Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 20.08.2001, Az.: 8 TaBV 19/01

Erstmalige Eingruppierung in den Tarifvertrag Einzelhandel Niedersachsen

Bibliographie

Gericht
LAG Niedersachsen
Datum
20.08.2001
Aktenzeichen
8 TaBV 19/01
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2001, 12045
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LAGNI:2001:0820.8TABV19.01.0A

Verfahrensgang

vorgehend
ArbG Wilhelmshaven - 29.01.2001 - AZ: 2 BV 10/00
nachfolgend
BAG - 13.02.2003 - AZ: 8 ABR 53/01

Verfahrensgegenstand

Erstmalige Eingruppierung in den Tarifvertrag Einzelhandel Niedersachsen

Amtlicher Leitsatz

Die Auslegung des Begriffes "bei erstmaliger Eingruppierung ab 01.05.1991" des Lohn- und Gehaltstarifvertrages für den Niedersächsischen Einzelhandel Gehaltsstufe II ergibt eine Gleichsetzung mit "erstmalig eine Berufstätigkeit im Einzelhandel aufnehmen", unabhängig davon, in welchem Tarifgebiet dies geschehen ist und unabhängig davon, ob der Einzelhandelsbetrieb in dem der Arbeitnehmer zuvor beschäftigt war, einem Tarifvertrag - insbesondere dem Tarifvertrag Einzelhandel Niedersachsen - unterfiel oder nicht.

In dem Rechtsstreit
hat die 8. Kammer des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen
aufgrund der Anhörung am 20.08.2001
durch
die Vorsitzende Richterin am Landesarbeitsgericht Stöcke-Muhlack und
die ehrenamtlichen Richter Groß und Weisbrich
beschlossen:

Tenor:

Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Arbeitsgerichts Wilhelmshaven - 2 BV 10/00 - vom 29.01.2000 wird zurückgewiesen.

Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen.

Entscheidungsgründe

1

I.

Die Beteiligten führen vorliegendes Verfahren in der Beschwerdeinstanz noch hinsichtlich der Ersetzung der Zustimmung zur Umgruppierung der Arbeitnehmerin ... S.

2

Zum 22.11.1999 stellte die Antragstellerin die Mitarbeiterin ... S. in ihrem Betrieb als Kassiererin ein. Sie stufte sie zunächst in die Gehaltsstufe G II 7. Berufsjahr des Gehalts- und Lohntarifvertrages für den Niedersächsischen Einzelhandel (im folgenden: Tarifvertrag) ein. Frau S. hatte in den 60er Jahren eine Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau abgeschlossen und in der Zeit von 1972 bis 1996 im elterlichen Betrieb in Heilbronn im Einzelhandel gearbeitet. Noch im November 1999 gelangte die Antragstellerin zu der Auffassung, sie habe sich bei der Eingruppierung der Angestellten geirrt: Die richtige Einstufung sei die Gehaltsstufe G II 5. Berufsjahr. Deshalb beantragte sie bei dem Antragsgegner die Zustimmung zur Korrektur der Eingruppierung. Mit Schreiben vom 02.12.1999 widersprach der Antragsgegner der beantragten Umgruppierung in G II 5. Berufsjahr mit dem Argument, dass gemäß § 4 des Tarifvertrages nach abgeschlossener Berufsausbildung bei erstmaliger Eingruppierung in die Gruppe G II das 2. Berufsjahr als zurückgelegt gelte. Er stützt die Zustimmungsverweigerung auf einen Verstoß gegen das tarifliche Entgeltschema, also auf den Zustimmungsverweigerungsgrund des § 99 Abs. 2 Nr. 1 BetrVG.

3

Die Antragstellerin hat die Auffassung vertreten, die Arbeitnehmerin S. befinde sich erst im 5. Berufsjahr der Gehaltsgruppe II. Es sei nicht der letzte Absatz von § 4, Gehaltsgruppe II des Tarifvertrages einschlägig. Diese Vorschrift gelte nur bei erstmaliger Eingruppierung von Angestellten nach Abschluß ihrer Berufsausbildung. Hiermit sei nicht die erstmalige Eingruppierung im Unternehmen des Einzelhandels gemeint, sondern die erstmalige Eingruppierung des Angestellten aufgrund seiner Ausbildung im Einzelhandel insgesamt. In diesem Sinne habe auch das Bundesarbeitsgericht in einem Urteil vom 28.09.1994 entschieden (4 AZR 738/93), wenn auch auf den Manteltarifvertrag für Nordrhein-Westfalen bezogen. Der Sinn dieser Tarif Vorschrift bestehe darin, für diejenigen Angestellten, die ihre Ausbildung abgeschlossen hätten, den Zeitraum bis zum Erreichen des Endgehaltes zu verkürzen. Diese Vergünstigung solle nicht rückwirkend für die Angestellten gelten, die bereits früher die Ausbildung beendet hätten, sondern nur für die aktuellen Absolventen. Unerheblich sei in diesem Zusammenhang, in welchem Bundesland der Arbeitnehmer zuvor beschäftigt gewesen sei.

4

Die Antragstellerin hat beantragt,

die vom Betriebsrat verweigerte Zustimmung zur Umgruppierung der Mitarbeiterin ... S. in die Gehaltsgruppe G II 5 ab November 1999, der Mitarbeiterinnen ... P., R. und ... C. in die Gehaltsgruppe G I 1 ab 16.02.2000 zu ersetzen.

5

Der Antragsgegner hat beantragt,

den Antrag zurückzuweisen.

6

Er hat die Ansicht vertreten, Frau S. sei ordnungsgemäß in die Gehaltsgruppe G II 7. Berufsjahr des Tarifvertrages eingruppiert, denn sie sei nach § 4, Gehaltsgruppe II letzter Absatz des Tarifvertrages nach der Ausbildung in das 3. Berufsjahr einzustufen. Hinzuzurechnen seien die vier Berufsjahre, die sie von 1972 bis 1976 zurückgelegt habe. Bei der Beklagten sei die Arbeitnehmerin erstmals für den Einzelhandel in Niedersachsen eingruppiert worden. Allein darauf komme es an. Die frühere Berufstätigkeit im Geltungsbereich eines anderen Manteltarifvertrages sei unbeachtlich. Dem stehe auch nicht das von der Antragstellerin zitierte Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 28.09.1994 entgegen, weil dieses sich allein auf die Formulierungen in dem Manteltarifvertrag in Nordrhein-Westfalen beziehe. Beide Tarifverträge hätten nicht denselben Wortlaut.

7

Das Arbeitsgericht Wilhelmshaven hat - soweit für die Beschwerdeinstanz von Interesse - mit dem Beschluss vom 29.01.2001 die Zustimmung des Betriebsrates zur Umgruppierung der Angestellten ... S. in die Gehaltsgruppe G II 5. Berufsjahr des Tarifvertrages ab November 1999 ersetzt.

8

Zur Begründung hat es ausgeführt, Frau S. sei nicht im Sinne des § 4 Gehaltsgruppe II letzter Absatz des Tarifvertrages erstmalig eingruppiert, so dass das 2. Berufsjahr nicht bereits als zurückgelegt gelte. § 4 des Tarifvertrages sei so auszulegen, dass diejenigen Angestellten, die eine qualifizierte Berufsausbildung absolviert hätten, unmittelbar nach erfolgreichem Abschluss dieser Ausbildung und ohne jegliche Wartezeit die Vergünstigung einer Bezahlung für das 3. Berufsjahr erhalten sollten. Die Arbeitnehmer mit der für die Branche einschlägigsten Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau/-kaufmann mit 3-jähriger Berufsausbildung sollten bei erstmaligem Eintritt in das Berufsleben nicht solange auf die Vergütung aus dem 3. Berufsjahr warten wie Absolventen einer anderen einschlägigen Berufsausbildung. Die Verkürzung der Wartezeit habe nur dort Sinn, wo nicht bereits Berufsjahre zurückgelegt worden seien. Dabei spiele es keine Rolle, in welchem Bundesland die Berufsjahre zurückgelegt worden seien. Eine andere Auslegung würde nämlich zu dem ungereimten Ergebnis führen, dass die eigenen "Landeskinder" benachteiligt würden. Hierfür sei ein Grund nicht ersichtlich.

9

Gegen diesen ihm am 19.02.2001 zugestellten Beschluss hat der Antragsgegner am 16.03.2001 Beschwerde eingelegt und diese nach Verlängerung bis zum 17.05.2001 am 17.05.2001 begründet.

10

Der Antragsgegner verbleibt bei der erstinstanzlich bereits vertretenen Auffassung zur Auslegung des Tarifvertrages und macht darüber hinaus geltend, die Klägerin sei tatsächlich nicht eingruppiert worden, weil sie in den Jahren 1972 bis 1976 in dem elterlichen Betrieb gearbeitet habe. Dieser habe nicht zu dem Geltungsbereich eines Tarifvertrages gehört. Vergütung sei lediglich allgemein vereinbart worden. Insbesondere könne ein Tarifvertrag Regelungen nur innerhalb seines Geltungsbereiches treffen. Wenn der Tarifvertrag Einzelhandel Niedersachsen in § 4 formuliere "ab 01.05.1991 erstmals eingruppierte Angestellte mit einer abgeschlossenen Verkäuferausbildung werden in das 2. Berufsjahr eingestuft", könne damit nur gemeint sein, dass erstmals nach diesem Tarifvertrag eingruppierte Angestellte hierzu gehörten. Die Tarifvertragsparteien, die für das Land Niedersachsen tarifliche Regelungen treffen, könnten nur diesen Geltungsbereich erfassen. Wenn diese Tarifvertragsparteien Regelungen treffen würden, die unter bestimmten Voraussetzungen Teile der Tarifunterworfenen begünstigten, könnte durchaus das Problem entstehen, dass Arbeitnehmer, die diesem Tarifvertrag bisher nicht unterworfen seien, in den Genuss dieser günstigen Regelung kämen, weil die Abgrenzungsmerkmale, die sie von dieser Regelung ausschließen, gerade auf sie nicht zutreffen. Auch bei Landesgesetzen bzw. Verordnungen komme es nicht selten vor, dass die "Landeskinder" nicht besser behandelt würden als diejenigen, die von außerhalb kommend Leistungen entsprechend dieser Gesetze in Anspruch nehmen. Hätten die Tarifvertragsparteien eine unterschiedliche Behandlung vermeiden wollen, hätten sie die Regelung mit einem anderen Wortlaut treffen müssen. Dies sei jedoch nicht geschehen.

11

Der Antragsgegner beantragt - nach Abschluss eines Teilvergleichs in der Beschwerdeinstanz - noch:

unter Abänderung des Beschlusses des Arbeitsgerichts Wilhelmshaven vom 29.01.2001 wird der Antrag des Arbeitgebers auf Zustimmungsersetzung zur Umgruppierung der Angestellten ... S. zurückgewiesen.

12

Die Antragstellerin beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

13

Die Antragstellerin verbleibt bei der erstinstanzlich bereits vertretenen Auffassung zur Auslegung des Tarifvertrages und macht geltend, die Mitarbeiterin ... S. sei nicht erstmals im Sinne des Tarifvertrages eingruppiert worden und entsprechend der Gehaltsgruppe G II 5. Berufsjahr des Tarifvertrages zuzuordnen. Nach dem vollständigen Wortlaut in § 4 des Tarifvertrages deute nichts darauf hin, dass es auf eine erstmalige Eingruppierung in Niedersachsen ankomme. Erforderlich sei der erste Eintritt in das Berufsleben "überhaupt". Unerheblich sei, dass der Tarifvertrag nicht "erster Eintritt in das Berufsleben", sondern "erstmalige Eingruppierung" formuliert habe, denn beide Formulierungen unterschieden sich aus Sicht der Tarifparteien überhaupt nicht.

14

Wegen der weiteren Einzelheiten des beiderseitigen Beteiligtenvorbringens wird auf den vorgetragenen Inhalt der zu den Akten gereichten Schriftsätze und deren Anlagen Bezug genommen, insbesondere den Schriftsatz des Antragsgegners vom 17.05.2001 (Bl. 130 - 134 d. A.) und den Schriftsatz der Antragstellerin vom 24.07.2001 (Bl. 181 - 186 d. A.).

15

II.

Die Beschwerde ist statthaft, sie ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 87 Abs. 2, 89, 86 ArbGG); sie ist damit insgesamt zulässig.

16

Die Beschwerde ist jedoch nicht begründet.

17

Zu Recht hat das Arbeitsgericht Wilhelmshaven festgestellt, dass die Arbeitnehmerin ... S. in Vergütungsgruppe G II 5. Berufsjahr des Tarifvertrages einzugruppieren und die Zustimmung des Betriebsrates dementsprechend zu ersetzen ist.

18

Gemäß § 99 BetrVG hat der Arbeitgeber in Betrieben mit in der Regel mehr als 20 wahlberechtigten Arbeitnehmern den Betriebsrat vor jeder Einstellung, Eingruppierung, Umgruppierung und Versetzung zu unterrichten, ihm die erforderlichen Bewerbungsunterlagen vorzulegen und Auskunft über die Person der Beteiligten zu geben; er hat dem Betriebsrat unter Vorlage der erforderlichen Unterlagen Auskunft über die Auswirkungen der geplanten Maßnahme zu geben und die Zustimmung des Betriebsrates zu der geplanten Maßnahme einzuholen. Gemäß § 99 Abs. 2 BetrVG kann der Betriebsrat die Zustimmung unter anderem dann verweigern, wenn die personelle Maßnahme gegen ein Gesetz, eine Verordnung, eine Unfallverhütungsvorschrift oder gegen eine Bestimmung aus einem Tarifvertrag oder einer Betriebsvereinbarung oder gegen eine gerichtliche Entscheidung oder eine behördliche Anordnung verstoßen würde. Gemäß § 99 Abs. 2 Ziffer 4 BetrVG kann die Zustimmung verweigert werden, wenn der betroffene Arbeitnehmer durch die personelle Maßnahme benachteiligt wird, ohne dass dies aus betrieblichen oder in der Person des Arbeitnehmers liegenden Gründen gerechtfertigt ist.

19

Gemäß § 99 Abs. 4 BetrVG kann der Arbeitgeber beim Arbeitsgericht beantragen, die Zustimmung zu ersetzen, wenn der Betriebsrat seine Zustimmung verweigert.

20

Letztere Situation ist im vorliegenden Fall eingetreten. Mit Schreiben vom 02.12.1999 verweigerte der Betriebsrat, der Antragsgegner, die Zustimmung zur Umgruppierung der Arbeitnehmerin ...S. Er berief sich darauf, dass die Mitarbeiterin zu Recht in Vergütungsgruppe G II 7. Berufsjahr des Tarifvertrages eingestuft sei. Bedenken gegen den ordnungsgemäßen formalen Ablauf der Betriebsratsbeteiligung bestehen nicht, weil bereits im November 1999 eine Anhörung erfolgte und der Betriebsrat dann innerhalb der Wochenfrist des § 99 Abs. 3 BetrVG die Verweigerung der Zustimmung mitgeteilt hat.

21

Der Betriebsrat hat seine Zustimmung zur Umgruppierung zu Unrecht verweigert, denn die richtige Vergütungsgruppe ist G II 5. Berufsjahr.

22

Auf das Arbeitsverhältnis der betroffenen Arbeitnehmerin findet kraft arbeitsvertraglicher Inbezugnahme und Allgemeinverbindlichkeitserklärung der Gehalts- und Lohntarifvertrag des Einzelhandel Niedersachsens in der Fassung vom 01.05.2000 Anwendung.

23

Die für die Vergütung der Arbeitnehmerin ...S. maßgebenden Vorschriften lauten:

Angestellte, die erstmalig von der Gehaltsgruppe I in die Gehaltsgruppe II eingruppiert werden, erhalten in der Ortsklasse I 2.323,00 DM und in der Ortsklasse II 2.311,00 DM (2.295,00 DM).

Ortsklasse I ab 1.5./01.06.2000* - 30.04.2001

pro Monatpro Stunde
2.Berufsjahr2.500,00 DM15,34 DM
3.Berufsjahr2.717,00 DM16,67 DM
4.Berufsjahr2.741,00 DM16,82 DM
5.Berufsjahr2.809,00 DM17,23 DM
6.Berufsjahr3.058,00 DM18,76 DM
7.Berufsjahr3.535,00 DM21,69 DM

Berufsjahre sind einschlägige Tätigkeitsjahre nach Abschluß der Berufsausbildung.

Ab 1. Mai 1991 erstmals eingruppierte Angestellte mit einer abgeschlossenen Verkäuferausbildung werden in das 2. Berufsjahr eingestuft. Ab 1. Mai 1988 wurden entsprechende Angestellte in das 1. Berufsjahr eingestuft.

Nach abgeschlossener Berufsausbildung nach dem Berufsbild zum Kaufmann im Einzelhandel/zur Kauffrau im Einzelhandel vom 14. Januar 1987 oder nach dem Berufsbild Einzelhandelskaufmann vom 27.03.1968 bzw. nach der Ausbildungsordnung Reiseverkehrskaufmann/-kauffrau, Schaufenster-/Schauwerbegestalterinnen, Bürokaufmann/-kauffrau oder bei sonstiger einschlägiger dreijähriger Berufsausbildung gilt bei erstmaliger Eingruppierung ab 01.05.1991 nach erfolgreicher Abschlußprüfung das 2. Berufsjahr als zurückgelegt. Diese Angestellten werden in das 3. Berufsjahr der Gehaltsgruppe II eingestuft. Im übrigen werden mit Wirkung vom 01.05.1988 die Eingruppierungen nach der Zahl der tatsächlich zurückgelegten Berufsjahre durchgeführt.

24

Danach erfüllt die Mitarbeiterin S. die Voraussetzungen der Gehaltsgruppe G II 5. Berufsjahr des Tarifvertrages. Die in der Zeit von 1972 bis 1976 abgeleisteten Berufsjahre in dem außerhalb Niedersachsens gelegenen elterlichen Betrieb sind anzurechnen, nicht aber zwei weitere Berufsjahre aufgrund der abgeschlossenen Verkäuferausbildung, weil die Klägerin nicht im Sinne des Tarifvertrages "erstmals eingruppiert" wird.

25

Allein streitentscheidend für die Frage, ob die Klägerin nach dem 7. Berufsjahr oder dem 5. Berufsjahr der Gehaltsgruppe II des Tarifvertrages Einzelhandel Niedersachsen eingruppiert ist, ist die Auslegung des Begriffes "bei erstmaliger Eingruppierung ab 01.05.1991". Die Bedeutung dieses Satzteiles bedarf der Auslegung.

26

Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrages folgt nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Auszugehen ist zunächst vom Tarifwortlaut. Zu erforschen ist der maßgebliche Sinn der Erklärung, ohne am Buchstaben zu haften. Der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien und damit der von ihnen beabsichtigte Sinn und Zweck der Tarifnorm sind mit zu berücksichtigen, soweit sie in den tariflichen Normen ihren Niederschlag gefunden haben. Auch auf den tariflichen Gesamtzusammenhang ist abzustellen. Verbleiben noch Zweifel, können weitere Kriterien wie Tarifgeschichte, praktische Tarif Übung und Entstehungsgeschichte des jeweiligen Tarifvertrages ohne Bindung an eine bestimmte Reihenfolge berücksichtigt werden. Im Zweifel ist die Tarifauslegung zu wählen, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Lösung führt (BAG 20.04.1994 - 10 AZR 276/93 - AP BAT §§ 22, 23 Zulagen Nr. 11 m.w.N.; zuletzt BAG vom 21.03.2001 - 10 AZR 41/00 -, DB 2001, 1510 ff.).

27

Nach dem Wortlaut des Satzteiles "erstmaliger Eingruppierung" ist zwar die Auslegung möglich, dass eine Eingruppierung nur in dem Tarifgebiet des Tarifvertrages oder eine Eingruppierung in die Vergütungssystematik dieses Tarifvertrages gemeint ist. Dies entspricht jedoch weder dem Sinn und dem Zweck des Tarifvertrages noch dem im Tarifvertrag zum Ausdruck gekommenen Willen der Tarifvertragsparteien noch praktischer Tarifübung.

28

Sinn und Zweck, dem im Tarifvertrag zum Ausdruck gekommenen Willen und praktischer Tarifübung entspricht es, den Satzteil "erstmalig eingruppiert" gleichzusetzen mit "erstmalig eine Berufstätigkeit im Einzelhandel aufnehmen", unabhängig davon, in welchem Tarifgebiet dies geschehen ist und unabhängig davon, ob der Einzelhandelsbetrieb einem Tarifvertrag - insbesondere dem Tarifvertrag Einzelhandel Niedersachsen - unterfiel oder nicht.

29

Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zu Auslegungsfragen bei Eingruppierungen der Tarifverträge des Einzelhandels in der Bundesrepublik Deutschland wird der Begriff "erstmalig eingruppiert" gleichgesetzt mit der erstmaligen Aufnahme einer Berufstätigkeit im Einzelhandel < (vgl. z. B. BAG vom 06.08.1997 - 10 AZR 703/96 - II 2 der Gründe (betr. eine Verkäuferin für den Hessischen Einzelhandel); BAG vom 28.09.1994 - 4 AZR 738/93 - DB 1995, 1568 - 1569 (betr. den Gehaltstarifvertrag Einzelhandel Nordrhein-Westfalen)>. "Erstmalig eingruppiert" heißt "nicht bereits eingruppiert worden sein". Das Wort "erstmalig" bedeutet "zum ersten Mal stattfindend" (Wahrig, Deutsches Wörterbuch 2000 S. 437). Daraus folgt: Unterschieden wird nach der erstmaligen Aufnahme einer Berufstätigkeit.

30

Erkennbarer Zweck der Regelung ist, den Zeitraum zu verkürzen, in dem einschlägig Ausgelernte das Endgehalt erreichen sollen. Ihm ist der Wille der Tarifvertragsparteien zu entnehmen, von den niedrigen Lohngruppen abzukommen und weniger Arbeitnehmer den Niedriglohngruppen zuordnen zu müssen soweit sie einschlägig ausgebildet sind. Anrechnungsregeln erreichen dieses Ziel. Eine Berücksichtigung derer, die bereits Berufsjahre auf weisen, ist zur Erreichung dieses Ziels nicht erforderlich.

31

Mit der Regelung ist gleichfalls eine verkappte Tariflohnerhöhung verbunden. Die Stichtagsregelung dient ausschließlich dazu, die finanziellen Auswirkungen und Belastungen der Arbeitgeber durch die neue Regelung zu beschränken. Eine tarifliche Stichtagsregelung über die Anrechnung von Beschäftigungsjahren als Berufsjahre bei Gehaltsstufen ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden (BAG vom 28.09.1994 - 4 AZR 738/93 - in DB 1995, 1568 - 1569; BAG vom 28.09.1994 - 4 AZR 748/93 - n.v.). Die Vertragsparteien wollen nämlich beim Aushandeln tarifvertraglicher Regelungen abschätzen, welche Belastung durch die Neuregelung auf sie zukommt. Finanzielle und finanzpolitische Erwägungen rechtfertigen unterschiedliche Regelungen. Abgesehen davon gleichen sich die Unterschiede und Folgen einer Stichtagsregelung im vorliegenden Sinne im Laufe von wenigen Jahren aus (vgl. hierzu auch BAG vom 28.09.1994 a. a. O.).

32

Es ist unvermeidlich, dass bei Pauschalierungen, die im Gesetzes- und Tarifrecht im Interesse der Praktikabilität vorgenommen werden, gewisse Härten vorkommen. Bei Tarifverträgen muß berücksichtigt werden, dass sie zwischen gleichstehenden Parteien im einzelnen ausgehandelt werden. Es muss ihnen überlassen bleiben, in eigener Verantwortung unter Umständen Zugeständnisse in einer Richtung mit Vorteilen in anderen Bereichen auszugleichen. Die Anrechnung der Ausbildungsjahre als Berufsjahre nur bei den Angestellten vorzunehmen, die nach dem 01.05.1991 erstmals ihre Berufstätigkeit innerhalb des Einzelhandelsbereiches aufnehmen, ist auch einleuchtend, weil diese Arbeitnehmer keine anzurechnenden Berufsjahre haben.

33

Die Unterscheidung nach der erstmaligen Aufnahme einer Berufstätigkeit vor oder nach einem bestimmten Stichtag gibt auch Sinn. Der Tarifvertrag unterscheidet innerhalb der Berufsjahre weder nach Tätigkeiten innerhalb eines bestimmten Betriebes noch nach Tarifbezirken. Er knüpft an die Tätigkeit im gesamten fachlichen Geltungsbereich des Gehalts- und Lohntarifvertrages, d. h. in allen Betrieben des Einzelhandels, an (vgl. hierzu auch BAG vom 21.03.2001 - 10 AZR 41/00 -, a. a. O. zu B II 2 a der Gründe). Die Einstufung in bestimmte Gruppen und die damit verbundene Vergütungshöhe knüpft an die Qualifizierung des Arbeitnehmers und die von ihm geleisteten Berufsjahre an, die Berufserfahrung mit sich bringen und dadurch auch erhöhte Qualität der Arbeitsleistung. Inhalt und Dauer einer Ausbildung sind in der Praxis nahezu aller Lohn- und Gehaltstarifverträge Merkmale, die für die Eingruppierung des Arbeitnehmers in Lohn- oder Gehaltsgruppen maßgebend sind. Dabei kann sowohl eine längere oder qualifiziertere Ausbildung einer höheren Lohngruppe zugeordnet werden als auch der Ausbildung eine größere Zahl von Berufsjahren zugerechnet werden um ein höheres Entgelt zu erreichen. Belohnt werden soll mit der Höherstufung die höhere Qualifikation (vgl. hierzu BAG vom 06.08.1997 - 10 AZR 703/96 - AP Nr. 62 zu § 1 Tarifvertragsgesetz). Unerheblich hierfür ist jedoch, wo die Ausbildung und die Berufsjahre erworben worden sind. Qualifizierung durch Berufserfahrung kann ebenso im gesamten Bundesgebiet erworben werden wie die Einzelhandelsausbildung selbst. Das stellt unser duales Ausbildungssystem in Deutschland sicher, das nach einheitlichen Industrie- und Handelskammerregelungen bundesweit durchgeführt wird.

34

Konsequent ist daher nur, nicht auf den bestimmten räumlichen Geltungsbereich des Tarifvertrages abzustellen. Angeknüpft wird an alle Bereiche des Einzelhandels und nicht an die Erbringung der Tätigkeit nur im Gebiete des Landes Niedersachsen.

35

Folgte man der Argumentation des Betriebsrates, ein Tarifvertrag könne nur innerhalb seines Geltungsbereichs Regelungen treffen über Umstände, die innerhalb seines Regelungsbereiches erfolgt sind, würde sich auch die Frage stellen, inwieweit die von den Arbeitnehmern in anderen Bundesländern erworbenen Berufsjahre bei der Eingruppierung in den Tarifvertrag Niedersachsen berücksichtigt werden dürften. Die Annahme, dass entsprechende Einschränkungen gelten sollten, ist dem Tarifvertrag jedoch nicht zu entnehmen. Dass diese Auslegung von den Tarifvertragsparteien nicht gewollt ist, liegt auf der Hand.

36

Im übrigen ist die Annahme einer "tarifübergreifenden Regelung" auch nicht zutreffend. Tatsächlich regeln die Tarifvertragsparteien nicht tarifübergreifend. Die Bestimmungen entfalten nur im Geltungsbereich des Tarifvertrages selbst Wirkung. Die Tarifvertragsparteien setzen die Voraussetzungen für die Eingruppierungen ihres Geltungsbereiches fest. Sie knüpfen hierbei lediglich auch an außerhalb erworbenes Wissen an. Das ist keine tarifübergreifende Regelung. Im übrigen ist es nicht zutreffend, dass eine andere Auslegung der Norm eine unterschiedliche Behandlung zwischen "Landeskindern" und "von außerhalb Kommenden" nur vermeiden würde. Vielmehr ist die Ansicht richtig, dass die eigenen "Landeskinder" benachteiligt würden.

37

Auch aus der Bezugnahme der Ausbildungen vom 04.01.1987 und vom 22.03.1968 ergibt sich nichts anderes. Die Formulierung im Tarifvertrag macht lediglich deutlich, dass nicht nur Berufsanfänger mit Prüfungsabschluss ab 01.05.1991, sondern auch solche mit Prüfungen nach früheren Prüfungsordnungen, also "ältere" Arbeitnehmer von der Regelung erfaßt werden können, vorausgesetzt, sie werden nach dem 01.05.2000 "erstmalig eingruppiert", beginnen also nach diesem Zeitpunkt erstmalig ihre Berufstätigkeit im Einzelhandel.

38

Insgesamt war daher festzustellen, dass die Arbeitnehmer in S. zutreffend in die Vergütungsgruppe G II 5. Berufsjahr des Gehalts- und Lohntarifvertrages des Einzelhandels Niedersachsen vom 01.05.2000 einzugruppieren war, weil die im elterlichen Betrieb erbrachten Jahre als Berufsjahre angerechnet werden, die Ausbildungszeit jedoch keine (weitere) Anrechnung rechtfertigt.

39

Der Antrag der Arbeitgeberin war deshalb gem. § 99 BetrVG begründet, die Zustimmung zur Umgruppierung in Vergütungsgruppe G II 5. Berufsjahr zu ersetzen.

40

Die Rechtsbeschwerde war gem. §§ 92 Abs. 1, S. 2 i.V.m. 72 Abs. 2 ArbGG zuzulassen.

Stöcke-Muhlack,
Groß,
Weisbrich