Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 22.10.2019, Az.: 9 LB 130/19
Al-Shikhan; Flüchtlingsschutz; Gruppenverfolgung; Irak; Jesiden; Ninawa; Ninive; Verfolgungsvermutung; Yeziden
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 22.10.2019
- Aktenzeichen
- 9 LB 130/19
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2019, 69818
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG - 25.01.2018 - AZ: 12 A 11514/17
Rechtsgrundlagen
- § 3 Abs 1 AsylVfG 1992
- § 3a AsylVfG 1992
- Art 4 Abs 4 EGRL 83/2004
- Art 10 Abs 2 EURL 95/2011
- Art 4 Abs 3 EURL 95/2011
- Art 4 Abs 4 EURL 95/2011
- Art 9 Abs 1 EURL 95/2011
- § 108 Abs 1 S 1 VwGO
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
1. Eine Gruppenverfolgung von Yeziden in dem Distrikt Al-Shikhan in der irakischen
Provinz Ninive ist derzeit nicht beachtlich wahrscheinlich.
2. Dies gilt selbst dann, wenn man annimmt, dass Yeziden aus dem Distrikt Al-Shikhan angesichts der Übernahme der territorialen Herrschaft des IS in weiten Teilen der Provinz Ninive im Sommer 2014 und der damit einhergehenden Übergriffe auf die yezidische Bevölkerung vor ihrer Ausreise von einer Gruppenverfolgung bedroht gewesen sind.
3. Die dadurch begründete Verfolgungsvermutung wäre widerlegt, weil sich die Machtverhältnisse im Irak zwischenzeitlich entscheidend verändert haben und daher stichhaltige Gründe gegen eine erneute Gruppenverfolgung sprechen.
4. Die seit dem vollständigen Verlust seines territorialen Herrschaftsgebietes im Irak ausgeübten Aktivitäten des IS rechtfertigen aktuell ebenfalls nicht die Annahme einer Gruppenverfolgung von Yeziden im Distrikt Al-Shikhan.
Tenor:
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover – 12. Kammer (Einzelrichterin) – vom 25. Januar 2018 geändert und die Klage abgewiesen.
Der Kläger trägt die außergerichtlichen Kosten des gesamten Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte zuvor Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Der Kläger begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
Er ist am 9. August 2000 in der dem Distrikt Al-Shikhan zugehörigen Stadt D. geboren und irakischer Staatsangehöriger kurdischer Volks- und yezidischer Religionszugehörigkeit. Am 1. Februar 2016 reiste er aus dem Irak aus und am 29. März 2016 in die Bundesrepublik Deutschland ein, wo er am 29. September 2016 einen Asylantrag stellte.
Bei seiner persönlichen Anhörung am 14. September 2017 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) gab der Kläger im Wesentlichen folgendes an:
Er habe bis zu seiner Ausreise mit seinen Eltern und vier Brüdern zusammen in D. in einer Mietwohnung gelebt. Zwar sei der sog. Islamische Staat (IS) zu keinem Zeitpunkt dort gewesen, es habe aber ein etwa drei Kilometer entfernt liegendes Dorf namens Nauran unter seiner Kontrolle gestanden. Ihr Dorf sei von den Peschmerga beschützt worden. Er und seine Familie hätten Bomben und Kampfgeräusche gehört. Seine Eltern hätten Angst gehabt und gesagt, dass er mit seinem Bruder nach Deutschland gehen solle. Nachdem sein Bruder ausreichend Geld, dass er durch Ausübung einer Erwerbstätigkeit erhalten habe, für die Ausreise gespart habe, sei er im Februar 2016 mit diesem aus dem Irak ausgereist. Seine Eltern und beiden weiteren Brüder lebten noch in seinem Heimatdorf.
Mit Bescheid vom 15. September 2017 erkannte das Bundesamt dem Kläger den subsidiären Schutzstatus zu (Ziffer 1) und lehnte den Asylantrag im Übrigen ab (Ziffer 2).
Zur Begründung führte das Bundesamt aus, dass eine Gruppenverfolgung nur hinsichtlich der Yeziden angenommen werden könne, die aus vom IS kontrollierten Gebieten stammten. Dazu gehöre das Heimatgebiet des Klägers nicht. Eine Rückkehr des Klägers dorthin sei gefahrlos möglich, zumal auch seine Eltern sowie Geschwister dort lebten. Probleme mit der Polizei oder anderen staatlichen Einrichtungen habe der Kläger ebenso wenig geltend gemacht, wie politisch aktiv gewesen zu sein.
Am 2. Oktober 2017 hat der Kläger Klage erhoben und vorgetragen, dass von einer Gruppenverfolgung von Yeziden aus der Provinz Ninive auszugehen sei.
Der Kläger hat schriftsätzlich beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 15. September 2017 in Ziffer zu 2 zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
Die Beklagte hat ebenfalls schriftsätzlich beantragt,
die Klage abzuweisen.
Mit Schriftsätzen vom 24. Oktober 2017 und 12. Januar 2018 haben die Beteiligten auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht verzichtet.
Mit am 25. Januar 2018 ohne mündliche Verhandlung ergangenem Urteil hat das Verwaltungsgericht die Beklagte unter Aufhebung der Ziffer 2 des Bescheides des Bundesamtes verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
Zur Begründung hat das Verwaltungsgericht ausgeführt, dass der Kläger einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft habe. Er sei vorverfolgt aus seinem Heimatland, der Republik Irak, ausgereist, seine Furcht vor Verfolgung sei weiterhin begründet und ihm stünde kein interner Schutz vor der drohenden Verfolgung zur Verfügung. Yeziden seien im August 2014 in der Provinz Ninive einer Gruppenverfolgung durch den IS ausgesetzt gewesen, der nach Auffassung des United Nations Human Rights Councils (UNHRC) einen Völkermord an den Yeziden in Anknüpfung an deren Religionszugehörigkeit begangen habe. Von dieser Gruppenverfolgung sei der Kläger unmittelbar betroffen gewesen, da er Anfang August 2014 in der Provinz Ninive gelebt habe und yezidischen Glaubens sei. Die damit einhergehende Vermutung einer künftigen Verfolgungsgefahr sei nicht durch stichhaltige Gründe widerlegt. Selbst wenn die Heimatregion des Klägers nicht mehr unter der Kontrolle des IS stünde, genüge dies nicht für eine Widerlegung der Verfolgungsvermutung, da sich die Verhältnisse in der Provinz Ninive dafür noch nicht ausreichend stabilisiert hätten. So würden in einem großen Wüstengebiet noch Kämpfer des IS vermutet. Zudem sei damit zu rechnen, dass die Organisation wieder verstärkt auf Terroranschläge und eine Guerilla-Taktik aus dem Untergrund setze. Eine inländische Fluchtalternative in anderen Landesteilen des Irak sei für Yeziden aus der Provinz Ninive nicht gegeben. So bestünde für diesen Personenkreis aufgrund strenger Einreise- und Niederlassungsbeschränkungen nur eingeschränkter Zugang zu sicheren Gebieten in anderen Landesteilen. Zudem seien die Flüchtlingslager im Nordirak überfüllt und die humanitären Bedingungen sehr schlecht. Es lägen auch keine Anhaltspunkte vor, dass sich Familienangehörige des Klägers außerhalb von Flüchtlingslagern in einem nicht umkämpften Landesteil aufhielten.
Am 23. Februar 2018 hat die Beklagte die Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts beantragt.
Auf den Zulassungsantrag der Beklagten hat der Senat die Berufung gegen das angefochtene Urteil, mit dem das Verwaltungsgericht die Beklagte verpflichtet hat, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, mit Beschluss vom 4. Februar 2019 (– 9 LA 6/19 –) wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen, um die Frage zu klären, ob Angehörige der yezidischen Glaubensgemeinschaft im Irak in der Provinz Ninive aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit einer Gruppenverfolgung ausgesetzt sind.
Auf den am 5. Februar 2019 zugestellten Beschluss hat die Beklagte am 7. Februar 2019 die Berufung begründet und hierzu auf die Begründung ihres Bescheides, ihres Zulassungsantrags und auf den Zulassungsbeschluss des Senats Bezug genommen. In der Zulassungsantragsschrift vom 23. Februar 2018 hat sie – auch unter Bezugnahme auf verschiedene erstinstanzliche Entscheidungen – vorgetragen, dass derzeit nicht mehr von einer Gruppenverfolgung von Yeziden aus Ninive durch den IS ausgegangen werden könne. Es bestünden stichhaltige Gründe, die dagegen sprächen, dass der Kläger im Fall seiner Rückkehr erneut einer Gruppenverfolgung durch den IS ausgesetzt wäre. Zwar sei die Region, aus der der Kläger stamme, im Jahr 2014 durch den IS erobert worden, habe jedoch im Sommer 2017 wieder befreit werden können und stünde nun unter der Kontrolle der irakischen Regierungstruppen, so dass die Lage in der gesamten Provinz Ninive jetzt stabil sei. Das Dorf D. im Distrikt Sheikan (Al-Shikhan), in der der Kläger gelebt habe, liege in der Nähe von Mossul, wo die Lage stabil und mit dem Wiederaufbau begonnen worden sei, an dem sich auch die Bundesrepublik Deutschland finanziell beteilige. Es fehle daher derzeit an der für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderlichen Verfolgungsdichte.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover vom 25. Januar 2018 zu ändern und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
die Berufung zurückzuweisen.
Er trägt zur Begründung vor, dass in der Provinz Ninive nach wie vor mit schweren Anschlägen und offenen bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen dem IS und den irakischen Sicherheitskräften zu rechnen sei. Das Verwaltungsgericht Hannover habe zutreffend festgestellt, dass sich die dortigen Verhältnisse noch nicht ausreichend stabilisiert hätten.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten und des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte und die Beiakten verwiesen.
Entscheidungsgründe
Der Senat trifft diese Entscheidung nach Anhörung der Beteiligten durch Beschluss (§ 130a Satz 1 VwGO), weil er die Berufung einstimmig für begründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält.
Die Berufung der Beklagten hat Erfolg. Sie ist zulässig und begründet.
Das Urteil des Verwaltungsgerichts ist zu ändern und die Klage abzuweisen.
Die zulässige Klage ist unbegründet, weil der Senat, anders als das Verwaltungsgericht, zu der Überzeugung gelangt ist, dass der Kläger im für die Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) auf Grundlage der in diesem Zeitpunkt vorliegenden aktuellen Erkenntnismittel (vgl. BVerfG, Beschluss vom 25.4.2018 – 2 BvR 2435/17 – juris Rn. 34; BVerwG, Urteil vom 13.6.2013 – 10 C 13.12 – juris Rn. 9) keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft hat.
Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling i. S. d. Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will. Bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht vor Verfolgung begründet ist, ist es unerheblich, ob der Ausländer tatsächlich die Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden (§ 3b Abs. 2 AsylG; vgl. auch Art. 10 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 337/9), im Folgenden: Richtlinie 2011/95/EU, sowie EuGH, Urteil vom 25.1.2018 – C-473/16 – juris Rn. 31).
Als Verfolgung i. S. d. § 3 Abs. 1 AsylG gelten nach § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 EMRK keine Abweichung zulässig ist (Nr. 1), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2). Die nach Nr. 2 zu berücksichtigenden Maßnahmen können Menschenrechtsverletzungen sein, aber auch sonstige Diskriminierungen. Die einzelnen Eingriffshandlungen müssen für sich allein nicht die Qualität einer Menschenrechtsverletzung aufweisen, in ihrer Gesamtheit aber eine Betroffenheit des Einzelnen bewirken, die der Eingriffsintensität einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung nach Nr. 1 entspricht (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.2.2013 – 10 C 23.12 – juris Rn. 34). Nach § 3a Abs. 2 AsylG können als Verfolgung i. S. d. § 3a Abs. 1 AsylG unter anderem gelten: die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt (Nr. 1), gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden (Nr. 2) und unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung (Nr. 3).
Die Verfolgung kann nach § 3c AsylG ausgehen von dem Staat, Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder nichtstaatlichen Akteuren, sofern die zuvor genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder willens sind, i. S. d. § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.
Zwischen den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. den in § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den in § 3a Abs. 1 und 2 AsylG als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG).
Nach § 3e Abs. 1 AsylG wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (sog. innerstaatliche Fluchtalternative). Zu berücksichtigen sind insoweit die dortigen allgemeinen Gegebenheiten und die persönlichen Umstände des Ausländers gemäß Art. 4 der Richtlinie 2011/95/EU zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag (§ 3e Abs. 2 Satz 1 AsylG). Zu diesem Zweck sind genaue und aktuelle Informationen aus relevanten Quellen, wie etwa Informationen des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge oder des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen, einzuholen (§ 3e Abs. 2 Satz 2 AsylG).
Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d. h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.2.2013, a. a. O., Rn. 19). Dieser in dem Tatbestandsmerkmal „... aus der begründeten Furcht vor Verfolgung ...“ des zugrunde liegenden Art. 2 Buchst. d der Richtlinie 2011/95/EU enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der bei der Prüfung von Verletzungen des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk“); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Dieser Maßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Hierbei sind gemäß Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95/EU neben sämtlichen mit dem Herkunftsland verbundenen relevanten Tatsachen unter anderem das maßgebliche Vorbringen des Antragstellers und dessen individuelle Lage zu berücksichtigen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.2.2013, a. a. O., Rn. 32; dazu näher VGH BW, Urteil vom 16.10.2017 – A 11 S 512/17 – juris Rn. 31 ff.).
Eine Verfolgung ist danach beachtlich wahrscheinlich, wenn einem besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Ausländers nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar erscheint. Dies kann auch dann der Fall sein, wenn nur ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 % für eine politische Verfolgung gegeben ist. In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die „reale Möglichkeit“ (real risk) einer Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine geringe mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, macht es auch aus der Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen erheblichen Unterschied, ob er z. B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber die Todesstrafe riskiert (vgl. BVerwG, Beschluss vom 7.2.2008 – 10 C 33.07 – juris Rn. 37).
Der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab ist unabhängig davon, ob der Betroffene bereits vor seiner Ausreise verfolgt worden ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.4.2010 – 10 C 5.09 – juris Rn. 22). Bei einer Vorverfolgung gilt kein herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Vorverfolgten kommt jedoch die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU zugute (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 15.8.2017 – 1 B 123.17 u. a. – juris Rn. 8; vom 11.7.2017 – 1 B 116.17 u. a. – juris Rn. 8). Danach ist die Tatsache, dass ein Ausländer bereits verfolgt wurde bzw. von einer solchen Verfolgung unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Ausländers vor Verfolgung begründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass er erneut von solcher Verfolgung bedroht wird. Die Vorschrift ist Ausdruck des auch der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts zum Asylgrundrecht zugrunde liegenden Gedankens, die Zumutbarkeit der Rückkehr danach differenzierend zu beurteilen, ob der Antragsteller bereits verfolgt worden ist oder nicht (grundlegend zum früheren herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab BVerfG, Beschluss vom 2.7.1980 – 1 BvR 147/80 – juris Rn. 52; dem folgend BVerwG, Urteil vom 31.3.1981 – 9 C 237.80 – juris Rn. 13). Die Nachweiserleichterung, die einen inneren Zusammenhang zwischen erlittener Vorverfolgung und befürchteter erneuter Verfolgung voraussetzt (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.2.1997 – 9 C 9.96 – juris Rn. 17), beruht zum einen auf der tatsächlichen Erfahrung, dass sich Verfolgung nicht selten und Pogrome sogar typischerweise in gleicher oder ähnlicher Form wiederholen (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.2.1997, a. a. O., Rn. 14). Zum anderen widerspricht es dem humanitären Charakter des Asyls, demjenigen, der das Schicksal der Verfolgung bereits erlitten hat, wegen der meist schweren und bleibenden – auch seelischen – Folgen das Risiko einer Wiederholung aufzubürden (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.4.1982 – 9 C 308.81 – juris Rn. 9). Die Vorschrift privilegiert daher den Vorverfolgten bzw. Geschädigten: Wer bereits Verfolgung bzw. einen ernsthaften Schaden erlitten hat, für den streitet die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei. Dadurch wird der Vorverfolgte bzw. Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden bzw. schadensstiftenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Es gelten mithin nicht die strengen Maßstäbe, die bei fehlender Vorverfolgung anzulegen sind.
Diese Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften. Diese Beurteilung obliegt tatrichterlicher Würdigung im Rahmen freier Beweiswürdigung (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.4.2010, a. a. O., Rn. 23 zu Art. 4 Abs. 4 der Vorgängerrichtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 304/12), im Folgenden: Richtlinie 2004/83/EG). Die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU kann durch stichhaltige Gründe selbst dann widerlegt sein, wenn im Herkunftsland keine hinreichende Sicherheit vor Verfolgung im Sinne des vom Bundesverwaltungsgericht früher verwendeten herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstabes bestünde (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.4.2010, a.a.O., Rn. 23). Zur Entkräftung der Beweiserleichterung ist daher nicht erforderlich, dass die Wiederholung einer Verfolgungsmaßnahme mit der nach diesem Maßstab geforderten hinreichenden Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen ist. Maßgeblich ist vielmehr, ob stichhaltige Gründe gegen eine erneute Verfolgung sprechen, die in einem inneren Zusammenhang mit der vor der Ausreise erlittenen oder unmittelbar drohenden Verfolgung stünde (vgl. BVerwG, Beschluss vom 23.11.2011 – 10 B 32.11 – juris Rn. 7).
Bei der gebotenen Prognose, ob die Furcht des Ausländers vor Verfolgung im Rechtssinne begründet ist, ihm also mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, ist es Aufgabe des Gerichts, die Prognosetatsachen zu ermitteln, diese im Rahmen einer Gesamtschau zu bewerten und sich auf dieser Grundlage gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO eine Überzeugung zu bilden. Diese Überzeugungsbildung ist aufgrund der Tatsache, dass unabhängige und gesicherte Informationen vielfach fehlen und die verschiedenen Akteure, auf deren Informationen die Gerichte angewiesen sind, sehr unterschiedliche Interessen verfolgen, erheblich erschwert (vgl. NdsOVG, Urteil vom 27.6.2017 – 2 LB 91/17 – juris Rn. 37 ff.; VGH BW, Urteil vom 2.5.2017 – A 11 S 562/17 – juris Rn. 33 ff.). Deshalb bedarf es in besonderem Maße einer umfassenden Auswertung aller Erkenntnisquellen auch zur allgemeinen Lage im Irak. Besonderes Gewicht ist den Berichten des United Nations High Commissioner for Refugees (UNHCR) beizumessen, der gemäß Art. 35 Nr. 1 des Abkommens über die Rechtsstellung von Flüchtlingen vom 28. Juli 1951 (BGBl. 1953 II S. 559, 560) und Art. 2 Nr. 1 des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31. Januar 1967 (BGBl. 1969 II S. 1293) die Durchführung der Genfer Flüchtlingskonvention überwacht (Art. 8 Abs. 2 Satz 2 der Richtlinie 2011/95/EU und Art. 10 Abs. 3 Satz 2 b) der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. L 180/60); vgl. EuGH, Urteil vom 30.5.2013 – C-528/11 [Zuheyr Frayeh Halaf] – juris Rn. 44). Gewisse Prognoseunsicherheiten sind dabei als unvermeidlich hinzunehmen und stehen der Überzeugungsbildung nicht grundsätzlich entgegen, wenn eine weitere Sachaufklärung keinen Erfolg verspricht. Auf die Feststellung objektivierbarer Prognosetatsachen kann trotz alledem aber nicht verzichtet werden. Die Annahme einer beachtlichen Verfolgungswahrscheinlichkeit kann nicht auf bloße Hypothesen und ungesicherte Annahmen gestützt werden.
Die Zuerkennung von Flüchtlingsschutz kommt nicht schon dann in Betracht, wenn eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit nicht zur Überzeugung des Gerichts feststeht, sondern in der Gesamtsicht der vorliegenden Erkenntnisse lediglich ausreichende Anhaltpunkte für eine Prognose sowohl in die eine wie die andere Richtung vorliegen, also eine Situation besteht, die einem non-liquet vergleichbar ist (so aber OVG MV, Urteil vom 21.3.2018 – 2 L 238/13 – juris Rn. 41). Die beachtliche Wahrscheinlichkeit der Verfolgung ist tatbestandliche Voraussetzung für eine Entscheidung zugunsten des Ausländers. Kann nicht festgestellt werden, dass einem Ausländer Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, scheidet eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aus (vgl. BVerwG, Beschluss vom 15.8.2017, a. a. O., juris Rn. 8; OVG SH, Urteil vom 10.10.2018 – 2 LB 67/18 – juris Rn. 25; OVG NRW, Urteil vom 3.9.2018 – 14 A 837/18.A – juris Rn. 63 ff.).
Nach diesen Maßgaben besteht für den Kläger im entscheidungserheblichen Zeitpunkt (§ 77 Abs. 1 AsylG) bei einer – hypothetischen – Rückkehr in den Irak keine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung aus den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten Verfolgungsgründen. Der Kläger hat keine anlassgeprägte Einzelverfolgung geltend gemacht (dazu unter I.). Er kann sich auch nicht mit Erfolg auf eine Gruppenverfolgung von Yeziden im Distrikt Al-Shikhan (dazu unter II.) oder eine individuelle Verfolgung wegen seiner yezidischen Gruppenzugehörigkeit (dazu unter III.) berufen.
I. Eine ausschließlich an individuelle, in der Person des Klägers liegende Umstände anknüpfende Verfolgungsgefahr (sogenannte anlassgeprägte Einzelverfolgung) lässt sich seinem Vortrag nicht entnehmen. So hat er im Rahmen seiner behördlichen Anhörung zu seinem Verfolgungsschicksal angegeben, aufgrund einer Aufforderung seiner Eltern, die wegen in seinem Heimatort wahrzunehmender Kriegsgeräusche aus einem Nachbardorf Angst gehabt hätten, sein Heimatland im Februar 2016 mit seinem Bruder von seinem Heimatdorf aus verlassen zu haben.
II. Allein die Zugehörigkeit des Klägers zu der Glaubensgemeinschaft der Yeziden lässt seine Verfolgung in Anknüpfung an ein Merkmal i. S. v. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG bei seiner Rückkehr in den Irak derzeit nicht als beachtlich wahrscheinlich erscheinen.
Die Gefahr eigener Verfolgung für einen Ausländer kann sich nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen ergeben, sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines flüchtlingsrechtlich relevanten Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (Gefahr der Gruppenverfolgung). Dabei ist je nach den tatsächlichen Gegebenheiten auch zu berücksichtigen, ob die Verfolgung allein an ein bestimmtes unverfügbares Merkmal wie die Religion anknüpft oder ob für die Bildung der verfolgten Gruppe und die Annahme einer individuellen Betroffenheit weitere Umstände oder Indizien hinzutreten müssen. Die Feststellung einer solchen gruppengerichteten Verfolgung setzt nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts – abgesehen von den Fällen eines (staatlichen) Verfolgungsprogramms – eine bestimmte Verfolgungsdichte voraus, welche die Regelvermutung eigener Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist ferner, dass die festgestellten Verfolgungsmaßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an flüchtlingsrechtlich relevante Merkmale treffen. Ob eine in dieser Weise spezifische Zielrichtung vorliegt, die Verfolgung mithin „wegen“ eines der in § 3 Abs. 1 AsylG genannten Merkmale erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten (vgl. zum Vorstehenden BVerwG, Urteil vom 21.4.2009 – 10 C 11.08 – juris Rn. 13 ff.; Urteil vom 5.7.1994 – 9 C 158.94 – juris Rn. 18).
Ob Verfolgungshandlungen gegen eine bestimmte Gruppe von Menschen in deren Herkunftsland die Voraussetzungen der Verfolgungsdichte erfüllen, ist aufgrund einer wertenden Betrachtung im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu entscheiden. Dabei muss zunächst die Gesamtzahl der Angehörigen der von Verfolgungshandlungen betroffenen Gruppe ermittelt werden. Weiter müssen Anzahl und Intensität aller Verfolgungsmaßnahmen, gegen die Schutz weder von staatlichen Stellen noch von staatsähnlichen Herrschaftsorganisationen im Sinne von § 3d AsylG einschließlich internationaler Organisationen zu erlangen ist, möglichst detailliert festgestellt und hinsichtlich der Anknüpfung an ein oder mehrere unverfügbare Merkmale im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG nach ihrer objektiven Gerichtetheit zugeordnet werden. Alle danach gleichgearteten, auf eine nach denselben Merkmalen zusammengesetzte Gruppe bezogenen Verfolgungsmaßnahmen müssen schließlich zur ermittelten Größe dieser Gruppe in Beziehung gesetzt werden, weil eine bestimmte Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe von Verfolgten bereits als bedrohlich erweist, gegenüber einer großen Gruppe vergleichsweise geringfügig erscheinen kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.7.2006 – 1 C 15.05 – juris Rn. 24).
Dabei ist es nicht erforderlich, die zahlenmäßigen Grundlagen der gebotenen Relationsbetrachtung zur Verfolgungsdichte mit quasi naturwissenschaftlicher Genauigkeit feststellen. Vielmehr reicht es aus, die ungefähre Größenordnung der Verfolgungsschläge zu ermitteln und sie in Beziehung zur Gesamtgruppe der von Verfolgung Betroffenen zu setzen. Bei unübersichtlicher Tatsachenlage und nur bruchstückhaften Informationen aus einem Krisengebiet darf auch aus einer Vielzahl vorliegender Einzelinformationen eine zusammenfassende Bewertung des ungefähren Umfangs der flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgungsschläge und der Größe der verfolgten Gruppe vorgenommen werden. Auch für die Annahme einer erheblichen Dunkelziffer nicht bekannter Übergriffe müssen die gerichtlichen Feststellungen zur Größenordnung der Gesamtheit der Anschläge in nachvollziehbarer und überprüfbarer Weise begründet werden. Diese Maßstäbe zur Feststellung einer Gruppenverfolgung gelten auch dann, wenn den Betroffenen schwere Gefahren, insbesondere Gefahren für Leib und Leben drohen. Das Ausmaß der drohenden Gefahr ist in die Bewertung einzubeziehen, ob die Furcht des Betroffenen vor Verfolgung begründet ist. Diese Bewertung setzt als Grundlage jedoch Feststellungen zu den Merkmalen der Gruppenverfolgung voraus, die alle Möglichkeiten der Tatsachenermittlung ausschöpfen (vgl. BVerwG, Urteil vom 21.4.2009, a. a. O., Rn. 19).
Einen Verzicht auf eine weitere Quantifizierung der Verfolgungsschläge hat das Bundesverwaltungsgericht im Übrigen nur bei besonders kleinen Gruppen zugelassen, bei denen auch die Feststellung ausreichen kann, dass derartige Übergriffe „an der Tagesordnung“ sind (etwa bei den syrisch-orthodoxen Christen im Tur Abdin, vgl. BVerwG, Beschluss vom 22.5.1996 – 9 B 136.96 – juris Rn. 2). Hierbei handelt es sich indes nicht um einen anderen rechtlichen Maßstab für die erforderliche Verfolgungsdichte, sondern um eine erleichterte Tatsachenfeststellung im Einzelfall (vgl. BVerwG, Beschluss vom 23.12.2002 – 1 B 42.02 – juris Rn. 5 und Beschluss vom 11.11.1999 – 9 B 563.99 – juris Rn. 3 f.).
Die vorgenannten Grundsätze zur Gruppenverfolgung gelten nicht nur für die unmittelbare und mittelbare staatliche Gruppenverfolgung, sondern sind auch auf die Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure übertragbar, wie sie durch das Asylgesetz ausdrücklich als schutzbegründend geregelt ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 21.4.2009, a. a. O., Rn. 14; Urteil vom 18.7.2006, a. a. O., Rn. 21).
Darüber hinaus gilt auch für die Gruppenverfolgung, dass sie mit Rücksicht auf den allgemeinen Grundsatz der Subsidiarität des Asyl- und Flüchtlingsrechts den Betroffenen einen Schutzanspruch im Ausland nur vermittelt, wenn sie im Herkunftsland landesweit droht, d. h. wenn auch keine innerstaatliche/inländische Fluchtalternative besteht, die im Falle einer drohenden Rückkehrverfolgung vom Zufluchtsland aus erreichbar sein muss (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.07.2006 – 1 C 15.05 – juris Rn. 20).
An den in Bezug auf das Asylgrundrecht für die Gruppenverfolgung entwickelten Maßstäben ist auch unter Geltung der Richtlinie 2011/95/EU hinsichtlich der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft festzuhalten. Das Konzept der Gruppenverfolgung stellt der Sache nach eine Beweiserleichterung für den Asylsuchenden dar und steht insoweit mit den Grundgedanken sowohl des Abkommens über die Rechtstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 als auch der Richtlinie 2011/95/EU in Einklang. Die relevanten Verfolgungshandlungen werden in Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU und die flüchtlingserheblichen Merkmale als Verfolgungsgründe in Art. 10 der Richtlinie 2011/95/EU definiert. Auch dem – allerdings in anderem Zusammenhang ergangenen – Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften vom 17. Februar 2009 (– C-465/07 [Elgafaji] – juris Rn. 43) dürften im Ansatz vergleichbare Erwägungen zugrunde liegen, wenn dort im Rahmen des subsidiären Schutzes nach Art. 15 Buchst. c der Richtlinie der Grad der Bedrohung für die Bevölkerung oder Bevölkerungsgruppe eines Landes zur individuellen Bedrohung der einzelnen Person in Beziehung gesetzt wird (vgl. BVerwG, Urteil vom 21.4.2009, a. a. O., Rn. 16 zu der insoweit nahezu wortgleichen Richtlinie 2004/83/EG; offen gelassen im Beschluss vom 24.2.2015 – 1 B 31.14 – juris Rn. 5).
Der Senat ist unter Berücksichtigung dieses Maßstabes aufgrund der im für die Bewertung entscheidenden Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung verfügbaren Erkenntnisse zu der Überzeugung gelangt, dass eine Gruppenverfolgung von Yeziden in dem Distrikt Al-Shikhan – der Herkunftsregion des Klägers, der nach seinen eigenen Angaben aus dem zu diesem Distrikt gehörenden Ort D. stammt – sowohl durch den irakischen Zentralstaat (dazu unter 1.) als auch durch den IS (dazu unter 2.) oder sonstige Akteure (dazu unter 3.) nicht beachtlich wahrscheinlich ist.
1. Eine Gruppenverfolgung von Yeziden durch den irakischen Zentralstaat findet im Irak nicht statt. Eine solche ist aus den gleichen Erwägungen, die der Senat zu dem Distrikt Sindjar getroffen hat (vgl. dazu Urteil des Senats vom 30.7.2019, a. a. O., Rn. 61 - 67), nicht beachtlich wahrscheinlich.
2. Eine Gruppenverfolgung von Yeziden im Distrikt Al-Shikhan i. S. v. § 3 AsylG durch die Terrormiliz IS ist derzeit ebenfalls nicht beachtlich wahrscheinlich.
a) Dies gilt selbst dann, wenn man zu Gunsten des Klägers annimmt, dass er, angesichts der Übernahme der territorialen Herrschaft des IS in weiten Teilen der Provinz Ninive im Sommer 2014 und der damit einhergehenden Übergriffe auf die yezidische Bevölkerung, insbesondere im Distrikt Sindjar (vgl. Urteil des Senats vom 30.7.2019 – 9 LB 133/19 – juris Rn. 69 ff.), bereits vor seiner Ausreise aus dem Irak – auch als Yezide aus dem Distrikt Al-Shikhan – von einer Gruppenverfolgung bedroht gewesen ist. Die dadurch begründete Vermutung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU, dass eine Vorverfolgung oder eine frühere unmittelbare Bedrohung durch Verfolgung ein ernsthafter Hinweis darauf ist, dass die Furcht des Ausländers vor Verfolgung begründet ist, wäre im Fall des Klägers widerlegt.
Es sprechen nach der Überzeugung des Senats stichhaltige Gründe dagegen, dass der Kläger erneut von einer solchen Gruppenverfolgung bedroht wäre, da sich die Machtverhältnisse im Irak zwischenzeitlich entscheidend verändert haben. Die flächendeckenden Übergriffe auf Angehörige der yezidischen Glaubensgemeinschaft, die (zumindest) im Distrikt Sindjar durch Mitglieder des IS erfolgten, wurden erst durch die Eroberung des Gebietes durch die Terrororganisation im Sommer 2014 ermöglicht. Seitdem haben sich die Machtverhältnisse im Irak aber grundlegend geändert. Der IS hat sein Herrschaftsgebiet im Irak nahezu vollständig verloren (aktuelle Karte zu den Machtverhältnissen im Irak unter https://isis.liveuamap.com/). Er hält dort kein Territorium mehr (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA), Kakai, Verfolgung und Diskriminierung, staatlicher Schutz, Religionsfreiheit, Niederlassung im Nordirak, 13.12.2018, S. 2 m. w. N.). Es ergeben sich derzeit auch keine durchgreifenden Anhaltspunkte für die Annahme, dass der IS in absehbarer Zeit in der Lage wäre, den Distrikt Al-Shikhan zu erobern und infolgedessen die dort lebenden Yeziden, wie zum damaligen Zeitpunkt (zumindest) im Sindjar, flächendeckend zu verfolgen (vgl. Urteil des Senats vom 30.7.2019, a. a. O., Rn. 71 - 79).
b) Die seit dem vollständigen Verlust seines territorialen Herrschaftsgebietes im Irak ausgeübten Aktivitäten des IS rechtfertigen nicht die Annahme einer Gruppenverfolgung von Yeziden in dem Distrikt Al-Shikhan, da es dort an der für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderlichen Verfolgungsdichte nach den oben genannten Maßstäben fehlt. Die gebotene Relationsbetrachtung zwischen der Gesamtgröße der betroffenen Bevölkerungsgruppe und der Anzahl sowie des Gewichts der Verfolgungsmaßnahmen i. S. d. § 3a Abs. 1 AsylG ergibt bei der gebotenen wertenden Gesamtbetrachtung keine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit für jeden Gruppenzugehörigen. Selbst wenn man davon ausginge, die wegen einer (unterstellten) Gruppenverfolgung der Yeziden durch den IS vor der Ausreise des Klägers angenommene Verfolgungsvermutung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU griffe unabhängig vom Bestehen der territorialen Herrschaft des IS in der Provinz Ninive ein, führte dies zu keinem anderen Ergebnis, da die tatsächliche Vermutung einer begründeten Verfolgungsfurcht aufgrund der nachfolgend dargelegten Umstände durch stichhaltige Gründe widerlegt wäre.
aa) Auf die genaue Ermittlung der im Distrikt Al-Shikhan aktuell lebenden Yeziden kommt es für die gebotene Relationsbetrachtung – anders als im Distrikt Sindjar (vgl. Urteil des Senats vom 30.7.2019, a. a. O., Rn. 81 ff.) – nicht an, da der Senat für den Betrachtungszeitraum bereits keine in die Bewertung einzustellenden Referenzfälle zu erkennen vermag, die dieser Bevölkerungszahl gegenüberzustellen wären.
In die gebotene Relationsbetrachtung sind die in Anknüpfung an ihre religiöse bzw. ethnische Zugehörigkeit zu dieser Bevölkerungsgruppe gegen Yeziden gerichteten Verfolgungshandlungen im Distrikt Al-Shikhan einzustellen. Für die Relationsbetrachtung wird dabei auf den Zeitraum ab 2018 abgestellt, da sich die Ausgangslage für die Yeziden im Nordirak mit dem militärischen Sieg der Allianz gegen den IS im Irak Ende 2017 grundlegend geändert und sich die Organisation seitdem von einer territorialen Herrschaftsmacht zu einer aus dem Untergrund operierenden, sich auf Guerilla-Taktik konzentrierenden Gruppe entwickelt hat.
Für diesen Zeitraum ergeben sich aus den zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln keine die vorgenannten Anforderungen erfüllenden Vorfälle.
So gehen zunächst alle Quellen übereinstimmend davon aus, dass seit der Beendigung der territorialen Kontrolle des IS im Irak insgesamt eine kontinuierliche Verbesserung der allgemeinen Sicherheitslage im gesamten Staat und auch in der Provinz Ninive eingetreten ist (vgl. dazu ausführlich Urteil des Senats vom 30.7.2019, a. a. O., Rn. 95 - 102).
Bei einer genaueren Betrachtung des Distrikts Al-Shikhan zeigt sich, dass sich die dortige Sicherheitslage im landesweiten Vergleich nochmals als deutlich besser darstellt. Das Armed Conflict Location & Event Data Project (ACLED), das angibt, konservative Schätzungen zu verwenden, erfasst einzelne sicherheitsrelevante Vorfälle im Irak mit Angabe des Ortes, an dem sich der Vorfall ereignet hat. Nach dem im Internet in Form einer Excel-Tabelle abrufbaren Datensatz (https://www.acleddata.com/data/; abgerufen am 13.9.2019) ist für den Zeitraum vom 1. Januar 2018 bis zum 13. September 2019 kein sicherheitsrelevanter Vorfall im Distrikt Al-Shikhan erfasst worden.
Dies deckt sich mit den Angaben des Iraq Body Count-Projektes, einer Datenbank, die von der in London ansässigen Firma Conflict Casualities Monitor betrieben wird (abrufbar unter https://www.iraqbodycount.org/) und seit 2003 die Gesamtanzahl der zivilen Todesfälle aufgrund der gewaltsamen Auseinandersetzungen im Irak dokumentiert und deren statistische Erfassungen auf öffentlich zugänglichen Quellen, wie Pressemitteilungen, Informationen von Nichtregierungsorganisationen oder Primärquellen beruhen und das Ziel einer erschöpfenden Darstellung aller Konfliktfälle mit Todesopfern verfolgen (vgl. zur Methode im Einzelnen EASO, Country of Origin Information, Iraq, Security situation (supplement) – Iraq Body Count – civilian deaths 2012, 2017 - 2018, Februar 2019, S. 7 - 11). Danach hat es in den Jahren 2017 und 2018 keinen sicherheitsrelevanten Vorfall im Distrikt Al-Shikhan gegeben (vgl. EASO, Country of Origin Information, Iraq, Security situation (supplement) – Iraq Body Count – civilian deaths 2012, 2017 - 2018, Februar 2019, S. 26).
Auch sonst ergeben sich keinerlei Anhaltspunkte, dass Yeziden im Distrikt Al-Shikhan in Anknüpfung an ihre Glaubenszugehörigkeit Übergriffen i. S. v. § 3a AsylG durch den IS ausgesetzt sind (vgl. z. B. Joel Wing, Security in Iraq, May 8-14, 2019, 16.5.2019; October 2018, Islamic State Expanding Operations in Iraq, 2.11.2018; Islamic Returns To Baghdad While Overall Security In Iraq Remains Steady, 6.10.2018; June 2018, Islamic State Rebuilding In Rural Areas Of Central Iraq, 3.7.2018). Der Kläger selbst nennt ebenfalls keine konkreten Vorfälle, sondern verweist lediglich allgemein darauf, dass sich die Lage noch nicht ausreichend stabilisiert habe.
Angesichts der Existenz einer Vielzahl von Berichten über die aktuelle Sicherheitssituation im Irak sowie miteinander harmonierenden statistischen Erfassungen zu sicherheitsrelevanten Vorfällen mit zivilen Opfern im Distrikt Al-Shikhan ist auch nicht ersichtlich, dass es eine nennenswerte Dunkelziffer nicht erfasster Vorfälle gäbe.
Anhaltspunkte für sonstige aktuelle relevante Einschränkungen der Religionsausübung der Yeziden im Distrikt Al-Shikhan durch den IS sind ebenfalls nicht ersichtlich.
Nach der Verdrängung des IS aus der Herkunftsregion des Klägers sind diesem dort auch keine Vertreibungen in Anknüpfung an die yezidische Glaubenszugehörigkeit mehr zuzurechnen (vgl. zu dem Distrikt Sindjar: Urteil des Senats vom 30.7.2019, a. a. O., Rn. 106).
bb) Es ergeben sich auch keinerlei Anhaltspunkte für die Annahme, das Fehlen von Übergriffen auf Yeziden sei dem Umstand geschuldet, dass in dem Distrikt nach dem Eroberungsfeldzug des IS keine Yeziden mehr leben.
Bei dem Distrikt Al-Shikhan handelt es sich traditionell um ein Hauptsiedlungsgebiet der Yeziden (vgl. Konrad Adenauer Stiftung, Christen und Jesiden im Irak: Aktuelle Lage und Perspektiven, S. 92). Dort lebten im Jahr 2011 etwa 1/3 aller irakischen Yeziden, nach Schätzungen des Europäischen Zentrums für Kurdische Studien (kurz: EZKS; Gutachten vom 20.11.2011, S. 2 m. w. N.) waren es ca. 65.000 Yeziden, etwa die Hälfte der damaligen Gesamtbevölkerung des Distrikts. Die Anzahl der Yeziden dürfte sich in den Folgejahren angesichts der hohe Geburtenrate – allein im Zeitraum von September 2011 bis September 2013 lag das Wachstum der yezidischen Bevölkerung bei etwa 2,5 % (vgl. EZKS, Gutachten vom 16.9.2013, S. 12) – weiter erhöht haben.
Es ist auch nicht zu erkennen, dass der Eroberungsfeldzug des IS dazu geführt hat, dass in dem Betrachtungszeitraum ab Januar 2018 in dem Distrikt keine nennenswerte Anzahl an Yeziden mehr gelebt hat.
Zwar sind für den Distrikt Al-Shikhan keine umfassenden Rückkehrbewegungen zu erkennen. So sind nach den statistischen Erfassungen des Global Protection Cluster (Iraq Protection Cluster: Ninewa Returnees Profile, January 2018, S. 1) bis März 2018 lediglich 190 Familien dorthin zurückgekehrt, nach den Angaben der International Organization for Migration (kurz: IOM; Displacement Tracking Matrix, DTM Round 95, Mai 2018, S. 6) bis Ende Mai 2018 insgesamt 288 Familien bzw. 1.728 Personen. Dies wird aber darauf zurückzuführen sein, dass es – anders als im Sindjar – nur in geringem Umfang zu Fluchtbewegungen wegen des Vormarsches des IS gekommen ist. Die Erkenntnisse zu der Situation im nordöstlichen Teil der Provinz Ninive legen nahe, dass der Vormarsch des IS in der Heimatregion des Klägers nicht annähernd zu so starken Fluchtbewegungen von Yeziden geführt hat, wie es im Distrikt Sindjar der Fall gewesen ist. So hat der IS nicht den gesamten Distrikt Al-Shikhan eingenommen, die zentral im Distrikt liegende Stadt Ain Sifne wurde beispielsweise, wie auch der Kläger selbst angibt, nicht durch den IS besetzt. Dies passt zu den Angaben der IOM (Iraq, Displacement Crisis 2014 - 2017, Oktober 2018, S. 13), nach denen der Distrikt Al-Shikhan selbst Zufluchtsort während des Eroberungsfeldzuges des IS war und von den 162.132 sich im Dezember 2014 in der Provinz Ninive aufhaltenden irakischen Binnenflüchtlingen insgesamt 57.378 und damit mehr als 1/3 in den Distrikt Al-Shikhan geflüchtet waren. Bis Dezember 2016 ist die Zahl der Binnenflüchtlinge im Distrikt Al-Shikhan auf 80.364 angestiegen und lag im Dezember 2017 immer noch bei 62.046 (vgl. IOM, Iraq, Displacement Crisis 2014 - 2017, Oktober 2018, S. 25, 32).
Hinzu kommt, dass der Eroberungsfeldzug des IS im Distrikt Al-Shikhan im Vergleich zum Distrikt Sindjar zu deutlich niedrigeren Opferzahlen geführt haben dürfte. So konnten die meisten Bewohner – zumindest in den in der Region liegenden und auch von Yeziden bewohnten Orten Bahzani, Baschika im Distrikt Al-Hamdaniya – fliehen und wurden nicht vom IS getötet oder verschleppt (vgl. EZKS, Gutachten vom 7.9.2015, S. 2 und vom 14.1.2015, S. 2). Berichte über hohe Opferzahlen unter Yeziden in dem Distrikt Al-Shikhan sind dem Senat nicht bekannt und werden auch von dem Kläger nicht geltend gemacht.
Dazu passt im Übrigen der Vortrag des Klägers, nach dem sich seine Eltern sowie zwei seiner Brüder noch immer in seinem Heimatort im Distrikt Al-Shikhan aufhielten und diese auch nicht nur vorübergehend von dort geflohen seien.
cc) Angesichts der fehlenden Referenzfälle erbringt eine quantitative Betrachtung – unabhängig von der genauen Anzahl der derzeit in dem Distrikt lebenden Yeziden – keine beachtliche aktuelle Verfolgungswahrscheinlichkeit für alle Yeziden aus dem Distrikt Al-Shikhan in Anknüpfung an ihre Glaubenszugehörigkeit. Eine wertende Betrachtung des statistischen Materials vermag unter diesen Umständen kein anderes Ergebnis zu rechtfertigen.
3. Ebenso wenig ist eine Gruppenverfolgung von Yeziden im Distrikt Al-Shikhan durch andere Akteure beachtlich wahrscheinlich.
Die Gräueltaten des IS während dessen territorialer Herrschaftsgewalt im Nordirak vermögen mangels innerer Verknüpftheit (vgl. zu dieser Anforderung BVerwG, Urteil vom 18.7.2006, a.a.O., Rn. 26) eine tatsächliche Verfolgungsvermutung durch andere Akteure nicht zu begründen. Anhaltspunkte für aktuelle relevante Einschränkungen der Religionsfreiheit der Yeziden im Distrikt Al-Shikhan liegen im für die Bewertung entscheidenden Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung nicht vor. Vor dem Einmarsch des IS war die tatsächliche Ausübung der Religion gewährleistet (vgl. Urteil des Senats vom 19.3.2007 – 9 LB 373/06 – juris Rn. 64 - 66). Es ist nicht ersichtlich, dass die Religionsausübung für die Yeziden nach der Verdrängung des IS aus der Provinz Ninive noch in relevanter Weise behindert wird.
a) In Bezug auf Sicherheitskräfte des Autonomiegebietes Kurdistan-Irak wird in den dem Senat vorliegenden Erkenntnismitteln überwiegend lediglich allgemein von Diskriminierung gesprochen, wobei sich den Ausführungen eine für die Annahme einer Verfolgungshandlung i. S. v. § 3a AsylG erforderliche Intensität nicht entnehmen lässt. So werden in dem Bericht des USDOS (2017 Report on International Religious Freedom – Iraq, 29.5.2018, S. 5 des Ausdrucks) einige Yeziden, christliche Führer sowie Nichtregierungsorganisation zitiert, die von Schikanen und Diskriminierungen durch die kurdische Regionalregierung (KRG), Peschmerga und den kurdischen Sicherheits- und Geheimdienst Asayish in der Provinz Ninive sprechen. Soweit davon berichtet wird, dass Yeziden aufgrund der Bildung eigener yezidischer Milizen, die der PKK bzw. den Volksmobilisierungseinheiten PMU nahestehen, Vergeltungshandlungen durch kurdische Sicherheitskräfte ausgesetzt sind (vgl. French Office for the Protection of Refugees and Stateless Persons, The Security situation of religious and ethnic minorities, 14.11.2017, S. 6 - 7), ist nicht erkennbar, dass diese in Anknüpfung an die yezidische Glaubenszugehörigkeit erfolgen. Vielmehr wird es sich dabei um Maßnahmen machtpolitischer Natur handeln, die nicht die Yeziden als Gruppe betreffen, sondern einzelne Personen, die sich selbst oder deren Angehörige sich entsprechenden, mit den kurdischen Sicherheitskräften konkurrierenden Gruppierungen angeschlossen haben (vgl. USDOS, 2017 Report on International Religious Freedom – Iraq, 29.5.2018, S. 8 des Ausdrucks).
b) Gezielte Übergriffe schiitischer Milizen gegenüber Yeziden im Distrikt Al-Shikhan in nennenswertem Umfang sind den vorliegenden Erkenntnismitteln nicht zu entnehmen (vgl. entsprechend im Einzelnen zu der Situation im Sindjar BFA, Übergriffe schiitischer Milizen im Sindschar, 23.7.2018, m. w. N.). Im Sindjar gewannen die schiitischen Milizen nach ihrem Vordringen in den Distrikt durch die Zusammenarbeit mit lokalen yezidischen Stammesführern an Akzeptanz. Sie tolerierten die örtlichen yezidischen Milizen und gingen im Sicherheitsbereich weitreichende Kooperationen ein, indem sie die yezidischen in die schiitischen Milizen integrierten bzw. Yeziden rekrutierten (vgl. ICG, Winning the Post-ISIS Battle for Iraq in Sinjar, 20.2.2018, S. 10 - 11). Dass sich die Situation in dem Distrikt Al-Shikhan anders darstellt, ist nicht ersichtlich.
c) Belastbare Hinweise für gezielte Übergriffe auf Yeziden in Anknüpfung an deren Glaubenszugehörigkeit durch andere Akteure, wie der muslimischen Bevölkerung oder anderer, sich in der Region befindlicher Milizen – hinter dem Begriff der Volksmobilisierungseinheiten PMU verbergen sich mehr als 60 verschiedene Gruppierungen; größtenteils vom Iran unterstützte schiitische Milizen, aber auch irakische schiitische Milizen und Milizen ethnischer und/oder religiöser Minderheiten, wie Sunniten, Yeziden, Christen, Turkmenen, Shabak etc. (vgl. BFA, Schiitische Milizen im Sinjar, Übergriffe gegen religiöse Minderheiten in der Provinz Ninawa, 24.9.2018, S. 2) – bestehen ebenfalls nicht. Zwar ist allgemein von Spannungen zwischen den zahlreichen regionalen Milizen, insbesondere im Distrikt Sindjar, die Rede, die jeweils eigene politische Ziele verfolgen (vgl. BFA, Schiitische Milizen im Sinjar, Übergriffe gegen religiöse Minderheiten in der Provinz Ninawa, 24.9.2018, S. 6), was auch zu Problemen der unterschiedlichen ethnischen und religiösen Gruppen an einem der vielen Checkpoints von Sicherheitskräften jeweils anderer ethnischer oder religiöser Gruppierungen in der Provinz Ninive (vgl. BFA, Schiitische Milizen im Sinjar, Übergriffe gegen religiöse Minderheiten in der Provinz Ninawa, 24.9.2018, S. 20 - 21) geführt haben dürfte. Dass es in diesem Zusammenhang zu gezielten Übergriffen gegenüber Yeziden wegen deren Glaubenszugehörigkeit kommt, ist aber nicht ersichtlich. Dies gilt ebenso für Berichte, nach denen es Yeziden nicht erlaubt worden sei, in ihre Häuser in vom IS befreiten Gebieten zurückzukehren, da davon auch sunnitische Araber, Turkmenen und andere Personen betroffen waren (vgl. BFA, Schiitische Milizen im Sinjar, Übergriffe gegen religiöse Minderheiten in der Provinz Ninawa, 24.9.2018, S. 21).
d) Es ergeben sich auch keine durchgreifenden Anhaltspunkte für die Annahme, dass die Glaubensausübung aufgrund einer – im Zusammenhang mit der Sicherheitslage, dem Erfordernis verschiedener Durchreiseerlaubnisse sowie Schikanen und Misshandlungen an Checkpoints stehenden – eingeschränkten Bewegungs- bzw. Reisefreiheit in der Provinz Ninive in einer die Annahme einer flüchtlingsrelevanten Verfolgung von Yeziden rechtfertigenden Weise beeinträchtigt ist.
Das USDOS (2017 Report on International Religious Freedom – Iraq, 29.5.2018, S. 5 des Ausdrucks) berichtet zwar, dass der kurdische Geheim- und Sicherheitsdienst Asayish Genehmigungen für den Übertritt über die Hauptbrücke von Dohuk nach Ninive forderte. Für eine Rückkehr in die Provinz Ninive benötigten Flüchtlinge aus Kurdistan-Irak nicht nur Erlaubnisse der Behörden des Aufenthaltsortes, sondern auch des Zielgebietes sowie der Sicherheitsakteure, durch deren kontrolliertes Gebiet die Route führte (vgl. im Einzelnen The Danish Immigration Service, Northern Iraq, Security situation and the situation for internally displaced persons (IDPs) in the disputed areas, incl. possibility to enter and access the Kurdistan Region of Iraq (KRI), 5.11.2018, S. 26 - 27). Den Berichten lässt sich indes weder entnehmen, dass Yeziden nicht in den Distrikt Al-Shikhan zurückkehren konnten oder können, noch, dass die Beschränkungen der Behinderung der Religionsausübung, wie z. B. des Besuchs religiöser Stätten, dienten.
Die Erkenntnismittel enthalten zudem keine Hinweise, dass das yezidische Heiligtum Lalish, das im Distrikt Al-Shikhan liegt, nicht von Yeziden aus diesem Distrikt bereist werden kann. Dabei ist in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen, dass der irakische Zentralstaat in der Vergangenheit, seiner verfassungsrechtlichen Verpflichtung entsprechend, für den Schutz religiöser Stätten und Einrichtungen sowie die Sicherheit auf Pilgerwegen gesorgt hat (vgl. USDOS, 2017 Report on International Religious Freedom – Iraq, 29.5.2018, S. 5 des Ausdrucks). Übergriffe an Checkpoints dürften zudem auch in der Provinz Ninive keine zielgerichteten Handlungen gegen die yezidische Religionsausübung darstellen, sondern vielmehr machtpolitisch motiviert und der unklaren Sicherheitslage mit vielen verschiedenen Sicherheitsakteuren in der Region geschuldet sein.
III. Dem Kläger droht auch keine individuelle Verfolgung wegen seiner Zugehörigkeit zur Gruppe der Yeziden aus dem Distrikt Al-Shikhan. Ist eine Verfolgung aller Gruppenangehöriger nicht beachtlich wahrscheinlich, kann sich dies aber aus dem Vorliegen besonderer Gefährdungsmerkmale ergeben (vgl. BVerwG, Urteil vom 21.4.2009, a. a. O., Rn. 24; Urteil vom 30.10.1984 – 9 C 24.84 – juris Rn. 12).
In der Vergangenheit waren yezidische Intellektuelle mit öffentlich sichtbarem Erfolg bzw. Einfluss oder yezidische Würdenträger, wenn sie regelmäßig yezidische Einrichtungen besuchen, Yeziden im Alkoholgeschäft oder im Gaststätten- und Hotelgewerbe sowie in der Vergnügungsindustrie, in Schönheits- oder Frisiersalons oder Yeziden, die – etwa als Polizisten oder Taxifahrer – in häufigen Kontakt zur moslemischen Bevölkerung traten oder aufgrund typischer Kleidungsstücke oder anderer Merkmale als Yeziden auffielen, besonders gefährdet (vgl. EZKS, Gutachten vom 26.10.2005, S. 8 - 9). Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 12. Januar 2019 (S. 17) sowie des USDOS (Country Report On Human Rights Practices 2017 – Iraq, 20.4.2018, S. 15 des Ausdrucks) sind vor allem Polizisten, Soldaten, Journalisten, Menschenrechtsverteidiger, Intellektuelle, Künstler, Dichter, Schriftsteller, Musiker, Richter und Rechtsanwälte, alle Mitglieder des Sicherheitsapparats, Mitarbeiter der Ministerien oder von Provinzregierungen, Inhaber von Geschäften, in denen Alkohol verkauft wird (fast ausschließlich Angehörige von Minderheiten, vor allem Yeziden und Christen), Zivilisten, die für internationale Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen oder ausländische Unternehmen arbeiten, sowie medizinisches Personal besonders gefährdet. Ob bei diesen Personengruppen letztlich die Gefahr einer Verfolgung besteht, lässt sich nach Auffassung des erkennenden Senats nicht allgemein und grundsätzlich beantworten, sondern ist eine Frage der konkreten Umstände des Einzelfalls. Zu prüfen ist bei Übergriffen jeweils auch, ob wirklich ein Bezug zum yezidischen Glauben besteht, also nicht unabhängig davon auch bei anderen Personen eine entsprechende Gefährdung vorhanden ist. Im vorliegenden Fall erübrigt sich eine solche Einzelfallprüfung, weil der Kläger nicht zu einer der genannten Personengruppen gehört.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO und § 83b AsylG.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung ergibt sich aus §§ 167 VwGO, 708 Nr. 11, 711, 709 Satz 2 ZPO.
Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 132 Abs. 2 VwGO liegen nicht vor.