yezidin aus dem Irak

Bibliographie

Gericht
VG Braunschweig
Datum
26.01.2023
Aktenzeichen
2 A 172/19
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2023, 11606
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGBRAUN:2023:0126.2A172.19.00

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    In ihrer Identität maßgeblich durch westliche Werte und Moralvorstellungen geprägte Frauen bilden im Irak eine soziale Gruppe.

  2. 2.

    Für die Frage der "Verwestlichung" ist nicht relevant, ob Frauen aus dem Irak sich rein optisch europäischen Frauen angepasst haben und sich etwa freizügig kleiden.

  3. 3.

    Die emanzipatorischen Entwicklungen in der yezidischen Gemeinschaft im Irak sind noch nicht so weit fortgeschritten, dass in ihrer Persönlichkeit westlich geprägte Yezidinnen im Irak ohne Furcht vor Übergriffen und Unterdrückung leben könnten.

Tatbestand

Die Klägerin ist irakische Staatsangehörige und yezidischer Volks- sowie Religionszugehörigkeit aus Shekhan.

Im Irak lebte sie zusammen mit ihren Eltern und Geschwistern in einem Haus im Dorf H. in der Provinz Shekhan und besuchte dort die Schule bis zur 5. Klasse. Sie verließ den Irak am XX.XX.2017 im Alter von damals knapp 11 Jahren. Am XX.XX.2018 reiste sie nach Deutschland ein und stellte am XX.XX.2018 einen förmlichen Asylantrag bei der Beklagten. Im Irak leben noch ihre Eltern, ihre Schwester und ihr Bruder sowie mehrere Onkel, Tanten und Cousins.

In ihrer persönlichen Anhörung beim Bundesamt am 14.08.2018 berichtete sie, ihr Vater sei schwer krank und ihre Schwester habe eine Gehbehinderung. In der Schule sei sie wie ihre Mitschüler auch häufig von ihrem Lehrer geschlagen worden. Außerdem hätten fremde Leute oder Polizisten auf der Straße sie und ihre Verwandten oft beschimpft. Ihre Familie habe mehrfach Berichte gehört, dass den Yeziden Angriffe des "IS" drohten. Sie hätten deshalb mehrfach ihr Haus verlassen, hätten sich in den Bergen versteckt und seien dann wieder zurückgekommen. Schließlich hätten sie aber selbst Schüsse in der Nähe gehört und sich entschieden, das Land zu verlassen. Sie sei zusammen mit ihrer ganzen Familie aus dem Irak geflohen. Doch der Schleuser habe sie nicht alle zusammen mitnehmen wollen, sodass sie dann nur gemeinsam mit ihrer 17-jährigen Schwester B. weitergereist sei. Die anderen hätten nachkommen sollen, doch das hätte nicht funktioniert, sondern sie seien nach Shekhan zurückgereist. Sie habe gelegentlich noch Kontakt zu ihren im Irak verbliebenen Eltern und Geschwistern; sie planten nach wie vor, auch nach Deutschland zu kommen.

Ihre ebenfalls informatorisch angehörte Schwester B. ergänzte, sie hätten im Irak oft nichts zu essen gehabt. Das erste Mal hätten sie die Bedrohung durch den "IS" wahrgenommen, als sie in Sindschar gewesen seien, wo ihr Vater, ihre Schwester und ihr Bruder tagsüber auf einer Obstplantage gearbeitet hätten. Ihr Heimatdorf sei später auch noch von einem Anhänger der "IS" ausgekundschaftet worden.

Der damalige Vormund der Klägerin berichtete, dass ihre ältere Schwester B. auf der Flucht mehrfach beinahe von anderen männlichen Geflüchteten vergewaltigt worden sei. Die Klägerin habe das mitbekommen und sei auch von anderen Geflüchteten geschlagen und getreten worden. Zudem seien die beiden in Slowenien oder der Slowakei über 100 Tage lang unter unzureichenden Bedingungen inhaftiert worden.

Die Klägerin legte ein Attest einer Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin vor, wonach sie unter Albträumen und Angstzuständen leidet. Die Medizinerin diagnostizierte eine Posttraumatische Belastungsstörung und riet davon ab, die Klägerin von ihrer älteren Schwester zu trennen.

In ihrer eigenen persönlichen Anhörung am 07.05.2019 berichtete die ältere Schwester der Klägerin, sie habe den Irak verlassen, weil Mädchen und Frauen dort keine Rechte und keine Freiheiten hätten. Ihre Familie sei so arm gewesen, dass sie gehungert hätten, denn ihr Vater sei krank und könne die Familie nicht ernähren. Sie habe zudem Angst gehabt, Opfer einer Entführung oder Vergewaltigung zu werden. Die yezidischen Dörfer seien oft von Terroristen überfallen worden. Ihr Dorf sei zwar nicht überfallen worden, doch einmal seien vier Männer vom "IS" dort gewesen und hätten in die Luft geschossen. Auf der Flucht sei sie in Rumänien vergewaltigt worden. Außerdem habe sie hilflos mitansehen müssen, wie ihre Schwester auf der Flucht geschlagen worden sei. Sie legte ferner ein Dokument aus dem Irak vor, in dem vom Krankenhaus in Shekhan für ihre Schwester eine Gehbehinderung wegen einer Fehlstellung in der Hüfte diagnostiziert wird.

Mit Bescheid vom 19.06.2019, zugestellt am 26.06.2019, lehnte die Beklagte die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Ziffer 1), die Anerkennung als Asylberechtigte (Ziffer 2) und die Zuerkennung subsidiären Schutzes (Ziffer 3) ab und stellte fest, dass ein Abschiebungsverbot im Hinblick auf den Irak besteht (Ziffer 4). Sie begründete die teilweise Ablehnung im Wesentlichen damit, dass durch die Beschimpfungen, die die Familie der Klägerin habe erleiden müssen, nicht die Schwelle für eine Verfolgung überschritten sei. Das Heimatdorf der Klägerin sei nie angegriffen worden und sie sei auch erst zu einem Zeitpunkt ausgereist, als sich die Sicherheitslage in der Region bereits wieder stabilisiert habe und der "IS" zurückgedrängt worden sei. Die Klägerin sei auch nicht selbst Opfer von Übergriffen durch den "IS" oder eine andere Miliz geworden. In der Provinz Ninive bestehe derzeit keine beachtliche Wahrscheinlichkeit, Opfer willkürlicher Gewalt zu werden. Die Annahme des Abschiebungsverbots ergebe sich daraus, dass die Gefahr einer Verletzung des Art. 3 EMRK bei einer Abschiebung in den Irak wegen der individuellen Umstände der Klägerin außergewöhnlich erhöht sei. Die Klägerin sei minderjährig und auf die Hilfe und Unterstützung ihrer Familie angewiesen. Ihre Kernfamilie, die noch im Irak lebe, könne ihre Versorgung nicht gewährleisten. Der Vater der Klägerin leide unter schwerem Asthma und sei nur eingeschränkt in der Lage, die Familie zu versorgen. Zudem sei zu berücksichtigen, dass ihre sich noch im Irak befindende Schwester gehbehindert sei und damit erhebliche Ressourcen der Familie binde.

Die Klägerin hat am 08.07.2019 Klage erhoben.

Sie beantragt,

die Beklagte zu verpflichten, ihr die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, hilfsweise den subsidiären Schutzstatus, und den Bescheid vom 19.06.2019 aufzuheben, soweit er dem entgegensteht.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie bezieht sich zur Begründung auf die angefochtene Entscheidung.

In der mündlichen Verhandlung berichteten die Klägerin und ihre Schwester B., die nunmehr volljährig und der Vormund der Klägerin ist, dass die Klägerin auch deshalb nicht in den Irak zurückkehren könne, weil sie mittlerweile ein durch westliche Werte und Vorstellungen geprägtes, freiheitliches Leben führe. Zudem sei zwischenzeitlich auch die Mutter der beiden Schwestern erkrankt; in einer Operation vor etwa zwei Monaten habe ihr eine Niere entfernt werden müssen. Ihre im Irak verbliebene Schwester benötige wegen ihrer Behinderung Medikamente und spezielle orthopädische Schuhe, welche regelmäßig neu angepasst werden müssten. Auch ihr Vater sei wegen seiner Herzkrankheit vor etwa einem Jahr operiert worden. Weil er nicht mehr arbeiten könne, habe ihr Bruder die Schule abgebrochen und versuche nun zum Familieneinkommen beizutragen. Außerdem schickten ihre Onkel in Deutschland und der Mann ihrer älteren Schwester ihren Eltern gelegentlich Geld in den Irak.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte und die elektronische Asylakte der Beklagten verwiesen. Die Einzelrichterin hat ferner die elektronischen Asylakten der beiden in Deutschland wohnhaften Schwestern der Klägerin zum Verfahren beigezogen.

Entscheidungsgründe

Die Einzelrichterin (§ 76 Abs. 1 AsylG) konnte über die Klage verhandeln und entscheiden, ohne dass die Beklagte an der mündlichen Verhandlung vom 26.01.2023 teilgenommen hat, weil sie ordnungsgemäß geladen und in der Ladung auf diese Folge hingewiesen worden ist (§ 102 Abs. 2 VwGO).

Die zulässige Klage ist begründet. Der Ablehnungsbescheid des Bundesamtes vom 19.06.2019 ist im Hinblick auf die Ablehnung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO).

Der Klägerin steht im hier maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylG) ein Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu.

Ein Ausländer ist Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.

Die Furcht vor Verfolgung ist im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG begründet, wenn dem Ausländer die genannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d. h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ("real risk"), drohen (OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 29.10.2020 - 9 A 1980/17.A -, juris Rn. 32). Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit in diesem Sinne liegt vor, wenn sich die Rückkehr in den Heimatstaat aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen als unzumutbar erweist, weil bei Abwägung aller in Betracht kommenden Umstände die für eine bevorstehende Verfolgung streitenden Tatsachen ein größeres Gewicht besitzen als die dagegen sprechenden Gesichtspunkte (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23/12 -, juris; Urteil vom 05.11.1991 - 9 C 118/90 -, juris).

Hinsichtlich der Bedrohungslage ist für die Klägerin primär auf das Dorf H. in der Provinz Shekhan abzustellen. Dort halten sich die Eltern und Geschwister der Klägerin auf, deswegen ist davon auszugehen, dass sie diesen Ort im Falle einer Rückkehr in den Irak aufsuchen wird. Der Bezirk Shekhan liegt im Nordosten der Provinz Ninive und ist ein umstrittenes Gebiet zwischen der irakischen Regierung und der Autonomen Region Kurdistan-Irak (RKI). Die yezidischen Gemeinschaften fühlen sich besonders zu diesem Gebiet hingezogen, da sich hier ihr heiligster Ort, der Lalish-Tempel, befindet (USAID/MERI, Ninewa Plains and Western Ninewa, Barriers to return and community resilience, 24.04.2020, S. 28). Im Juli 2020 befand sich der größte Teil der Provinz Ninive unter der Kontrolle der irakischen Regierung. Die RKI hatte die Kontrolle über bestimmte Gebiete im Norden inne (European Union Agency for Asylum (EUAA), Country Guidance Iraq, Januar 2021, S. 148).

Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ergibt sich zwar nicht aus der yezidischen Volks- und Religionszugehörigkeit der Klägerin. Die Klägerin hat weder in ihrer persönlichen Anhörung bei der Beklagten noch in der mündlichen Verhandlung Gründe angeführt, die die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung und damit die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen ihres yezidischen Glaubens rechtfertigen könnten. Sie hat insofern keine anlassgeprägte Einzelverfolgung geltend gemacht; insbesondere verneinte sie, dass sie oder ihre Familienmitglieder jemals persönlich in Konflikt mit dem sog. "Islamischen Staat" oder anderen bewaffneten Gruppierungen geraten seien. Auch kann sie sich nicht mit Erfolg auf eine Gruppenverfolgung von Yeziden in der Provinz Ninive oder eine individuelle Verfolgung wegen seiner Zugehörigkeit zur Glaubensgemeinschaft der Yeziden berufen. Die Yeziden waren in ihren traditionellen Siedlungsgebieten des Nordirak seit Sommer 2014 durch den Vormarsch der Terrororganisation "Islamischer Staat" systematischer Verfolgung allein wegen ihres Glaubens ausgesetzt, vor der sie weder hinreichenden Schutz von Seiten des irakischen Staates noch seitens schutzbereiter Organisationen erhielten (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, 12.02.2018). Obwohl der "IS" ein System organisierter Vergewaltigungen, sexueller Sklaverei und Zwangsheirat von yezidischen Frauen und Mädchen und anderen Minderheiten etablierte, wurde kein "IS"-Mitglied wegen dieser spezifischen Verbrechen strafrechtlich verfolgt oder verurteilt (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation. Irak, 22.08.2022, S. 194).

Gegenwärtig liegen jedoch keine belastbaren Anhaltspunkte mehr vor für eine fortdauernde Gruppenverfolgung der Yeziden im Irak. Der "IS" hat seine früheren Herrschaftsgebiete im Irak weitgehend verloren (vgl. Auswärtiges Amt, Berichte über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 18.02.2016, S. 9, und vom 12.02.2018, S. 4). Auf dieser Grundlage hat das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht mit Urteil vom 30.07.2019 (9 LB 133/19, juris) hinsichtlich des Distrikts Sindschar in der Provinz Ninive eine Gruppenverfolgung von Yeziden für nicht beachtlich wahrscheinlich gehalten (auch OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 10.05.2021 - 9 A 1489/20.A -, juris; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 07.12.2021 - A 10 S 2189/21 -, juris). Ebenso hat das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht entschieden, dass eine Gruppenverfolgung von Yeziden im Distrikt Shekhan der Provinz Ninive, aus dem die Klägerin stammt, derzeit nicht mit der notwendigen Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist (Nds. OVG, Urteil vom 22.10.2019 - 9 LB 130/19 -, juris; ebenso OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 22.01.2020 - 9 A 2741/18.A -, juris). Auf die Ausführungen in diesen Urteilen, denen sich die Kammer in ständiger Rechtsprechung angeschlossen hat, nimmt die Einzelrichterin Bezug.

Der Klägerin ist die Flüchtlingseigenschaft jedoch zuzuerkennen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe "verwestlichter", d. h. in ihrer Identität durch westliche Werte und Moralvorstellungen geprägter, Frauen und der ihr wegen dieser Zugehörigkeit drohenden Verfolgungshandlungen.

Nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 AsylG gilt eine Gruppe insbesondere dann als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 4 AsylG kann eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht anknüpft.

Auf Basis dieses rechtlichen Maßstabes bilden irakische Frauen eine bestimmte soziale Gruppe, sofern sie - beispielsweise infolge eines längeren Aufenthalts in Europa - in einem solchen Maße in ihrer Identität westlich geprägt worden sind, dass sie entweder nicht mehr dazu in der Lage wären, bei einer Rückkehr in den Irak ihren Lebensstil den dort erwarteten Verhaltensweisen und Traditionen anzupassen, oder ihnen diese Anpassung infolge des erlangten Grads ihrer westlichen Identitätsprägung nicht mehr zugemutet werden kann (VG Braunschweig, Urteil vom 16.09.2022 - 2 A 434/18 -, n. v.; VG Hannover, Urteil vom 10.05.2022 - 6 A 3221/17 -, n. v.; VG Göttingen, Urteil vom 07.06.2021 - 2 A 44/18 -, juris Rn. 30; VG Stade, Urteil vom 23.07.2019 - 2 A 19/17 -, juris Rn. 41; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 08.06.2017 - 8a K 1971/16.A -, juris Rn. 33; ebenso speziell für alleinstehende, verwestlichte Frauen: VG Berlin, Urteil vom 20.01.2022 - 29 K 107.17 A -, juris Rn. 22; ebenso speziell für irakische Yezidinnen: VG Hannover, Urteil vom 27.10.2022 - 3 A 5642/18 -, juris Rn. 23; abgelehnt für irakische Yezidinnen: VG Hannover, Urteil vom 21.11.2022 - 12 A 1928/18 -, juris Rn. 32). Derart in ihrer Identität westlich geprägte Frauen teilen sowohl einen unveränderbaren gemeinsamen Hintergrund als auch bedeutsame Merkmale im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 AsylG. Sie werden wegen dieser Merkmale von der irakischen Gesellschaft als andersartig betrachtet.

Zwar ist in der irakischen Verfassung die Gleichstellung der Geschlechter festgeschrieben und eine Frauenquote von 25 % im Parlament (Autonome Region Kurdistan-Irak: 30 %) verankert. In politischen Entscheidungsprozessen spielen Frauen jedoch eine untergeordnete Rolle. Nur wenige Frauen nehmen Spitzenpositionen in Politik, Verwaltung und Wirtschaft ein. Auf einfachgesetzlicher Ebene findet die verfassungsrechtlich garantierte Gleichstellung häufig keine Entsprechung. Defizite bestehen insbesondere im Familien-, Erb- und Strafrecht sowie im Staatsangehörigkeitsrecht. Die Stellung der Frau hat sich im Vergleich zur Zeit des Saddam-Regimes teilweise deutlich verschlechtert. Frauen sind im Alltag Diskriminierung ausgesetzt, die ihre gleichberechtigte Teilnahme am politischen, sozialen und wirtschaftlichen Leben im Irak verhindert (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, 28.10.2022, S. 11 f.). Die Bewegungsfreiheit von Frauen wird durch gesetzliche Bestimmungen eingeschränkt. So hindert das Gesetz Frauen beispielsweise daran, ohne die Zustimmung eines männlichen Vormunds oder gesetzlichen Vertreters einen Reisepass zu beantragen, oder ein Dokument zur Feststellung des Personenstands zu erhalten, welches für den Zugang zu Beschäftigung, Bildung und einer Reihe von Sozialdiensten erforderlich ist. Frauen wird überproportional häufig der Zugang zu Bildung und Teilnahme am Arbeitsmarkt verwehrt. Die Jugendarbeitslosigkeit bei Frauen und Mädchen im Alter zwischen 15 und 24 Jahren wird auf etwa 63,3 % geschätzt (Stand 2017). Frauen, die nicht an der irakischen Arbeitswelt teilhaben, sind einem erhöhten Armutsrisiko ausgesetzt, selbst wenn sie in der informellen Wirtschaft mit Arbeiten wie Nähen oder Kunsthandwerk beschäftigt sind (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation. Irak, 22.08.2022, S. 191).

Als Frau allein zu leben, wird im Irak nicht allgemein akzeptiert, da es als unangemessenes Verhalten gilt. Alleinlebende Frauen sind häufig mit einer negativen Einstellung der Gesellschaft konfrontiert und sind einem besonders hohen Risiko von Gewalt ausgesetzt (EUAA, Country Guidance: Iraq, 29.06.2022, S. 141). In den Familien wiederum sind patriarchalische Strukturen und sog. "Ehrenmorde" weit verbreitet. 2015 haben Regierung und Parlament der RKI in Abänderung des irakischen Strafrechts den "Ehrenmord" anderen Morden strafrechtlich gleichgestellt. In der Autonomen Region Kurdistan-Irak sprechen sich somit sowohl Politik als auch Rechtslage ausdrücklich gegen "Ehrenmorde" aus. In einigen gesellschaftlichen Gruppen gilt der "Ehrenmord" allerdings immer noch als rechtfertigbar (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, 28.10.2022, S. 12). Während sexuelle Übergriffe, wie z. B. Vergewaltigung, sowohl gegen Frauen als auch gegen Männer strafbar sind, sieht Art. 398 des irakischen Strafgesetzbuches vor, dass Anklagen aufgrund von Vergewaltigung fallen gelassen werden können, wenn der Angreifer das Opfer heiratet. Dies gilt sowohl im Irak als auch in der Autonomen Region Kurdistan-Irak. Eine Bestimmung verhindert hierbei eine Scheidung innerhalb der ersten drei Ehejahre. Dies trifft auch zu, wenn das Opfer minderjährig ist. Vergewaltigung innerhalb der Ehe stellt keine Straftat dar. Die Bemühungen irakischer Frauenrechtsorganisationen, das Parlament zur Verabschiedung eines Gesetzes zum Verbot geschlechtsspezifischer Gewalt zu bewegen, blieben bisher erfolglos (BFA, a. a. O., S. 193). 2020 wurden 30 Fälle von 193 konfliktbezogener sexueller Gewalt durch bewaffnete Akteure, hauptsächlich gegen Frauen verzeichnet. In der RKI ist die Zahl der Frauenmorde gestiegen. In den ersten beiden Monaten des Jahres 2022 wurden in der RKI elf Frauen getötet, die meisten von ihnen durch Schüsse. 2021 waren es 45 Frauen, 2020 waren es 25 Frauen (BFA, a. a. O., S. 193 f.).

Sowohl Männer als auch Frauen stehen im Irak unter Druck, sich an konservative Normen zu halten, was das persönliche Erscheinungsbild betrifft. Personen, die als nicht konform mit den lokalen sozialen und kulturellen Normen angesehen werden, weil sie ein "westliches" Verhalten an den Tag legen, sind Drohungen und Angriffen von Einzelpersonen aus der Gesellschaft sowie von Milizen ausgesetzt. Volksmobilisierungskräfte (PMF) haben es auf Personen abgesehen, die Anzeichen für eine Abweichung von ihrer Auslegung der schiitischen Normen zeigen, manchmal mit Unterstützung der schiitischen Gemeinschaft. Einige Muslime bedrohen weiterhin Frauen und Mädchen, unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit, wenn sich diese weigern, Kopftuch zu tragen, bzw. wenn sie sich in westlicher Kleidung kleiden oder sich nicht an strenge Interpretationen islamischer Normen für das Verhalten in der Öffentlichkeit halten (European Union Agency for Asylum (EUAA), Country Guidance: Iraq, 29.06.2022, S. 112). Für Frauen außerhalb des Hauses zu arbeiten wird in weiten Teilen der Gesellschaft als inakzeptabel angesehen. Berufe wie die Arbeit in Geschäften, Restaurants oder in den Medien werden als etwas Schändliches angesehen. Gleiches gilt für die Teilnahme an lokaler und nationaler Politik. So wurden weibliche Aktivisten, die an politischen Protesten teilnahmen, in Gegenkampagnen als promiskuitiv verunglimpft (BFA, a. a. O., S. 205 f.). Die International Crisis Group stellte Anfang 2020 während der Tishreen-Proteste fest, dass derartige Verleumdungskampagnen Familien davon abhielten, ihren Töchtern die Teilnahme an den Protesten zu erlauben (EUAA, Iraq: Targeting of Individuals, Januar 2022, S. 74). Im Zuge des Frauenmarsches am 13.02.2020 gegen die Forderungen des schiitischen Religionsführers Muqtada as-Sadr für eine Geschlechtertrennung auf öffentlichen Plätzen wurden weibliche Demonstranten mit Tränengas angegriffen, bedroht, attackiert, entführt und in einigen Fällen getötet (BFA, a. a. O., S. 205 f.).

Aktuell vollzieht sich in der Autonomen Region Kurdistan-Irak ein kultureller Wandel. Frauen und Mädchen sind sich ihrer bürgerlichen Rechte und Freiheiten zunehmend bewusst und mehr Frauen als je zuvor nehmen am Arbeitsleben teil. Dennoch nimmt die geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen weiter zu und wird begünstigt durch gesellschaftliche Faktoren wie etwa Hassreden gegen Frauen in den sozialen Netzwerken, welche in der RKI zur Normalität geworden sind. Wenn Nachrichtenplattformen über "Ehrenmorde" berichten, lobt eine beträchtliche Anzahl von Menschen die Täter und rechtfertigt die Tat. Das Bildungssystem der RKI kann nicht Schritt halten mit der Schnelligkeit der Veränderungen, die die sozialen Medien ermöglichen (Ruwayda Mustafah, Washington Institute, 28.03.2022, https://www.washingtoninstitute.org/policy-analysis/addressing-violence-against-women-iraqi-kurdistan). Der Hohe Rat für Frauenangelegenheiten der RKI und die Generaldirektion für die Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen (DCVAW) erklärten, dass die Online-Belästigung von Mädchen und Frauen stark zugenommen habe. Nach Angaben der DCVAW gehen 75 Prozent der Fälle von geschlechtsspezifischer Gewalt auf soziale Netzwerke zurück (U. S. Department of State (USDOS), Iraq 2021 Human Rights Report, 12.04.2022, S. 48).

Auf Grundlage dieser Erkenntnisse ist anzunehmen, dass auch der minderjährigen Klägerin im Irak Verfolgung von Seiten der Volksmobilisierungskräfte oder sonstiger männlicher Einzelpersonen sowohl aus der yezidischen als auch aus der muslimischen Gemeinschaft und somit durch nichtstaatliche Akteure gemäß § 3c Nr. 3 AsylG droht. Die Einzelrichterin ist nach eingehender Befragung der Klägerin und ihrer älteren Schwester in der mündlichen Verhandlung - wobei beide fehlerfreies Deutsch sprachen - überzeugt davon, dass die Klägerin westliche Werte wie die freie Entfaltung der Persönlichkeit, die Toleranz der Individualität aller Menschen, den Schutz von Minderheiten, die Gleichberechtigung der Geschlechter sowie die gesellschaftliche Teilhabe durch freie Meinungsäußerung in der Öffentlichkeit in einem Maße verinnerlicht hat, welches es ihr, wenn nicht unmöglich, dann jedenfalls unzumutbar macht, in die Provinz Shekhan zurückzukehren und sich dort den Wertvorstellungen der noch immer patriarchal geprägten Mehrheitsgesellschaft anzupassen. Es kann nicht von ihr verlangt werden, eine untergeordnete Rolle als Frau widerstandslos zu akzeptieren, weil sie hierfür den wesentlichen Kerngehalt ihrer Persönlichkeit aufgeben müsste.

Im Rahmen einer Gefährdungsprognose für Frauen, welche nach einem längeren Aufenthalt im europäischen Ausland in den Irak zurückkehren sollen, ist eine Einzelfallprüfung vorzunehmen. In deren Zentrum steht die Frage, ob eine an westlichen Wertmaßstäben orientierte Lebensweise für die Identität oder das Gewissen der Geflüchteten grundlegend ist. Kein geeigneter Maßstab ist hingegen, inwiefern sich die jeweiligen Frauen rein optisch europäischen Frauen angepasst haben (anders aber: VG Hannover, Urteil vom 27.10.2022 - 3 A 5642/18 -, juris Rn. 40; VG Hannover, Urteil vom 10.05.2022 - 6 A 3221/17 -, n. v.; VG Berlin, Urteil vom 20.01.2022 - 29 K 107.17 A -, juris Rn. 25). Der Verzicht auf das Kopftuch, der Gebrauch von Make-up, das Tragen freizügiger Kleidung oder einer modischen Frisur können Ausdruck einer freiheitlich geprägten Persönlichkeit sein, müssen es aber nicht. Ebenso können Musliminnen das bewusste Tragen des Kopftuchs als persönlichen Ausdruck ihres Glaubens oder Frauen den Verzicht auf Schminke und körperbetonte Kleidung als einen Akt der Selbstermächtigung zur Abgrenzung von stereotypen Rollenbildern verstehen. Von Belang für die Beurteilung der "Verwestlichung" einer Frau spielt somit nur die Frage, ob das von ihr gewählte Erscheinungsbild Ausdruck einer selbstbestimmten Entscheidung ist oder lediglich der Anpassung an gesellschaftliche oder familiäre Erwartungen dient.

Die Klägerin gab hierzu auf Nachfrage an, dass sie sich durchaus Gedanken mache, wie ihre Kleidung auf andere wirke, dass Selbstbewusstsein aus ihrer Sicht aber von innen kommen müsse und nicht durch die richtige Kleidung erzeugt werden sollte. Das spricht dafür, dass die Klägerin bemüht ist, sich von Äußerlichkeiten nicht blenden zu lassen. Dementsprechend gaben sowohl die Klägerin als auch ihre Schwester an, dass die sexuelle Orientierung einer Person für sie nicht wichtig sei, ebenso wenig wie Religion oder Nationalität. Dies ist aus Sicht der Einzelrichterin keine bloße Behauptung oder ein rein theoretischer Anspruch, sondern findet Ausdruck in der Lebensführung der Klägerin, die mit einem Christen deutsch-polnischer Nationalität zusammen und gut mit einem homosexuellen Jungen befreundet ist. Trotz ihres jugendlichen Alters wirkte die Klägerin bereits sehr entschieden in ihren Überzeugungen und ist in Deutschland etwa Vegetarierin geworden, obwohl die meisten Menschen im Irak das Wort "vegan" nicht einmal kennen und es dort kaum pflanzenbasierte Produkte im Angebot gibt (Olivia Rafferty, The Vegan Review, 16.11.2020, https://theveganreview.com/world-vegan-month-being-plant-based-in-iraq/). Wenn die Einzelrichterin versuchte, die Ansichten der Klägerin infrage zu stellen, ließ sie sich davon nicht verunsichern, sondern argumentierte selbstsicher dagegen an.

Es war deutlich erkennbar, dass es für die Klägerin von großer Bedeutung ist, ihre Meinung offen zu vertreten und zu behaupten. Sie bekräftigte, die Hauptsache für sie im Leben sei, dass jeder so leben könne, wie er wolle, ohne unterdrückt zu werden. Sie befürwortet eine Durchsetzung ihrer Interessen mit demokratischen Mitteln wie Wahlen oder Demonstrationen. Dass für die Klägerin rechtsstaatliche Garantien und der Schutz von Schwächeren zentrale Werte sind, zeigt sich auch in ihrem Berufswunsch, Polizistin zu werden, um anderen Menschen helfen zu können. Dadurch, dass sie die persönlichkeitsprägenden Jahre ihrer Jugend in Deutschland verbracht hat, hat die Klägerin zudem einen Alltag verinnerlicht, in dem der natürliche Umgang von Jungen und Mädchen gleich welcher Herkunft und eine ungezwungene Freizeitgestaltung für sie Selbstverständlichkeiten sind. Die Schwierigkeiten, sich als Yezidin in die muslimisch geprägte irakische Gesellschaft einzufügen hat sie anders als ihre ältere Schwester nie kennen gelernt. Diese berichtete, dass sie wegen ihres Verzichts auf das Tragen eines Kopftuchs an der weiterführenden Schule in Shekhan häufig Vorhaltungen ihrer muslimischen Lehrer und Mitschülerinnen sowie im öffentlichen Raum Anfeindungen fremder Menschen ausgesetzt gewesen sei.

Die Klägerin würde nach Überzeugung der Einzelrichterin erhebliche Probleme haben, sich der irakischen Mehrheitsgesellschaft anzupassen und nicht durch ihr Auftreten und ihre Ansichten permanent aufzufallen. Als Yezidin gehört sie im Irak ohnehin schon einer Minderheit an, die nach wie vor Diskriminierungen ausgesetzt ist und unter verstärkter Beobachtung steht. Dass die Klägerin weder Arabisch noch Kurdisch lesen und schreiben kann, würde es ihr ebenfalls erschweren, sich im Irak zurechtzufinden. Die patriarchal geprägte irakische Gesellschaft erwartet von Frauen typischerweise ein zurückgenommenes Verhalten und viele Männer reagieren aggressiv darauf, wenn Frauen sich in der Öffentlichkeit mit ihrer Meinung hervortun. Hinzu kommt, dass die Klägerin, wenn sie sich offen für Tierschutz und die Rechte von LGBT*-Personen ausspricht, selbst für irakische Frauen untypische Positionen vertritt und dabei auf wenig Toleranz und Verständnis hoffen kann. Insbesondere LGBT*-Aktivisten sind regelmäßig Opfer von Drohungen und Angriffen bis hin zu Morden durch nichtstaatliche Akteure, die nur sehr selten aufgeklärt oder bestraft werden (BAMF, Briefing Notes, 11.07.2022, S. 5). Weil die Klägerin noch so jung ist, kann nicht sicher prognostiziert werden, welchen Lebensweg sie einschlagen würde, doch sämtliche ihrer Vorstellungen entsprechen nicht dem traditionellen Rollenbild und ihr Drang dazu, ihre Meinung gegen Widerstände zu verteidigen, stellt eine große Gefahr dar, wenn ihr Gegenüber ein gewaltbereiter Mann ist, deren Machtposition sie damit infrage stellt. In dem Fall hat sie vielmehr mit Verfolgungshandlungen in Form der Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt gem. § 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG zu rechnen.

Ausreichender staatlicher Schutz bzw. interner Schutz vor Verfolgung durch staatliche oder nichtstaatliche Akteure (vgl. §§ 3d, 3e AsylG) steht der Klägerin nicht zur Verfügung. Das beschriebene Verhalten gegenüber westlich orientierten Frauen ist in sämtlichen Provinzen des Irak - lediglich in unterschiedlichem Ausmaß der hieraus folgenden traditionellen Richtsätze und Gepflogenheiten - fest in der irakischen, männlich dominierten Gesellschaft verankert, sodass der Klägerin die vorbeschriebenen Gefahren landesweit drohen. Dabei ist festzustellen, dass der irakische Staat trotz der generellen Zielsetzungen in der Verfassung bislang weder im einfachen Recht noch in der Praxis effektive Maßnahmen zum Schutz von Frauen ergriffen hat.

Auch dass die Eltern der Klägerin tolerante Menschen sind, die ihr und ihren Geschwistern viele Freiheiten lassen, kann die Gefahr von Verfolgungshandlungen nicht ausräumen. Sowohl die Mutter als auch der Vater der Klägerin sind schwer krank und nicht in der Lage, die Klägerin etwa vor Milizen zu beschützen, die sich durch ihre selbstbewusste Art provoziert fühlen. Ihr Vater wurde nach dem Bericht der Klägerin und ihrer Schwester selbst schon von muslimischen jungen Männern verprügelt, nachdem er versucht hatte, mit einer Tätigkeit in einer Bar, in der auch Alkohol ausgeschenkt wurde, Geld für seine Familie zu verdienen. Zudem gehört zu der westlichen Prägung der Klägerin mitbestimmend auch gerade der Anspruch, die eigene Lebensführung autonom und eben nicht (nur) unter dem Schutz anderer Familienmitglieder gestalten zu können. Einer solchen autonomen Lebensführung würde es gerade widersprechen, wenn die Klägerin zur Vermeidung einer flüchtlingsrelevanten Verfolgung gleichwohl etwa darauf verwiesen würde, sich nur in Begleitung schutzfähiger und -bereiter (männlicher) Familienmitglieder in der Öffentlichkeit zu bewegen (ebenso VG Hannover, Urteil vom 27.10.2022 - 3 A 5642/18 -, juris Rn. 44).

Auch innerhalb der yezidischen Gemeinschaft kann die Klägerin nicht unbedingt mit Schutz und Unterstützung rechnen, denn diese hat strenge Regeln und ist traditionell patriarchal geprägt. Obwohl einige irakische Yezidinnen durch den Völkermord des "IS" zu einer neuen Rolle gefunden und an Macht gewonnen haben, so etwa die Aktivistin und Friedensnobelpreisträgerin Nadia Murad, bleiben Frauen in der yezidischen Kultur benachteiligt, was sich etwa darin zeigt, dass viele Überlebende sexueller Sklaverei durch den "IS" in ihren Gemeinschaften nach wie vor ausgegrenzt und teilweise gezwungen werden, ihre mit "IS"-Kämpfern gezeugten Kinder zu verleugnen (Tutku Ayhan/ Günes Murat Tezcür, The Conversation, 26.11.2019, https://theconversation.com/5-years-after-islamic-state-massacre-an-iraqi-minority-is-transformed-by-trauma-126917; EUAA, Country Guidance: Iraq, 29.06.2022, S. 121). Begrüßenswerte, aber noch immer vereinzelte emanzipatorische Bestrebungen und Errungenschaften innerhalb der yezidischen Gemeinschaft rechtfertigen noch nicht den Schluss, dass in ihrer Persönlichkeit westlich geprägte Yezidinnen heute im Irak frei leben könnten, ohne Übergriffe befürchten zu müssen (so aber VG Hannover, Urteil vom 21.11.2022 - 12 A 1928/18 -, juris Rn. 32-34).

Über den Hilfsantrag auf Zuerkennung subsidiären Schutzes war nicht mehr zu entscheiden. Infolge der rechtswidrigen Ablehnung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist die Ablehnung der Zuerkennung subsidiären Schutzes in dem angefochtenen Bescheid unter Ziffer 3) gegenstandslos und daher aufzuheben.