Verwaltungsgericht Göttingen
Urt. v. 24.09.2020, Az.: 2 A 1001/17
Alleinerziehende Frau; Alleinstehende Frau; Irak; Sindjar; Soziale Gruppe; Verfolgung; Yeziden
Bibliographie
- Gericht
- VG Göttingen
- Datum
- 24.09.2020
- Aktenzeichen
- 2 A 1001/17
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2020, 71940
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 3b AsylVfG 1992
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Alleinstehende Frauen ohne schutzbereite männliche Familienangehörige im Irak sind nicht als eine soziale Gruppe i.S.d. § 3b Nr. 4 AsylG anzusehen, die von Verfolgungshandlungen bedroht ist.
Tatbestand:
Die 1981 geborene Klägerin zu 1) ist die Mutter der 2007 geborenen minderjährigen Klägerin zu 2). Beide Klägerinnen sind irakische Staatsangehörige, kurdischer Volkszugehörigkeit und yezidischen Glaubens. Sie stammen nach ihrem Vortrag aus Khana Sor, Distrikt Sindjar in der Provinz Ninive/Ninawa und erreichten die Bundesrepublik Deutschland am 01.10.2017 auf dem Landweg. Hier stellten sieam 24.10.2017 Asylanträge.
Bei ihrer Anhörung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) am 07.11.2017 gab die Klägerin zu 1) an, sie und ihre Familie seien am 03.08.2014 vor dem IS aus Khana Sor nach Dohuk in ein Flüchtlingscamp geflohen. Dort habe sie als Tagelöhnerin bei Hilfsorganisationen gearbeitet, um ihre Kinder zu ernähren. Von 2011 oder 2012 bis zu ihrer Flucht sei sie, die Klägerin zu 1.), von den Brüdern ihres Mannes bedroht worden. Sie sei aber von ihrem Mann und ihren Kindern beschützt worden. Am 05.09.2017 hätten die Klägerinnen das Camp und den Irak verlassen. Der Mann/Vater der Klägerinnen und weitere Kinder seien noch im Flüchtlingscamp in Dohuk. Außerdem legte die Klägerin zu 1) ein hausärztliches Attest vom 12.10.2017 vor, wonach sie wegen einer psychischen Belastungsreaktion einer fachärztlichen Therapie bedürfe.
Mit Bescheid vom 21.11.2017 lehnte die Beklagte die Anträge der Klägerinnen auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Ziffer 1), auf Asylanerkennung (Ziffer 2) und auf subsidiären Schutz (Ziffer 3) ab. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG stellte sie fest (Ziffer 4). Zur Begründung führte die Beklagte im Wesentlichen an, zwischen der Flucht vor dem IS im Jahr 2014 und der Ausreise aus dem Irak im Jahr 2017 bestehe kein zeitlicher oder kausaler Zusammenhang. Die Klägerinnen hätten drei Jahre in Kurdistan-Irak in Sicherheit gelebt, ihre Existenz gesichert und hätten dort auch weiterleben können. Das Abschiebungsverbot wurde laut Aktenvermerk festgestellt, weil zum Zeitpunkt des Bescheiderlasses nicht sicher feststellbar sei, dass die Klägerinnen in das frühere oder ein anderes Flüchtlingscamp in Kurdistan oder in ihr Heimatdorf zurückkehren könnten.
Hiergegen haben die Klägerinnen am 02.12.2017 Klage erhoben. Sie meinen, im Irak sei (weiterhin) eine Gruppenverfolgung von Yeziden gegeben. Weder die irakische Zentralregierung noch die Regionalregierung in Kurdistan böten davor Schutz. In der Herkunftsregion Sindjar seien die Lebensverhältnisse schlecht, dies gelte umso mehr angesichts der Corona-Pandemie. In der Provinz Ninive liege ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt vor. Die Klägerin zu 1) gehöre ferner zur sozialen Gruppe der alleinstehenden Frauen ohne schutzbereite männliche Familienangehörige, weil es ihr nicht möglich sei, das Flüchtlingscamp, in dem ihr Mann und ihre Kinder lebten, zu erreichen. Zudem handle es sich bei der Klägerin zu 1) um eine vulnerable Person, weil sie an einer psychischen Belastungsreaktion leide.
Die Klägerinnen beantragen,
die Beklagte unter entsprechender Aufhebung von Ziffer 1 und 3 ihres Bescheids vom 21.11.2017 zu verpflichten, ihnen die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,
hilfsweise, ihnen den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen,
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung bezieht sie sich auf ihren Bescheid.
Das Gericht hat die Klägerin zu 1) in der mündlichen Verhandlung ergänzend zu ihrem Fluchtschicksal befragt. Wegen des Ergebnisses dieser Anhörung wird auf das Sitzungsprotokoll Bezug genommen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze sowie den Inhalt der Akten der Beklagten und der Ausländerakten des Landesaufnahmebehörde Niedersachsen und des Landkreises Schaumburg Bezug genommen. Diese Unterlagen sind ebenso Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen wie die Erkenntnismittel, die sich aus der den Beteiligten mit der Ladung übersandten Liste ergeben.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist nicht begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 21.11.2017 ist rechtmäßig. Die Klägerinnen haben weder die mit dem Haupt- noch die mit dem Hilfsantrag geltend gemachten Ansprüche. Die Einzelrichterin legt gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 AsylG die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung zugrunde.
I. Die Klägerinnen haben keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
1. Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28.07.1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II Seite 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.
Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten nach § 3a AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung grundlegender Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II Seite 685, 953) keine Abweichung zulässig ist, oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist.
Dabei muss gemäß § 3a Abs. 3 AsylG zwischen den Verfolgungsgründen im Sinne von § 3 Abs. 1 und § 3b AsylG und der Verfolgungshandlung oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen eine Verknüpfung bestehen.
Nach § 3c AsylG kann die Verfolgung ausgehen vom Staat, von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen, oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die vorgenannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung im Sinne des § 3d AsylG zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.
Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die genannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit in diesem Sinne liegt vor, wenn sich die Rückkehr in den Heimatstaat aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen als unzumutbar erweist, weil bei Abwägung aller in Betracht kommenden Umstände die für eine bevorstehende Verfolgung streitenden Tatsachen ein größeres Gewicht besitzen als die dagegensprechenden Gesichtspunkte. Nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EG des europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 – Qualifikationsrichtlinie – (ABl. L 337/9) ist hierbei die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung und einem solchen Schaden bedroht wird. Diese Regelung privilegiert den von ihr erfassten Personenkreis bei einer Vorverfolgung durch eine Beweiserleichterung, nicht aber durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Die Vorschrift begründet für die von ihr begünstigten Antragsteller eine widerlegbare Vermutung dafür, dass sie erneut von einem ernsthaften Schaden bei einer Rückkehr in ihr Heimatland bedroht werden. Die Vermutung nach Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie, dass der Ausländer erneut von einem solchen Schaden bedroht wird, setzt einen inneren Zusammenhang zwischen der Vorschädigung und dem befürchteten künftigen Schaden voraus (BVerwG, Urt. v. 27.04.2010 – 10 C 5/09, juris Rn. 21). Dadurch wird der Antragsteller, der bereits einen ernsthaften Schaden erlitten hat oder von einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die einen solchen Schaden begründenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden.
Die Gefahr eigener Verfolgung kann sich nicht nur aus gegen den Ausländer selbst gerichteten, sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen ergeben, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (Gefahr der Gruppenverfolgung). Eine solche Gefahr kann auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen (BVerwG, Urt. v. 21.04.2009 – 10 C 11/08, juris Rn. 14; VGH München, Beschl. v. 03.06.2016 – 9 ZB 12.30404, juris Rn. 5). Erforderlich ist demnach eine alle Gruppenmitglieder erfassende gruppengerichtete Verfolgung, die – abgesehen von den Fällen eines (staatlichen) Verfolgungsprogramms – eine bestimmte „Verfolgungsdichte“ voraussetzt, welche die „Regelvermutung“ eigener Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist ferner, dass die festgestellten Verfolgungsmaßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale treffen. Diese Verfolgung muss landesweit drohen (VGH München, a.a.O., juris Rn. 5).
Als vorverfolgt gilt ein Schutzsuchender dann, wenn er aus einer durch eine eingetretene oder unmittelbar bevorstehende politische Verfolgung hervorgerufenen ausweglosen Lage geflohen ist. Die Ausreise muss das objektive äußere Erscheinungsbild einer unter dem Druck dieser Verfolgung stattfindenden Flucht aufweisen. Das auf dem Zufluchtsgedanken beruhende Asyl- und Flüchtlingsrecht setzt daher grundsätzlich einen nahen zeitlichen (Kausal-)Zusammenhang zwischen der Verfolgung und der Ausreise voraus.
Es obliegt bei alledem dem Schutzsuchenden, sein Verfolgungsschicksal glaubhaft zur Überzeugung des Gerichts darzulegen. Er muss daher die in seine Sphäre fallenden Ereignisse, insbesondere seine persönlichen Erlebnisse, in einer Art und Weise schildern, die geeignet ist, seinen geltend gemachten Anspruch lückenlos zu tragen. Dazu bedarf es – unter Angabe genauer Einzelheiten – einer stimmigen Schilderung des Sachverhalts. Daran fehlt es in der Regel, wenn der Schutzsuchende im Lauf des Verfahrens unterschiedliche Angaben macht und sein Vorbringen nicht auflösbare Widersprüche enthält, wenn seine Darstellungen nach der Lebenserfahrung oder aufgrund der Kenntnis entsprechender vergleichbarer Geschehensabläufe nicht nachvollziehbar erscheinen und auch dann, wenn er sein Vorbringen im Laufe des Verfahrens steigert, insbesondere wenn er Tatsachen, die er für sein Begehren als maßgeblich bezeichnet, ohne vernünftige Erklärung erst sehr spät in das Verfahren einführt (vgl. BVerwG, Urt. v. 23.02.1988 – 9 C 32/87; BVerfG, Beschl. v. 29.11.1990 – 2 BvR 1095/90, jeweils zitiert nach juris). Bleibt ein Kläger hinsichtlich seiner eigenen Erlebnisse konkrete Angaben schuldig, so ist das Gericht nicht verpflichtet, insofern eigene Nachforschungen durch weitere Fragen anzustellen. Das Gericht hat sich für seine Entscheidung die volle Überzeugung von der Wahrheit, nicht bloß von der Wahrscheinlichkeit zu verschaffen (vgl. hierzu BVerwG, Urt. v. 16.04.1985 – 9 C 109.84, zitiert nach juris).
Dem Ausländer wird die Flüchtlingseigenschaft gem. § 3e Abs. 1 AsylG nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.
2. Ausgehend von diesen Grundsätzen und unter Würdigung des Vorbringens der Klägerinnen steht ihnen kein Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu.
a) Hinsichtlich der Verfolgung durch den IS fehlt es an dem erforderlichen Kausalzusammenhang zwischen Verfolgung und Flucht. Zwischen dem Überfall des IS auf das Heimatdorf Khana Sor und der Auseise der Klägerinnen aus dem Flüchtlingscamp in Dohuk liegen mehr als drei Jahre, in denen die Klägerinnen einer weiteren Verfolgung ihren eigenen Angaben nach nicht ausgesetzt gewesen sind. Insoweit teilt das Gericht die Auffassung der Beklagten in dem angegriffenen Bescheid vom 21.11.2017 und stellt gemäß § 77 Abs. 2 AsylG fest, dass es den dortigen Ausführungen folgt.
b) Selbst wenn man zugunsten der Klägerinnen annähme, sie seien vorverfolgt ausgereist, begründet dies einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht. Es gibt nämlich stichhaltige Gründe für die Annahme, dass den Klägerinnen bei einer Rückkehr in den Irak eine Verfolgung anknüpfend an ihre Religion nicht droht.
Eine individuelle Verfolgungsgefahr lässt sich dem Vortrag der Klägerin zu 1) nicht entnehmen. Auch lässt die Zugehörigkeit der Klägerinnen zu der Glaubensgemeinschaft der Yeziden eine staatliche oder nichtstaatliche Verfolgung bei ihrer Rückkehr derzeit nicht als beachtlich wahrscheinlich erscheinen.
Durch den IS droht eine solche Verfolgung nicht (mehr). Am 3. November 2017 wurden die letzten drei irakischen Städte, die sich noch unter der Kontrolle des IS befanden, von den irakischen Streitkräften zurückerobert und laut der US- geführten Koalition zur Bekämpfung des IS hat dieser nun 95 % jener irakischen Territorien verloren, welche er im Jahr 2014 als Kalifat ausgerufen hatte (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl –BFA-, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak, vom 24.08.2017 Stand: 23.11.2017, Seiten 8, 18, 20 und 48 ff.; Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, vom 12.02.2018, Stand: Dezember 2017, S. 4; aktuelle Karte zu den Machtverhältnissen im Irak unter https://isis.liveuamap.com/, abgerufen am 23.09.2020). In der Heimatprovinz der Kläger Ninive befinden sich möglicherweise noch einzelne Schläferzellen der Terroristenorganisation, die auch vereinzelt Anschläge verüben; von diesen Teilen des IS geht indes nicht mehr eine politische Verfolgung im Sinne von § 3 a i.V.m. § 3 b AsylG aus. Es mögen einzelne terroristische Attentate stattfinden, für die fortbestehende Annahme einer Gruppenverfolgung fehlt es indes an der hierfür erforderlichen Verfolgungsdichte (vgl. die weiterhin geltende Einschätzung des Nds. Oberverwaltungsgerichts, Urteil vom 30.07.2019 - 9 LB 133/19 -, Rn. 68 ff.; vom 24.09.2019 - 9 LB 136/19 -, Rn. 46 ff.; vom 22.10.2019 - 9 LB 130/19 - Rn. 52 ff.; jeweils juris). Aus den von den Klägerinnen in das Verfahren eingeführten Erkenntnisquellen ergibt sich kein anderes Ergebnis.
Eine staatliche Verfolgung von Angehörigen der yezidischen Glaubensgemeinschaft durch den irakischen Staat wegen deren Religionszugehörigkeit findet im Irak nicht statt. Auch eine Gruppenverfolgung von Yeziden durch andere nichtstaatliche Akteure als den IS ist nicht beachtlich wahrscheinlich (vgl. die weiterhin geltenden Ausführungen des Nds. Oberverwaltungsgerichts, Urteil vom 30.07.2019 - 9 LB 133/19 -, Rn. 61 ff., 119 ff. und vom 22.10.2019 - 9 LB 130/19 -, Rn. 72 ff.; a.a.O.).
Die Kammer hält damit an ihrer in ständiger Rechtsprechung ausgeurteilten Einschätzung fest, dass Yeziden aus der Sindjar-Region ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG ohne Hinzutreten von Besonderheiten nicht zur Seite steht (vgl. Urteil vom 08.09.2020 - 2 A 45/20 - n.v.).
c) Den Klägerinnen steht auch unter dem Gesichtspunkt der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe ein Anspruch auf Flüchtlingsschutz nicht zu. Die Klägerin zu 1) ist im Falle ihrer Rückkehr in den Irak nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit wegen einer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 Var. 5 AsylG) von Verfolgungsmaßnahmen im Sinne des § 3a AsylG bedroht.
Die Kammer ist nicht der Auffassung, dass alleinstehende Frauen ohne schutzbereite männliche Familienangehörige im Irak als eine soziale Gruppe i.S.d. § 3b Nr. 4 AsylG anzusehen sind, die von Verfolgungshandlungen bedroht ist (a.A. VG Hannover, Urteil vom 26.02.2018 - 6 A 6292/16 -, juris, Rn. 36 ff. [junge alleinstehende / alleinerziehende Frauen] und vom 07.10.2019 - 6 A 5999/17 -, juris Rn. 24 ff. [alleinstehende oder alleinerziehende Frauen]; dem folgend z.B. VG Münster, Urteil vom 02.10.2018 - 6a K 5132/16.A -, juris, Rn. 36 ff.; offengelassen: Nds OVG, Beschluss vom 10.01.2020 - 9 LA 85/19 - Beschlussabdruck (BA) S. 3, V.n.b.). Vorliegend geht es nicht um die Konstellation der alleinstehenden Frauen westlicher Prägung (dazu bspw.: VG Stade, Urteil vom 23.07.2019 - 2 A 19/17 -, juris, Rn. 41).
Gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG gilt eine Gruppe insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn a) die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und b) die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe kann auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft (§ 3b Abs. 1 Nr. 4 Hs. 4 AsylG).
Nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnissen sind Frauen im Irak nicht generell und allein wegen ihres Geschlechts von Verfolgungshandlungen bedroht (s.a. VG Berlin, Urteil vom 15.07.2019 - 5 K 393.18 A -, juris, Rn. 47). Sie sind zweifellos im Alltag einer Diskriminierung ausgesetzt, die ihre gleichberechtigte Teilnahme am politischen, sozialen und wirtschaftlichen Leben einschränkt. Sie werden selten in Entscheidungspositionen und einflussreiche Positionen ernannt. Die traditionelle Rollenverteilung in der Familie lässt weniger Möglichkeiten für Frauen, sich im Studium oder beruflich weiter zu entwickeln. Dies wird zum Teil aus der religiösen Tradition begründet, aber auch patriarchalische Strukturen sind weit verbreitet (Lagebericht des Auswärtigen Amts [AA] vom 02.03.2020, S. 5, 14 f.). Diese beständigen Diskriminierungen von Frauen erreichen aber kein solches Ausmaß, das die erforderliche Intensität von Verfolgungsmaßnahmen gegenüber einer ganzen Gruppe von Personen erreicht.
Für den Fall, dass zu dem „Frausein“ das Fehlen eines männlichen Familienangehörigen als weiterer Umstand hinzutritt, schildern die Erkenntnisquellen weitere Einschränkungen für die Betroffenen. Beispielsweise erhalten geschiedene Frauen oft nur schlechter bezahlte Arbeitsstellen, werden als Zweit- oder Drittfrau in Mehrehen erneut verheiratet oder verlieren das Sorgerecht für ihre Kinder (Lagebericht AA vom 02.03.2020, S. 15). Im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des österreichischen Bundesamts heißt es weiter, weiblich geführte Haushalte hätten nicht unbedingt Zugang zu Finanzanlagen, Sozialleistungen oder dem öffentlichen Verteilungssystem, sondern seien besonders anfällig für Unsicherheit bei der Nahrungsmittelversorgung. Ohne männliche Angehörige erhöhe sich das Risiko für diese Familien, Opfer von Kinderheirat und sexueller Ausbeutung zu werden (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, 17.03.2020, S. 106; Lagebericht AA vom 12.01.2019, S. 14). Diese weitergehenden Diskriminierungen treffen nur einen Teil der Frauen im Irak, nämlich solche ohne (männliche) familiäre Unterstützungsmöglichkeiten. Würde man die diese Frauen treffenden Diskriminierungen als Verfolgungshandlungen i.S.v. § 3a AsylG einordnen, so würden diese nicht „allein“ an das Geschlecht anknüpfen, wie es § 3b Abs. 1 Nr. 4 Hs. 4 AsylG verlangt. Sie knüpfen vielmehr „auch“ an das Geschlecht an. Die Einzelrichterin ist deshalb der Auffassung, dass die Voraussetzungen des § 3b Abs. 1 Nr. 4 Hs. 4 AsylG nicht vorliegen.
Vielmehr kann in einem solchen Fall nur dann eine soziale Gruppe angenommen werden, wenn die zusätzliche Voraussetzung des § 3b Abs. 1 Nr. 4 Hs. 1 lit. b) AsylG vorliegt, wonach die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird.
Unionsrecht steht dieser Auslegung nicht entgegen, da das nationale Recht damit über die Vorgabe des Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Satz 4 RL 2011/95/EU, geschlechtsbezogene Aspekte (lediglich) zu berücksichtigen, hinausgeht (Nds OVG, Beschluss vom 10.01.2020 - 9 LA 85/19 - BA S. 3, V.n.b. mit Verweis auf: BT-Drs. 17/13063, S. 19 f.; OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 22.08.2019 - 5 LB 31/19 -, juris, Rn. 59; HessVGH, Urteil vom 23.03.2005 - 3 UE 3457/04.A -, juris, Rn. 29, 34 zu § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG a. F).
Familien mit weiblichen Haushaltsvorständen ohne schutzbereite männliche Familienmitglieder werden nach Auffassung der Einzelrichterin nicht von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet und bilden keinen „gesellschaftlichen Fremdkörper“ (s. Bergmann/Dienelt/Bergmann, 13. Auflage 2020, AsylG, § 3b Rn. 2). Das gesellschaftliche Klima im Irak ist gegenüber Geschiedenen nicht offen repressiv (Lagebericht AA vom 02.03.2020, S. 15). Etwa 10 % der irakischen Frauen sind Witwen, viele davon Alleinversorgerinnen ihrer Familien (Lagebericht AA vom 12.01.2019, S. 14). Ob eine Frau alleinlebend oder alleinerziehend ist, lässt sich von der sie umgebenden Gesellschaft nicht ohne weiteres feststellen. Beispielweise ist nicht sogleich erkennbar, ob eine Frau verwitwet oder geschieden ist oder ihr Ehemann zeitweise anderenorts, z.B. im Ausland, lebt. Insoweit ist die Situation alleinstehender Frauen eine andere als die der Frauen westlicher Prägung, für deren andere Lebenskultur unmittelbar Anhaltspunkte ins Auge fallen dürften.
II. Die Klägerinnen haben keinen Anspruch auf Gewährung subsidiären Schutzes.
1. Es ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass den Klägerinnen bei ihrer Rückkehr in den Irak die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG noch Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG droht. Soweit die Klägerinnen sich vor Handlungen des IS fürchten, gilt das oben zu der Gefahr einer Verfolgung Ausgeführte entsprechend, wobei an die Stelle der Verfolgung bzw. der begründeten Furcht vor Verfolgung die Gefahr eines ernsthaften Schadens bzw. die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens tritt.
2. Die schlechte humanitäre Lage im Distrikt Sindjar, Provinz Ninive, rechtfertigt nicht die Zuerkennung subsidiären Schutzes gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG, da diese nicht auf einen Akteur i. S.v. § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG i. V. m. § 3c AsylG zurückzuführen ist (vgl. die weiterhin geltenden Ausführungen des Nds. Oberverwaltungsgerichts, Urteil vom 24.09.2019, a.a.O., Rn. 64-71). Dies gilt auch für eine etwaige weitere Verschlechterung der Situation durch die Corona-Pandemie.
3. Auch eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG liegt im Fall der Klägerinnen nicht vor. Es kann offen bleiben, ob im Distrikt Sindjar in der Provinz Ninive derzeit ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt herrscht. Jedenfalls besteht für die Klägerinnen dort im Rahmen eines etwaigen solchen Konflikts keine ernsthafte individuelle Bedrohung ihres Lebens oder ihrer Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt. Denn zum einen sind für die Klägerinnen auch unter Berücksichtigung ihrer yezidischen Religionszugehörigkeit bei einer Rückkehr in den Distrikt Sindjar in der Provinz Ninive besondere gefahrerhöhende Umstände nicht ersichtlich. Zum anderen besteht in dem Distrikt Sindjar auch keine außergewöhnliche Situation, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre (vgl. die weiterhin aktuellen Ausführungen des Nds. Oberverwaltungsgerichts, Urteil vom 24.09.2019, a.a.O., Rn. 78 ff.).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.
Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.