Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Urt. v. 29.04.1994, Az.: 3 Sa 2192/93

Lohnzahlungsansprüche für Zeiten der Ausübung einer Ratstätigkeit; Beeinträchtigungen der ungehinderten Übernahme und Ausübung eines Ratsmandats ; Kollisionsnorm; Freistellungsverpflichtung aus § 39 Abs. 2 NGO

Bibliographie

Gericht
LAG Niedersachsen
Datum
29.04.1994
Aktenzeichen
3 Sa 2192/93
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1994, 10762
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LAGNI:1994:0429.3SA2192.93.0A

Verfahrensgang

vorgehend
ArbG Verden (Aller) - 18.11.1993 - AZ: 2 Ca 50/93
nachfolgend
BAG - 20.06.1995 - AZ: 3 AZR 857/94

Fundstelle

  • DB 1995, 226 (Volltext mit amtl. LS)

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Das Ratsmitglied ist bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 39 Abs. 2 NGO - Ausübung von Ratstätigkeit - in entsprechendem Umfang von der Verpflichtung zur Arbeitsleistung von Gesetzes wegen befreit.

  2. 2.

    Es bedarf lediglich der rechtzeitigen Mitteilung der Ausübung der Mandatstätigkeit.

  3. 3.

    § 39 NGO bewirkt nicht nur die Befreiung von der Anwesenheitspflicht, sondern verlangt darüber hinaus auch die Entlastung beim Arbeitsvolumen selbst.

In dem Rechtsstreithat die 3. Kammer des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen
auf die mündliche Verhandlung vom 29. April 1994
durch
ihre Mitglieder
für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Verden (Aller) vom 18.11.1993 - 2 Ca 50/93 - abgeändert.

Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 280,23 DM brutto abzüglich 206,25 DM netto

nebst 4 % Zinsen

  1. a)

    aus den sich ergebenden Nettobetrag aus 239,47 DM brutto abzüglich 176,25 DM netto seit dem 14.01.1993

  2. b)

    aus den sich ergebenden Nettobetrag aus 40,76 DM brutto abzüglich 30,00 DM netto seit dem 01.02.1993

zu zahlen.

Weiter wird festgestellt, daß die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger ab 01.01.1993 Lohn für ausgefallene Arbeitsstunden aus Anlaß seiner Ratsherrentätigkeit in der Gemeinde Heeslingen nebst 4 % auf den sich jeweils ergebenden Nettobetrag ab jeweiliger monatlicher Fälligkeit zu zahlen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

1

Die Parteien streiten über Lohnzahlungsansprüche des Klägers für Zeiten der Ausübung von Ratstätigkeit.

2

als auch des Rates der Gemeinde Heeslingen. Bis zum 31.03.1992 glich die Beklagte dem Kläger den aus Anlaß der Ausübung von Ratstätigkeiten entstehenden Lohnausfall aus. Seit dem 01.04.1992 stellte die Beklagte den Kläger für solche Tätigkeiten nur noch von der Arbeitsleistung frei, ohne Lohnausfall zu zahlen. Während dem Kläger von der Samtgemeinde Zeven der entstehende Lohnausfall in vollem Umfange erstattet wird, zahlt die Gemeinde Heeslingen nach ihrer Satzung über die Entschädigung für ehrenamtliche Tätigkeiten vom 06.05.1977 dem Kläger für Ratsherrentätigkeiten nur einen Verdienstausfall in Höhe von 15,00 DM.

3

Wegen der weiteren Einzelheiten des erstinstanzlichen Sach- und Streitstandes wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils Bezug genommen.

4

Durch dieses Urteil vom 18.11.1993 hat die 2. Kammer des Arbeitsgerichts Verden die Klage abgewiesen, dem Kläger die Kosten des Rechtsstreits auferlegt, den Streitwert auf 369,90 DM (Berichtigungsbeschluß vom 24.11.1993) festgesetzt sowie schließlich die Berufung zugelassen. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Entscheidungsgründe wiederum Bezug genommen.

5

Mit der Berufung verfolgt der Kläger sein erstinstanzliches Zahlungs- und Feststellungsbegehren nach näherer Maßgabe seiner Berufungsbegründung vom 24.02.1994 weiter.

6

Der Kläger beantragt nunmehr,

7

unter Abänderung des angefochtenen Urteils

  1. 1.

    die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger DM 280,23 brutto abzüglich DM 206,25 netto nebst 4 % Zinsen aus dem sich ergebenden Nettobetrag auf DM 239,47 brutto abzüglich DM 176,25 brutto seit 14.01.1993 und auf DM 40,76 brutto abzüglich DM 30,00 netto seit dem 01.02.1993 zu zahlen,

  2. 2.

    festzustellen, daß die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger ab 01.01.1993 Lohn für ausgefallene Arbeitsstunden aus Anlaß seiner Ratsherrentätigkeit in der Gemeinde Heeslingen gem. § 10 Ziff. 1 b MTV des für die Arbeitnehmer und Auszubildenden in der Milch-, Käse- und Schmelzkäseindustrie vom 16.03.1989 nebst 4 % Zinsen auf den sich jeweils ergebenden Nettobetrag ab jeweiliger monatlicher Fälligkeit zu zahlen.

8

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

9

Sie verteidigt die angefochtene Entscheidung nach Maßgabe ihres Schriftsatzes vom 07.03.1994.

Entscheidungsgründe

10

Die Berufung des Klägers ist begründet.

11

Die Beklagte ist verpflichtet, dem Kläger für 13,75 Stunden Ratsherrentätigkeit in der Zeit vom 01.04. bis zum 31.12.1992 einen Differenzbetrag in Höhe von insgesamt 280,23 DM brutto abzüglich von der Gemeinde Heeslingen gezahlter 206,25 DM netto nebst Rechtshängigkeitszinsen aus den sich ergebenden Nettobeträgen zu zahlen.

12

Auf den gemäß § 256 ZPO zulässigen Feststellungsantrag ist weiter festzustellen, daß die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger ab 01.01.1993 Lohn für ausgefallene Arbeitsstunden aus Anlaß seiner Ratsherrentätigkeit in der Gemeinde Heeslingen nebst 4 % Zinsen auf den sich jeweils ergebenden Nettobetrag ab jeweiliger monatlicher Fälligkeit zu zahlen.

13

Die Zahlungsansprüche folgen aus § 10 Ziff. 1 b des Manteltarifvertrages für die Arbeitnehmer und Auszubildenden in der Milch-, Käse- und Schmelzkäseindustrie (MTV) i.V.m. § 39 der Niedersächsischen Gemeindeordnung (NGO) vom 04.03.1955 (GVBl. Sb I S. 126), zuletzt geändert, soweit ersichtlich, durch Gesetz vom 09.09.1993 (GVBl. S. 359).

14

§ 39 Abs. 2 Satz 2 NGO bestimmt, daß ein Ratsmitglied, das in einem Dienst- oder Arbeitsverhältnis steht, aus diesem Grunde nicht entlassen oder ihm gekündigt werden darf, weiter, daß ihm "die für seine Tätigkeit notwendige freie Zeit zu gewähren" ist. Mit dieser Schutzvorschrift soll die ungehinderte Übernahme und Ausübung des Ratsmandats als eine ganz wesentliche Voraussetzung für das Funktionieren einer demokratischen Kommunalverfassung gewährleistet werden. Es macht für die Rechtswidrigkeit von Beeinträchtigungen keinen Unterschied, ob die Einwirkungen, z.B. als Verbote, unmittelbar auf Behinderung abzielen oder diese nur mittelbar bewirken, z.B. durch Vorenthaltung der notwendigen freien Zeit, Anberaumung kollidierender Termine, an denen das Ratsmitglied gezwungenermaßen teilnehmen muß, oder sonstige ungerechtfertigte Arbeits- und/oder Gehaltsnachteile als Folge der Ratszugehörigkeit. Zu der geschützten Tätigkeit eines Ratsmitgliedes zählt nicht nur die Teilnahme an Rats- und Ausschußsitzungen, dazu gehören vielmehr alle Tätigkeiten, die sich aus der Wahrnehmung des Mandats ergeben, also z.B. auch Fraktionssitzungen, Mitwirkungen in Kommissionen und Arbeitskreisen, Teilnahme an Verwaltungs- und Aufsichtsratssitzungen kommunaler Eigen- oder Beteiligungsgesellschaften, Sitzungen von Vereinigungen, in denen die Gemeinde Mitglied ist, Besprechungen, Besichtigungen, Empfänge und Veranstaltungen, zu denen Vertreter des Rates geladen sind oder erwartet werden. Die Grenzen können nicht eng gezogen werden, weil die Anforderungen an die Ratsmitglieder ständig gewachsen sind und weiter wachsen (zutreffend Lüersen/Neuffer, Niedersächsische Gemeindeordnung, Stand 17. Nachlieferung Mai 1994, § 39 Anm. 4). Dies gilt in verstärkter Weise für Mandatsträger wie Ratsvorsitzende, Vertreter des Ratsvorsitzenden, Beigeordnete, Mitglieder des Samtgemeindeausschusses, Fraktionsvorsitzende usw.

15

Das Ratsmitglied hat seinem Arbeitgeber bzw. Dienstherren rechtzeitig mitzuteilen, wann es wegen seiner Mandatstätigkeit dem Dienst fernbleibt, damit der Arbeitgeber/Dienstherr entsprechend disponieren kann. Weder dem privatrechtlichen Arbeitgeber noch den öffentlich-rechtlichen Dienstherrn steht freilich die Befugnis zu, jeweils zu prüfen, ob das Ratsmitglied für seine Ratstätigkeit freizustellen ist. Vielmehr ist das Ratsmitglied bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 39 Abs. 2 NGO - Ausübung von Ratstätigkeit - in entsprechendem Umfang von der Verpflichtung zur Arbeitsleistung von Gesetzes wegen befreit. Andernfalls wäre nämlich dem Arbeitgeber/Dienstherrn die Möglichkeit eingeräumt, auf die im öffentlichen Interesse erfolgende Tätigkeit der Gemeindevertretung Einfluß zu nehmen. Nach der Regelung des § 39 Abs. 2 NGO hat indessen das öffentliche Interesse an der ungehinderten Mandatsausübung grundsätzlich Vorrang vor dem betrieblichen und dienstlichen Interesse des Arbeitgebers/Dienstherrn.

16

Dabei bewirkt die gesetzliche Regelung nicht nur im Sinne einer reinen "Kollisionsnorm" die Befreiung von der Anwesenheitspflicht, sondern verlangt darüber hinaus auch die Entlastung beim Arbeitsvolumen selbst (zutreffend Schneider/Jordan, Hessische Gemeindeordnung, Kommentar, Erl. §§ 35, 35 a. 36 Anm. 2.3; OVG Münster DVBl. 1983 S. 1116). Dies ist insbesondere dann von Bedeutung, wenn das Ratsmitglied gar keinen oder nur einen Teil seiner Arbeits- oder Dienstzeit innerhalb eines festgesetzten Rahmens verbringen muß, z.B. bei gleitender Arbeitszeit. Das vorrangige öffentliche Interesse an der ungehinderten Mandatsausübung verlangt, daß das Ratsmitglied während der Zeit, in der es Ratstätigkeit erledigt, nicht nur von seiner beruflichen Tätigkeit freigestellt ist, sondern auch, daß ihm für die verbleibende Arbeits- oder Dienstzeit kein Arbeitspensum aufgebürdet wird, das auf eine nicht durch Ratstätigkeit verringerte Arbeits- oder Dienstzeit zugeschnitten ist. Damit käme letztlich das Ratsmitglied in die Zwangslage, entweder seine Ratsaufgaben oder seine dienstlichen Aufgaben zu vernachlässigen. Eine derartige Konfliktsituation muß der Arbeitgeber/Dienstherr vermeiden, indem er der Anspruchnahme des Ratsmitgliedes durch Ratstätigkeit bei der Zuweisung der zu bewältigenden Arbeitsmenge in angemessener Weise Rechnung trägt. Nur dadurch wird der Freistellungsverpflichtung aus § 39 Abs. 2 NGO ordnungsgemäß Rechnung getragen (vgl. insoweit BAG Beschluß vom 27.06.1990 - 7 ABR 43/89 - zu der nach der Rechtsstruktur vergleichbaren Vorschrift des § 37 Abs. 2 BetrVG 1972). Diesen Zusammenhang übersieht übrigens, ohne daß es hier weiter darauf ankäme, der Sechste Senat des Bundesarbeitsgerichts in seinem Urteil vom 16.12.1993 - 6 AZR 236/93 -, der die in dem dort entschiedenen Fall anzuwendende Vorschrift des § 30 Abs. 6 Gemeindeordnung Nordrhein-Westfalen nicht vertieft thematisiert.

gez. Unterschriften