Verwaltungsgericht Braunschweig
Urt. v. 19.01.2024, Az.: 2 A 255/20

Abschiebungsverbot; Flüchtlingscamp; Jesiden; Obdachlosigkeit; Shingal; Sindschar; Verelendung; Vertriebenenlager; Yeziden; Abschiebungsverbot für yezidisches Ehepaar aus Sindschar

Bibliographie

Gericht
VG Braunschweig
Datum
19.01.2024
Aktenzeichen
2 A 255/20
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2024, 10457
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGBRAUN:2024:0119.2A255.20.00

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Obwohl Ressentiments gegen Yeziden und auch die Zahl der Anschläge durch den "IS" im Irak im Jahr 2023 wieder zunahmen, droht Yeziden im Irak derzeit (noch) keine Gruppenverfolgung allein aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit.

  2. 2.

    Unter erschwerenden Umständen - hier die notwendige Versorgung vier minderjähriger Kinder, fehlende Schul- und berufliche Bildung der Eltern und das Fehlen einer sicheren Unterkunft - kann Yeziden aus dem Irak ein Abschiebungsverbot wegen drohender Verelendung zuzuerkennen sein. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die irakische Regierung bis Ende Juli 2024 alle Vertriebenenlager in Kurdistan-Irak schließen will und Ende 2023 auch bereits zwei Flüchtlingslager in der Provinz Sulaimanya geschlossen hat.

Tatbestand

Die Kläger begehren von der Beklagten die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus und die Feststellung von Abschiebungsverboten.

Sie sind irakische Staatsangehörige, kurdischer Volkszugehörigkeit und yezidischen Glaubens aus der Region Sindschar in der Provinz Ninive. Die Kläger sind miteinander verheiratet.

Am 15.02.2020 reisten sie mit einem Visum zur Familienzusammenführung mit ihrem damals 14 Jahre alten Sohn G. nach Deutschland ein. Sie stellten am 21.02.2020 einen förmlichen Asylantrag bei der Beklagten. In Deutschland leben neben dem Sohn der Kläger noch eine Schwester des Klägers zu 1) sowie drei Brüder und drei Schwestern der Klägerin zu 2). Im Irak leben noch die volljährigen Töchter sowie die weiteren minderjährigen Kinder der Kläger.

Die persönliche Anhörung der Kläger bei der Beklagten erfolgte am 14.07.2020.

Der Kläger zu 1) berichtete, bis zum 03.08.2014 habe er mit seiner Familie im Dorf H. im Kreis Sinun in Sindschar gelebt. Er habe keine Schule besucht und sei Analphabet. Er habe als Gelegenheitsarbeiter, vorwiegend im Baubereich, gearbeitet. Eine feste Anstellung habe er nie gehabt und auch gegenüber Arbeitgebern nicht sagen dürfen, dass er Yezide sei. Sein Arbeitslohn habe nicht gereicht, um die Familie zu ernähren, sondern er habe von anderen Menschen unterstützt werden müssen. In der Wohnung, in der er mit seiner Familie gelebt habe, sei er zudem nicht offiziell registriert gewesen. Nach den Angriffen des sog. "Islamischen Staates" seien sie zunächst nach Syrien geflohen und anschließend nach Kurdistan-Irak. Er selbst sei nicht in Kontakt mit Milizen des "IS" gekommen. Einer seiner Brüder sei allerdings vom "IS" getötet worden.

In Kurdistan habe er mit seiner Ehefrau und seinen Kindern in einem Flüchtlingslager in Sharya (auch: Shariya) in Dohuk in einem Zelt gelebt. Aus seinem Heimatdorf habe er lange nichts mehr gehört. Weil nur seine Frau und er ein Visum zur Einreise nach Deutschland erhalten hätten, hätten sie ihre Kinder im Irak zurücklassen müssen. Ihre älteste Tochter müsse sich nunmehr allein um ihre jüngeren Geschwister kümmern. Im Irak lebten im Übrigen noch eine Schwester und ein Bruder von ihm. Seine Verwandten im Irak lebten in Zelten, hätten keine Arbeit und seien sämtlich von der Unterstützung durch Hilfsorganisationen abhängig. Im Irak habe er Angst um sein Leben. Er rechne damit, dass es wieder zu einem Genozid an den Yeziden kommen werde. Außerdem würden die Yeziden auch heute von den Muslimen unterdrückt. Sie würden als Ungläubige beleidigt und erhielten keine Arbeitsstellen.

Die Klägerin zu 2) bestätigte, dass die Wohnung, in der sie vor dem Einmarsch des "IS" mit ihrem Mann und den Kindern gelebt habe, nicht offiziell eingetragen gewesen sei. Auch sie gab an, Analphabetin zu sein. Sie sei Hausfrau gewesen. Im Flüchtlingslager hätten sie und ihre Angehörigen tagelang unter Hunger und Durst gelitten.

Mit Bescheid vom 12.08.2020 lehnte die Beklagte für beide Kläger die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Ziffer 1), die Anträge auf Asylanerkennung (Ziffer 2) und die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus (Ziffer 3) ab, stellte das Fehlen von Abschiebungsverboten fest (Ziffer 4), drohte die Abschiebung in den Irak an (Ziffer 5) und befristete das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate (Ziffer 6). Sie begründete die Ablehnung im Wesentlichen damit, dass im Irak derzeit keine Gruppenverfolgung von Yeziden stattfinde. Die Zuerkennung von Familienasyl sei nicht möglich, weil der Sohn der Kläger selbst nur abgeleiteten Schutz von seinem Onkel erhalten habe. Den Klägern drohe bei einer Rückkehr in den Irak auch kein ernsthafter Schaden. Zwar bestehe u. a. in der Provinz Ninive noch ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, doch dieser habe keinen Gefährdungsgrad erreicht, aufgrund dessen für Zivilpersonen eine erhebliche individuelle Gefahr allein auf Grund der Rückkehr in das Herkunftsgebiet und dortigem Aufenthalt gerechtfertigt wäre. Individuelle, gefahrerhöhende Aspekte lägen für die Kläger nicht vor. Auch werde es ihnen bei einer Rückkehr in den Irak möglich sein, ihren Lebensunterhalt zumindest so weit zu sichern, dass sie einen unmenschlichen oder erniedrigenden Zustand vermeiden könnten. Der Familie sei es auch vor der Ausreise aus dem Irak bereits gelungen, ihren Lebensunterhalt gemeinsam zu sichern und die Kinder der Kläger würden in dem Flüchtlingscamp ausreichend versorgt. Es sei nicht anzunehmen, dass die Kläger ihre Kinder dort zurückgelassen hätten, wenn dem nicht so wäre. Ferner könnten die Verwandten der Kläger sie von Deutschland aus unterstützen.

Die Kläger haben am 20.08.2020 Klage erhoben.

Sie halten den angefochtenen Bescheid für rechtswidrig und argumentieren, dass ihnen Abschiebungsverbote zuzuerkennen seien, weil es ihnen nicht möglich sei, im Irak für sich und ihre Kinder eine Existenzgrundlage zu erwirtschaften. Ihre Kinder hätten sie nach der Ausreise bei Bekannten, die nicht zur Familie gehörten, untergebracht, nachdem ihre älteste Tochter geheiratet habe. Ohne finanzielle Unterstützung könnten die Kinder nicht bei den Bekannten bleiben. Auch die Verwandten der Kläger in Deutschland könnten sie bei einer Rückkehr nicht ausreichend unterstützen.

Die Kläger beantragen,

die Beklagte zu verpflichten, ihnen die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, hilfsweise den subsidiären Schutzstatus, weiter hilfsweise, festzustellen, dass Abschiebungsverbote gem. § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG im Hinblick auf den Irak bestehen, und den Bescheid vom 12.08.2020 aufzuheben, sofern er dem entgegensteht.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie bezieht sich zur Begründung auf die angefochtene Entscheidung.

In der mündlichen Verhandlung berichteten die Kläger, dass ihre beiden volljährigen Töchter im Irak mittlerweile verheiratet seien und bei den Familien ihrer Ehemänner lebten. Sie hätten jedoch noch vier weitere Kinder, zwei Töchter im Alter von 16 und 15 Jahren und zwei Söhne im Alter von 14 und 13 Jahren. Diese lebten seit dem Jahr 2021 nicht mehr in dem Camp, sondern seien zurück in das Heimatdorf der Kläger gegangen und dort in dem leerstehenden Haus eines Bekannten untergekommen. Die Kläger gingen als Reinigungskräfte arbeiten, um ihnen Geld schicken zu können, und die Nachbarn kümmerten sich gelegentlich um die Kinder.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und die elektronische Asylakte der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die Einzelrichterin (§ 76 Abs. 1 AsylG) konnte über die Klage verhandeln und entscheiden, ohne dass die Beklagte an der mündlichen Verhandlung vom 19.01.2024 teilgenommen hat, weil sie ordnungsgemäß geladen und in der Ladung auf diese Folge hingewiesen worden ist (§ 102 Abs. 2 VwGO).

Die Klage ist zulässig und im tenorierten Umfang begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 12.08.2020 ist rechtswidrig, sofern die Beklagte darin das Fehlen von Abschiebungsverboten im Hinblick auf den Irak feststellt, § 113 Abs. 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO. Im Übrigen ist der Bescheid rechtmäßig.

Den Klägern steht im hier maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylG) kein Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu.

Ein Ausländer ist Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Die Furcht vor Verfolgung ist im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG begründet, wenn dem Ausländer die genannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d. h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ("real risk"), drohen (OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 29.10.2020 - 9 A 1980/17.A -, juris Rn. 32). Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit in diesem Sinne liegt vor, wenn sich die Rückkehr in den Heimatstaat aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen als unzumutbar erweist, weil bei Abwägung aller in Betracht kommenden Umstände die für eine bevorstehende Verfolgung streitenden Tatsachen ein größeres Gewicht besitzen als die dagegen sprechenden Gesichtspunkte (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23/12 -, juris; Urteil vom 05.11.1991 - 9 C 118/90 -, juris).

Im Rahmen einer realitätsnahen Rückkehrprognose ist davon auszugehen, dass die Kläger sich im Falle einer Rückführung in den Irak in ihr Heimatdorf H. im Kreis Sinun in Sindschar in der Provinz Ninive begeben werden. Zwar ist mehr als 60 % der ursprünglichen yezidischen Bevölkerung bisher nicht in das Gebiet zurückgekehrt, doch die Kläger zeigten sich in der mündlichen Verhandlung voller Sorge um ihre vier minderjährigen Kinder, sodass kein Zweifel daran besteht, dass sie bei einer Rückkehr in den Irak wieder die Verantwortung für diese übernehmen wollen würden.

Den Klägern droht im Irak und insbesondere in ihrem Heimatdorf in Sindschar nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung i. S. d. § 3a AsylG wegen ihrer yezidischen Religionszugehörigkeit. Die Kläger haben weder in ihrer persönlichen Anhörung bei der Beklagten noch im gerichtlichen Verfahren Gründe angeführt, die die beachtliche Wahrscheinlichkeit begründen, dass ihnen im Irak etwa die Anwendung physischer Gewalt von der für die Annahme einer Verfolgungshandlung notwendigen Schwere droht. Sie haben insofern keine anlassgeprägte Einzelverfolgung geltend gemacht; insbesondere berichteten sie nichts davon, dass sie oder ihre Kinder jemals persönlich in Konflikt mit dem sog. "Islamischen Staat" oder anderen bewaffneten Gruppierungen geraten seien.

Auch können die Kläger sich nicht mit Erfolg auf eine Gruppenverfolgung von Yeziden in der Provinz Ninive oder eine individuelle Verfolgung wegen ihrer Zugehörigkeit zur Glaubensgemeinschaft der Yeziden berufen. Die Yeziden waren in ihren traditionellen Siedlungsgebieten des Nordirak seit Sommer 2014 durch den Vormarsch der Terrororganisation "Islamischer Staat" systematischer Verfolgung allein wegen ihres Glaubens ausgesetzt, vor der sie weder hinreichenden Schutz von Seiten des irakischen Staates noch seitens schutzbereiter Organisationen erhielten. Im Rahmen der gezielten Verfolgung von yezidischen Glaubenszugehörigen durch den sog. "Islamischen Staat" wurden zwischen 30.000 und 40.000 Yeziden aus ihrem Stammland um Sindschar vertrieben. Tausende Yeziden wurden im Rahmen des Vormarsches des "Islamischen Staates" in ihren Dörfern in der Provinz Ninive getötet oder gefangengenommen. Es kam zu Zwangskonversion, Massenvertreibungen und -hinrichtungen sowie Verschleppungen und sexueller Gewalt, insbesondere gegen Frauen und Kinder (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, 12.02.2018). Der Deutsche Bundestag hat am 19.01.2023 die Verbrechen des "Islamischen Staates" an den Yeziden als Völkermord anerkannt (Antrag s. BT-Drs. 20/5850).

Gegenwärtig liegen jedoch keine belastbaren Anhaltspunkte mehr vor für eine fortdauernde Gruppenverfolgung der Yeziden im Irak. Die Machtverhältnisse im Irak haben sich inzwischen maßgeblich verändert. Der "IS" hat seine früheren Herrschaftsgebiete im Irak weitgehend verloren. Die von ihm kontrollierten Gebiete wurden nach und nach durch irakische Sicherheitskräfte und kurdische Peschmerga befreit (vgl. Auswärtiges Amt, Berichte über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 18.02.2016, S. 9, und vom 12.02.2018, S. 4). Allerdings ist der "IS" im Verborgenen weiterhin aktiv, insbesondere in den Gegenden um Kirkuk, Mosul, Tal Afar und in der Provinz Diyala. Er hat einen Strategiewechsel vorgenommen und betreibt nunmehr eine asymmetrische Kriegsführung in Form von Anschlägen aus dem Untergrund (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, 28.10.2022, S. 14). Als Reaktion auf die steigende Zahl der vom "IS" verübten Anschläge wurden Militäraktionen durchgeführt, die die Miliz unter Druck setzten und zur Festnahme prominenter Anführer führten. Die Zahl der Anschläge blieb seither relativ niedrig. Die Terrormiliz griff dabei regelmäßig gezielt Mitglieder der Sicherheitskräfte, Zivilisten sowie lokale Führer und Scheichs an, wobei sie sich vor allem auf improvisierte Sprengsätze und Kleinfeuerwaffen stützte (EUAA, Country Guidance: Iraq, 20.06.2022, S. 210 ff.).

Es ist daher anzunehmen, dass es von Seiten der aktiven wie auch der in der Bevölkerung untergetauchten "IS"-Kämpfer noch zu Menschenrechtsverletzungen gegen einzelne Personen kommen kann. Terroristische Anschläge können in der Regel jedoch nicht als gezielte Verfolgungsmaßnahmen aufgrund der Religionszugehörigkeit der Opfer aufgefasst werden, sondern stellen eine allgemeine Gefahr für die Bevölkerung dar. Auf dieser Grundlage hat das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht mit Urteil vom 30.07.2019 (9 LB 133/19, juris) hinsichtlich der Region Sindschar in der Provinz Ninive eine Gruppenverfolgung von Yeziden für nicht beachtlich wahrscheinlich gehalten (auch VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 12.07.2023 - A 10 S 400/23 -, juris Rn. 30; für die gesamte Provinz Ninive: OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 05.09.2023 - 9 A 1249/20.A -, juris Rn. 44 ff., jeweils m. w. N.).

Den Ausführungen in diesen Urteilen schließt sich die Einzelrichterin an. Aktuellen Medienberichten ist zwar zu entnehmen, dass die Ressentiments gegen Yeziden im Irak wieder zunehmen. Im April 2023 wurden Yeziden zur Zielscheibe einer Kampagne von Hassreden und falschen Anschuldigungen in den sozialen Medien, nachdem yezidische Demonstranten fälschlicherweise beschuldigt wurden, eine Moschee in Sindschar niedergebrannt zu haben. In Tausenden von Beiträgen in den sozialen Medien wurde zu Gewalt gegen Yeziden aufgerufen und sie wurden als Ungläubige und "Teufelsanbeter" bezeichnet (Shivan Fazil, Middle East Institute, 05.07.2023, https://www.mei.edu/publications/addressing-challenges-tolerance-and-religious-diversity-iraq). Muslimische Extremisten diskutierten Angriffe auf Flüchtlingscamps und drohten mit einem neuen Völkermord (Berliner Morgenpost, Junge Jesiden im Irak: Es bleibt nur das Elend - oder Europa, 03.08.2023, https://www.morgenpost.de/politik/article239088167/jesiden-irak-terror-islamischer-staat-shingal.html). Darüber hinaus stieg die Zahl der Anschläge durch den "IS" Anfang 2023 wieder an, da die Terrorgruppe Sicherheitslücken ausnutzte und begann, verlorene Kampfkapazitäten wiederaufzubauen. Dutzende von irakischen Sicherheitskräften wurden bei den Angriffen getötet (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) Österreich, Country of Origin Information. Iraq Country Report, 16.01.2024, S. 23). Auch im angrenzenden Syrien erstarkt der "IS" derzeit wieder, weil er von Spannungen zwischen Russland sowie der syrischen Regierung auf der einen und den USA auf der anderen Seite profitiert (Tagesspiegel, 13.08.2023, https://www.tagesspiegel.de/internationales/offensive-in-syrien-der-islamische-staat-schlagt-wieder-zu-10303861.html).

Diese Entwicklung ist weiterhin genau zu beobachten, doch die bisherigen Anhaltspunkte genügen noch nicht, um die Überzeugung zu gewinnen, dass einer yezidischen Person im Irak derzeit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung allein aufgrund ihrer yezidischen Religionszugehörigkeit droht. Individuelle gefahrerhöhende Umstände, welche eine Verfolgung der Kläger wahrscheinlicher machen als die Verfolgung anderer Yeziden, etwa wegen kritischer, öffentlicher Äußerungen über Regierung oder Milizen oder einer öffentlichkeitswirksamen Tätigkeit, liegen nicht vor.

Auch haben die Kläger keinen Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 AsylG.

Nach dieser Vorschrift ist subsidiärer Schutz zuzuerkennen, wenn der Ausländer stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden in Gestalt der Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit als Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3) droht. Bei der Prüfung des subsidiären Schutzes ebenfalls ist der Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen.

Aus den oben ausgeführten Gründen droht den Klägern in Sindschar insbesondere keine Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung. Es ist ebenfalls nicht beachtlich wahrscheinlich, dass den Klägern bei einer Rückkehr in die Provinz Ninive eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts bevorsteht.

Seit dem territorialen Sieg über den "IS" im Jahr 2017 führt die Terrormiliz einen Guerillakrieg auf niedrigem Niveau und nutzt die Provinz Ninive als logistisches Zentrum. Die örtliche Polizei ist für die Aufrechterhaltung der Sicherheit innerhalb des Bezirks zuständig, während die Bundespolizei und der Grenzschutz in den Außenbezirken eingesetzt werden. Nach der Vertreibung des "IS" im Jahr 2015 rückten verschiedene bewaffnete Gruppen und regionale Akteure nach, darunter staatliche Kräfte der Autonomen Region Kurdistan-Irak und der irakischen Zentralregierung, die KDP, die PKK (einschließlich der Sinjar Resistance Unit (YBS), des yezidischen Zweigs der PKK) und die Volksmobilisierungseinheiten (PMF). Die vom Iran unterstützten PMF richteten Büros ein, die u. a. in verschiedenen Sektoren Steuern eintrieben. Zivilisten, die sich dagegen wehrten, wurden erpresst, bedroht oder angegriffen. Die PKK wiederum ist an der Entführung und Zwangsrekrutierung von Jugendlichen unter 18 Jahren beiderlei Geschlechts, an unrechtmäßigen Verhaftungen und an der Inhaftierung in Geheimgefängnissen beteiligt. Im Jahr 2020 begann die Türkei mit Militäroperationen gegen die PKK und ihre yezidischen Verbündeten im Nordirak. Im Jahr 2021 weiteten sich die Angriffe u. a. auch auf die Region Sindschar aus. In der Provinz Ninive findet mithin willkürliche Gewalt statt, allerdings nicht auf hohem Niveau. Dementsprechend ist ein höheres Maß an einzelnen Elementen erforderlich, um stichhaltige Gründe für die Annahme zu liefern, dass eine in das Gebiet zurückgekehrte Zivilperson tatsächlich der Gefahr eines ernsthaften Schadens ausgesetzt wäre (EUAA, Country Guidance: Iraq, 20.06.2022, S. 210 ff.). An solchen individuellen, gefahrerhöhenden Elementen fehlt es hier jedoch. Insbesondere berichteten die Kläger nicht davon, dass ihre nunmehr wieder in H. lebenden Kinder seit ihrer Ausreise erneut von konkreten sicherheitsrelevanten Vorfällen in dem Ort betroffen gewesen wären.

Die Kläger gaben zwar an, es sei in der Vergangenheit bereits zu Luftangriffen durch die Türkei in der Nähe des Dorfes gekommen. Diese Angaben stimmen überein mit Berichten der Sinjar Resistance Unit (YBS) etwa aus November 2023, denen zufolge bei einem Drohnenangriff in Sindschar zwei ihrer Kämpfer getötet und ein weiterer verletzt wurde (BAMF, Briefing Notes Zusammenfassung. Irak - Juli bis Dezember 2023, 31.12.2023, S. 9). Im Laufe des Jahres 2022 richteten sich türkische Luftangriffe mehrmals gegen Einrichtungen, die von den mit der PKK verbundenen jesidischen Kämpfern der YBS im der Region Sindschar genutzt wurden, wobei Berichten zufolge zahlreiche yezidische Zivilisten getötet und verletzt wurden (US Department of State (USDOS), Iraq 2022 International Religious Freedom Report, 15.05.2023, S. 26). Doch aus diesen dokumentierten Fällen lässt sich (noch) nicht die beachtliche Gefahr eines ernsthaften Schadens für die Bewohner des Dorfes H. oder der Provinz Sindschar allgemein ableiten.

Allerdings ist den Klägern ein nationales Abschiebungsverbot zuzuerkennen. Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Im Falle einer Abschiebung wird eine Verantwortlichkeit der Bundesrepublik Deutschland nach Art. 3 EMRK dann begründet, wenn erhebliche Gründe für die Annahme bestehen, dass der Betroffene im Fall der Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein.

Eine Verletzung des Art. 3 EMRK kommt in besonderen Ausnahmefällen auch bei nichtstaatlichen Gefahren aufgrund prekärer Lebensbedingungen in Betracht, bei denen ein verfolgungsmächtiger Akteur (§ 3c AsylG) fehlt, wenn die humanitären Gründe gegen die Ausweisung zwingend sind mit Blick auf die allgemeine wirtschaftliche Lage und die Versorgungslage betreffend Nahrung, Wohnraum und Gesundheitsversorgung (BVerwG, Urteil vom 04.07.2019 - 1 C 45/18 -, juris Rn. 12). Nach der jüngeren Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union liegt ein solcher Ausnahmefall vor, wenn sich die betroffene Person im Falle einer Abschiebung unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihr nicht erlaubt, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigt oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzt, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (EuGH, Urteile vom 19.03.2019 - C-163/17, Jawo -, juris Rn. 92, und - C-297/17 u. a., Ibrahim -, juris Rn. 90). Schlechte humanitäre Bedingungen im Abschiebezielstaat begründen insbesondere dann ein Abschiebungsverbot, wenn der Betroffene bei einer Rückkehr nicht in der Lage wäre, ein Leben zumindest am Rande des Existenzminimums zu führen (BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15/12 -, juris Rn. 39).

Ausgehend von dem in der obergerichtlichen Rechtsprechung entwickelten sehr hohen Maßstab für die Annahme einer Verletzung des Art. 3 EMRK droht den Klägern bei einer Rückkehr nach Sindschar aufgrund der individuellen Umstände ihres Falles mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung in Form von Verelendung.

Dies folgt zum einen daraus, dass der Kläger zu 1) voraussichtlich nicht in der Lage sein wird, mit unregelmäßigen Gelegenheitsarbeiten ein ausreichendes Einkommen für sich, seine Ehefrau und seine vier minderjährigen Kinder zu erwirtschaften. Zum anderen verfügen die Kläger im Irak nicht über Eigentum, sondern waren schon vor ihrer Vertreibung aus ihrem Heimatdorf aufgrund der Angriffe des "Islamischen Staates" von nachbarschaftlicher Unterstützung abhängig. Das Haus in dem Dorf H., in dem die Kinder der Kläger derzeit leben, bietet ihnen keine zuverlässige Unterkunft.

Die Klägerin zu 2) wird bei einer Rückkehr in das Heimatdorf der Kläger mit hoher Wahrscheinlichkeit keinen eigenen Beitrag zum Einkommen der Familie leisten können. Zwar ist sie in Deutschland genauso wie ihr Ehemann als Reinigungskraft tätig, doch im Irak wird Frauen überproportional häufig die Teilnahme am Arbeitsmarkt verwehrt. Die geschätzte Erwerbsquote von Frauen liegt bei nur etwa 11 % (Stand 2022), ein Abfall gegenüber 15 % im Jahr 2016 (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak, 09.10.2023, S. 177). Weil die Klägerin zu 2) Analphabetin ist, im Irak bisher nie berufstätig war und zudem mit der Betreuung ihrer vier minderjährigen Kinder stark beansprucht sein wird, erscheint es ausgeschlossen, dass sie sich auf dem für Frauen ohnehin erheblich eingeschränkten irakischen Arbeitsmarkt wird durchsetzen und eine Arbeitsstelle finden können.

Die beiden volljährigen Töchter der Kläger sind mittlerweile verheiratet und damit den Familien ihrer Ehemänner verpflichtet. Die Kläger berichteten, dass beide Töchter nicht mehr in ihrem Heimatdorf lebten und ihre Ehemänner nicht damit einverstanden seien, wenn sie sich weiterhin um ihre jüngeren Geschwister kümmerten. Der 18-jährige, in Deutschland wohnhafte Sohn der Kläger ist indes selbst noch in Ausbildung und kann seine Eltern und Geschwister ebenfalls nicht finanziell unterstützen. Zu seinem Onkel und früherem Vormund, dem Bruder der Klägerin zu 2), besteht nach den Angaben des Sohnes der Kläger infolge eines Streits mittlerweile kein Kontakt mehr. Im Übrigen benötigen die in Deutschland wie auch im Irak wohnhaften Geschwister der Kläger ihre finanziellen Mittel zur Versorgung ihrer eigenen Familien. Es ist folglich davon auszugehen, dass der Kläger zu 1) alleine für das Einkommen seiner Familie wird aufkommen müssen.

Dass es ihm voraussichtlich nicht gelingen wird, zumindest das notwendige Existenzminimum für sich selbst, seine Frau und seine vier Kinder zu erwirtschaften, folgt zunächst aus der erheblich angespannten wirtschaftlichen Lage im Distrikt Sindschar. Die Infrastruktur in Sindschar ist nach einem Bericht des Bürgermeisters der Region weiterhin weitgehend nicht operabel. Nach wie vor sind in der Region wesentliche öffentliche Dienstleistungen und Grundversorgung regelmäßig nicht gewährleistet, die Wirtschaft ist gelähmt und es stehen weder Gelder noch Unterbringungsmöglichkeiten für Rückkehrende zur Verfügung (BAMF, Briefing Notes Zusammenfassung. Irak - Juli bis Dezember 2023, 31.12.2023, S. 6, 9). Die Provinz Ninive hat mit 32,8 Prozent die höchste Arbeitslosenquote im gesamten Irak (United Kingdom Home Office, Country Policy and Information Note. Iraq: Humanitarian Situation, 23.05.2023, S. 15). Die Region Sindschar zählt zu den irakischen Bezirken, in denen der Bedarf an humanitärer Hilfe am höchsten ist, die jedoch aufgrund von Straßensperren, nicht explodierter Munition und Reisebeschränkungen zugleich für Hilfsorganisationen nur schwer zugänglich sind (United Kingdom Home Office, Country Policy and Information Note. Iraq: Humanitarian Situation, 23.05.2023, S. 22, 33).

Die Kläger berichteten, bis zum Jahr 2004 beide in der Landwirtschaft gearbeitet zu haben. Infolge des Irakkrieges und des Sturzes von Saddam Hussein habe sich die Lage seither jedoch kontinuierlich verschlechtert, bis es auf dem Land schließlich gar keine Arbeit mehr gegeben habe. Die Einzelrichterin erachtet die Angaben der Kläger als glaubhaft. Aktuelle Erkenntnismittel ergeben, dass sich die Lage in der Landwirtschaft Sindschars in den letzten Jahren sogar noch verschlechtert hat. Dürre und Wasserkrisen im Jahr 2021 stellten eine Herausforderung für die Landwirtschaft, die Fischerei und die Stromerzeugung dar und zwangen die Landwirte, in die städtischen Gebiete zu ziehen (EUAA, Country Guidance: Iraq, 20.06.2022, S. 212). Zudem ist auch die Region Sindschar vom Klimawandel betroffen. Die Vereinten Nationen stuften den Irak als das fünftgefährdetste Land in Bezug auf die globale Erwärmung und den Klimawandel ein. Es wird erwartet, dass große Teile des Irak in den kommenden Jahren oder Jahrzehnten unbewohnbar werden (Human Rights Watch (HRW), World Report 2024 - Iraq, 11.01.2024). Im Jahr 2022 wurden etwa 69.000 Iraker infolge der schlimmsten Dürre seit 40 Jahren innerhalb des Landes vertrieben (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) Österreich, Country of Origin Information. Iraq Country Report, 16.01.2024, S. 209). Staubstürme und hohe Temperaturen führten im Jahr 2023 dazu, dass die Feigenbäume, für die die Region Sindschar bekannt ist, vielfach verdorrten oder keine Früchte trugen. Der größte Teil der landwirtschaftlichen Nutzfläche in Sindschar ist auf Regenwasser angewiesen, doch die Niederschlagsmenge im Irak ist in den letzten zwei Jahren deutlich zurückgegangen (KirkukNow, Thousands of Shingal's (Sinjar) fig trees wilting, 18.08.2023, https://kirkuknow.com/en/news/69593).

Der Kläger zu 1) berichtete, nachdem er in Sindschar keine Arbeit gefunden habe, sei er regelmäßig in die Region Kurdistan-Irak nach Dohuk oder Sulaimaniya gefahren, um dort Arbeit zu suchen. Er habe dort jedoch auch keine feste Arbeitsstelle gehabt, sondern lediglich Gelegenheitstätigkeiten bei wechselnden Arbeitgebern. Durchschnittlich habe er nur etwa eine Woche pro Monat Arbeit gefunden, oft auch nur tageweise. In Kurdistan-Irak gebe es rein theoretisch viel Arbeit, jedoch würden diese Arbeitsstellen nicht an Yeziden vergeben. Die Einzelrichterin hält auch diese Schilderungen für glaubhaft. Nicht-muslimische Minderheiten, insbesondere Kaka'is und Yeziden, sind im Irak mit Diskriminierung und Ausgrenzung auf dem Arbeitsmarkt konfrontiert. Aufgrund vorherrschender Vorurteile dürfen sie keine Bäckereien, Restaurants oder Metzgereien eröffnen oder dort arbeiten, weil sie angeblich die islamische Tradition bei der Schlachtung von Tieren oder der Zubereitung von Mahlzeiten nicht befolgen. Außerdem werden ihre Lebensmittel und Produkte wie Käse, Brot, Joghurt, Fleisch usw. oft boykottiert, weil sie angeblich nicht halal (religiös zulässig) oder hygienisch sind. Yeziden und Kaka'is betonen, dass Mitglieder muslimischer Gemeinschaften es oft vermeiden, Produkte von nicht-muslimischen Minderheiten zu kaufen, und dass sie häufig ihren Glauben vor potenziellen Kunden verbergen müssen, um ihre Lebensmittel verkaufen zu können (Shivan Fazil, Middle East Institute, 05.07.2023, https://www.mei.edu/publications/addressing-challenges-tolerance-and-religious-diversity-iraq). Der Kläger zu 1) ergänzte, dass er seine yezidische Identität auf dem kurdischen Arbeitsmarkt auch nicht zuverlässig verschleiern könnte, weil seine Herkunft an seinem Dialekt zu erkennen sei.

Im Falle des Klägers zu 1) kommt erschwerend hinzu, dass er nie eine Schule besucht hat und wie auch seine Ehefrau Analphabet ist, sodass höher qualifizierte Tätigkeiten für ihn nicht infrage kommen. Es ist anzunehmen, dass es dem Kläger zu 1) auch in Zukunft nicht gelingen wird, eine feste Anstellung zu finden, sondern dass er sich auf Gelegenheitstätigkeiten bei wechselnden Arbeitgebern wird beschränken müssen. Mit einer Erwerbstätigkeit von durchschnittlich einer Woche pro Monat wird er jedoch nicht imstande sein, das Existenzminimum für seine sechsköpfige Familie zu erwirtschaften. Die Kläger wären mithin wie schon vor ihrer Ausreise auf nachbarschaftliche oder humanitäre Unterstützung angewiesen, welche jedoch beide nicht mit der notwendigen Zuverlässigkeit gewährleistet sind.

Gefahrerhöhend kommt hinzu, dass die Kläger jederzeit ihre Unterkunft in H. verlieren könnten. Die Einzelrichterin erachtet die Schilderungen der Kläger insofern als glaubhaft, weil beide stringente und nachvollziehbare Angaben machten und, obwohl sie bei dem Gedanken an ihre Kinder erheblich emotional angegriffen waren, nie den Eindruck machten, deren Lebensverhältnisse aus asyltaktischen Gründen dramatisieren zu wollen. Die Kinder der Kläger leben in dem Dorf H. demnach in dem leerstehenden Haus eines Bekannten, das zwar im Rahmen der Angriffe des "IS" beschädigt wurde, von dem aber noch zwei Räume bewohnbar sind. Der Bekannte hat einen Zweitwohnsitz in Kurdistan-Irak und benötigt das Haus derzeit nicht. Zwar spricht nichts dagegen, dass der Bekannte auch damit einverstanden wäre, wenn die Kläger nach ihrer Rückkehr gemeinsam mit ihren Kindern in dem Haus leben würden. Allerdings bietet die Unterkunft den Klägern und ihren Kindern keine Sicherheit, weil sie vollständig vom fortwährenden Wohlwollen ihres Bekannten abhängig sind. Der Bekannte hat nach ihren Angaben selbst eine große Familie und könnte sein Haus jederzeit zurückfordern, da die Kläger weder eine vertragliche Berechtigung haben, dort zu wohnen, noch eine Gegenleistung dafür erbringen. Sobald die Kläger ihre Unterkunft in dem leerstehenden Haus verlieren, droht sich ihre Lebenssituation dramatisch zu verschlechtern, weil sie ab diesem Zeitpunkt obdachlos wären.

Schließlich kann aufgrund neuester Erkenntnismittel auch nicht mehr mit der notwendigen Sicherheit davon ausgegangen werden, dass die Kläger in diesem Fall Aufnahme in einem der Vertriebenenlager in Kurdistan-Irak finden würden. Denn die irakische Regierung von Kurdistan-Irak setzt ihre im Herbst letzten Jahres angekündigten Pläne zur Schließung der Geflüchtetenlager mittlerweile in die Tat um. Am 25.10.2023 gab ein Sprecher des irakischen Migrationsministeriums bekannt, dass die irakische Regierung zusammen mit der UN einen Plan erarbeitet, mit dem Ziel, die Flüchtlingslager für irakische Binnenvertriebene in der Autonomen Region Kurdistan zu schließen. Die Pläne sehen die Rückkehr der Betroffenen in ihre Heimatregionen vor (BAMF, Briefing Notes Zusammenfassung. Irak - Juli bis Dezember 2023, 31.12.2023, S. 7).

Mitte November 2023 kam es sodann zur ersten Schließung eines Lagers in der Region Kurdistan-Irak seit der Vertreibungswelle im Jahr 2014, als das Lager Kurto (auch: Qoratu) in der Provinz Sulaimaniya geschlossen wurde. Der Minister für Migration und Vertriebene, Iwan Jabro, betonte daraufhin, dass die Ursachen der Binnenvertreibung beseitigt und in den für die Rückkehr vorgesehenen Gebieten Stabilität erreicht worden sei (Syriac Press, 17.11.2023, https://syriacpress.com/blog/2023/11/17/iraq-closes-kurto-camp-in-kurdistan-region-signaling-milestone-in-resolution-of-displacement/; Kuwait News Agency (KUNA), 14.12.2023, https://www.kuna.net.kw/ArticleDetails.aspx?id=3126681&Language=en). Am 14.12.2023 hat die irakische Regierung sodann bekannt gegeben, dass das zweitgrößte Flüchtlingslager der Region für Binnenvertriebene in Arbat, ebenfalls in der Provinz Sulaimaniya, aus finanziellen Gründen geschlossen wurde. Zuvor seien die letzten Bewohnerinnen und Bewohner in ihre Heimatorte zurückgekehrt. Der Direktor der kurdischen Migrationsbehörde widersprach dieser Darstellung und teilte mit, dass weniger als die Hälfte der Familien zurückgekehrt seien und die verbliebenen Familien in ein anderes Flüchtlingslager verlegt wurden. Quellen innerhalb des Lagers erklärten, dass die Vertriebenen gezwungen worden seien, das Lager zu verlassen. Viele seien in das Lager Ashti abgewandert, das aufgrund des Zustroms von Vertriebenen nunmehr überbelegt sei. Dagegen, dass sämtliche Bewohner der Camps Kurto und Arbat freiwillig in ihre Herkunftsorte zurückgekehrt sind, spricht auch, dass sich nach den Erhebungen des CCCM Cluster und der REACH Initiative im Februar 2023 noch 100 % (Kurto) bzw. 93 % (Arbat) der Bewohner der Lager angaben, im Camp bleiben zu wollen (REACH Initiative, Iraq: IDP Camp Profiling, Camp Directory - Round XVI, Februar 2023, S. 13, 22).

Im Januar 2024 verkündete das irakische Ministerium für Migration schließlich, dass die Regierung die verbleibenden 24 Lager für Binnenvertriebene in der Region Kurdistan bis zum 30.07.2024 schließen werde (Enabling Peace in Iraq Center, ISHM: January 18 - January 25, 2024, 25.01.2024, https://enablingpeace.org/ishm432/#Headline3). Berichten zufolge wurde zudem der Druck auf Binnenvertriebene erhöht, um diese zur Rückkehr in ihre Herkunftsorte zu bewegen (BAMF, Briefing Notes Zusammenfassung. Irak - Juli bis Dezember 2023, 31.12.2023, S. 11; Dana Taib Menmy, MENA, 19.12.2023, https://www.newarab.com/news/lack-funds-forces-closure-idp-camp-iraqi-kurdistan). Schon bei den Schließungen der Vertriebenenlager im Zentralirak kam es mehrfach dazu, dass Personen aus ehemals vom "IS" kontrollierten oder vom Konflikt betroffenen Gebieten von lokalen Behörden oder anderen Akteuren aufgrund der vermuteten Nähe zum "IS" und aus ethnisch-konfessionellen Gründen zur Rückkehr in ihre Heimatregionen gedrängt oder gezwungen wurden. Die Familien wurden in einigen Fällen nur 24 Stunden im Voraus darüber informiert, dass sie die Lager, in denen sie jahrelang gelebt hatten, verlassen mussten. Einigen von ihnen wurde der Zugang zu Nahrungsmitteln, Wasser und medizinischer Versorgung verwehrt und sie wurden obdachlos (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) Österreich, Country of Origin Information. Iraq Country Report, 16.01.2024, S. 208 ff.).

Es steht ferner zu befürchten, dass sich die Lebensbedingungen in den vorerst noch verbleibenden Camps durch die fortschreitenden Schließungen und den deshalb zu erwartenden Zustrom von Vertriebenen weiter verschlechtern werden. In dem Camp Sharya in Dohuk, in dem die Kläger bis zu ihrer Ausreise lebten, beklagten etwa schon im Februar 2023 69 % der Bewohner, dass die Zelte dort nur unzureichenden Schutz vor klimatischen Bedingungen wie großer Hitze, Kälte und Starkregen böten. 85 % berichteten von Schwierigkeiten beim Zugang zu Gesundheitsdiensten und 48 % von schlechter Wasserqualität. Durchschnittlich mussten sich 19 Personen eine Toilette und 26 Personen eine Dusche teilen (REACH Initiative, Iraq: IDP Camp Profiling, Camp Directory - Round XVI, Februar 2023, S. 64 f.). Zudem kommt es in den Vertriebenenlagern immer wieder zu Bränden und damit zur Zerstörung von Unterkünften und Besitztümern der Bewohner. Im Jahr 2021 wurden 400 Zelte in dem Camp Sharya bei einem Großbrand zerstört und dadurch 1.400 Bewohner obdachlos (Louisa Loveluck/Mustafa Salim, Washington Post, 04.06.2021, https://www.washingtonpost.com/world/middle_east/iraq-yazidis-camp-fire/2021/06/04/8b3db6f0-c546-11eb-89a4-b7ae22aa193e_story.html).

Die Kläger werden folglich voraussichtlich darauf angewiesen sein, eine Notunterkunft in ihrer Heimatregion Sindschar zu finden, doch dort ist der Bedarf heute bereits hoch und wird mit der - ob freiwilligen oder erzwungenen - Rückkehr yezidischer Binnenflüchtlinge noch ansteigen. Viele Binnenvertriebene leben in informellen Siedlungen, in denen sie keine angemessene Wasserversorgung, Abwasserentsorgung oder andere wichtige Dienstleistungen erhalten (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) Österreich, Country of Origin Information. Iraq Country Report, 16.01.2024, S. 209 f.). Insgesamt haben im Irak 661.000 Rückkehrer humanitären Bedarf an Unterkünften und Nahrungsmitteln. Von ihnen sind 42 Prozent akut bedürftig. Von den Menschen, die in Notunterkünften leben, befinden sich eine der größten Gruppen im Bezirk Sindschar der Provinz Ninive. Im Vergleich zu den in Lagern lebenden Binnenvertriebenen sind Binnenvertriebe außerhalb von Camps häufiger mit mäßigem oder schwerem Hunger konfrontiert und auf Bewältigungsstrategien in Krisen- und Notsituationen angewiesen, wie z. B. Kinderarbeit oder Kinderheirat, um ein Einkommen zur Deckung ihres grundlegenden Nahrungsmittelbedarfs zu erzielen. Die Zahl der ernährungsunsicheren Binnenvertriebenen außerhalb von Lagern ist im Vergleich zu 2021 leicht gestiegen, was mit der sekundären Vertreibung aufgrund der Schließung von Lagern zusammenhängt. Bei Rückkehrern, die in kritischen Unterkünften leben, ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie von Ernährungsunsicherheit betroffen sind, bis zu fünfmal höher als bei denen in nachhaltigeren Unterkünften (United Kingdom Home Office, Country Policy and Information Note. Iraq: Humanitarian Situation, 23.05.2023, S. 19 ff.).

Auf Grundlage dieser Erkenntnisse ist die Einzelrichterin überzeugt, dass den Klägern im Falle einer Rückführung in den Irak in absehbarer Zeit Obdachlosigkeit und Hunger drohen. Die stellt eine unmenschliche und entwürdigende Behandlung und damit einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK und 4 GRC dar.

Dementsprechend ist den Klägern ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG zuzuerkennen und Ziffer 4 des angefochtenen Bescheids aufzuheben, da sie dem entgegensteht. Einer Entscheidung zum nationalen Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bedarf es nicht, weil es sich bei den Abschiebungsverboten aus § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG um einen einheitlichen Streitgegenstand handelt (vgl. etwa BVerwG, Urteil vom 08.09.2011 - 10 C 14.10 -, juris Rn. 17). Damit ist auch die Abschiebungsandrohung jeweils rechtswidrig (vgl. § 34 Abs. 1 AsylG) und es besteht kein Anlass mehr für eine Entscheidung über das Einreise- und Aufenthaltsverbot, sodass die Bescheide auch insofern aufzuheben sind.