Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Urt. v. 08.12.1994, Az.: 7 Sa 574/94

Lohnanspruch nach einem Verbandswechsel des Arbeitgebers ; Nachwirkung eines Tarifvertrages; Auswirkungen des Austritts aus der Tarifgemeinschaft auf einen Arbeitsvertrag; Wegfall der Geschäftsgrundlage im Arbeitsrecht; Konkurrenz tariflicher Ansprüche mit vertraglichen Ansprüchen

Bibliographie

Gericht
LAG Niedersachsen
Datum
08.12.1994
Aktenzeichen
7 Sa 574/94
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1994, 10745
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LAGNI:1994:1208.7SA574.94.0A

Verfahrensgang

vorgehend
ArbG Wilhelmshaven 16.02.1994 - 1 Ca 245/93
nachfolgend
LAG Hannover 08.12.1994 - 7 Sa 574/94
BAG - 04.09.1996 - AZ: 4 AZR 135/95

In dem Rechtsstreit
hat die 7. Kammer des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen
auf die mündliche Verhandlung vom 8. Dezember 1994
durch
den Vorsitzenden Richter am Landesarbeitsgericht ...
den ehrenamtlichen Richter ... und
die ehrenamtliche Richterin
für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Wilhelmshaven vom 16.02.1994, 1 Ca 245/93, wird kostenpflichtig zurückgewiesen.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

1

Die Parteien streiten darüber, ob der Klägerin ab Mai 1992 ein Lohnanspruch nach dem einzelvertraglich vereinbarten und für sie günstigeren Gehalts- und Lohntarifvertrag für die Unternehmen der Tarifgemeinschaft der ... in Niedersachsen zusteht, oder ob nach einem Verbandswechsel der Beklagten der für allgemeinverbindlich erklärte Gehalts- und Lohntarifvertrag für die Betriebe des Einzelhandels in Niedersachsen Anwendung findet.

2

Die am 29. März 1960 geborene, tarifgebundene Klägerin war vom 13. März 1989 bis zum 31. Dezember 1992 bei der Beklagten als Abpackerin in der Filiale ... mit einer monatlichen Arbeitszeit von 34,67 Stunden beschäftigt. Dem Arbeitsverhältnis zugrunde lag der Arbeitsvertrag vom 13. März 1989, auf dessen Inhalt im übrigen Bezug genommen wird (Bl. 23, 24 d. A.). Nach Ziffer 2, dieses Vertrages wurde die Klägerin eingestuft in die Lohngruppen des Tarifvertrages für die Beschäftigten in den ... Niedersachsens. Ferner wurde in Ziffer 10. vereinbart, daß "der co op Manteltarifvertrag Bereich Einzelhandel und der in Ziffer 2. genannte Gehaltstarifvertrag (jeweils in den gültigen Fassungen)" auf diesen Vertrag Anwendung finden. Die Haustarife der ... sind filialbezogen strukturiert, die Tätigkeitsbereiche stellen auf Lebensmittelmarktbedingungen ab.

3

Die Tätigkeit der Klägerin bestand darin, Ware aus der ersten Umverpackung zu entnehmen und in die Regale zu stellen. Sie mußte, soweit noch nicht geschehen, dabei Preisauszeichnungen vornehmen. Die Regale mußten gegebenenfalls vor dem Einordnen gesäubert werden. Gleichzeitig hatte sie darauf zu achten, die Ware entsprechend der Mindesthaltbarkeit sinnvoll einzuordnen.

4

Mit Schreiben vom 14. April 1992 (Bl. 79, 80 d. A.) kündigte die Beklagte ihre Mitgliedschaft in der Tarifgemeinschaft der ... und der Zentralen Tarifgemeinschaft der ... zum 30. April 1992. Zum 1. April 1992 trat sie zudem in den Einzelhandelsverband Hannover e. V. ein. Sie zahlte der Klägerin ab 1. Mai 1992 eine Vergütung nach dem für allgemeinverbindlich erklärten Lohn- und Gehaltstarifvertrag für den Niedersächsischen Einzelhandel, der vornehmlich Tätigkeitsbereiche und Belange von Kaufhäusern betreibt. Die Klägerin wurde gemäß § 6 dieses Lohn- und Tarifvertrages in die Lohngruppe I eingestuft, die für Auffüllerinnen, Raumpflegerinnen und Spülhilfen gilt und einen Stundenlohn von 12,88 DM vorsieht.

5

Ebenfalls am 1. Mai 1992 trat ein neuer Gehalts- und Lohntarifvertrag abgeschlossen zwischen der Tarifgemeinschaft der ... in Niedersachsen und der ... in Kraft. In der Lohngruppe I b des § 4 dieses Tarifvertrages beträgt der monatliche Verdienst für Büfettkräfte, Abpacker und Abfüller 2.198,00 DM, was einem Stundenlohn von 13,48 DM entspricht.

6

Für die Monate September bis Dezember 1992 machte die Klägerin einen Lohnanspruch in Höhe von 1.868,02 DM mit Schreiben vom 27. Januar 1993 (Bl. 47 d. A.) geltend. Tatsächlich gezahlt hatte die Beklagte in diesem Zeitraum ein Gehalt in Höhe von 1.788,00 DM. Die Differenz von 80,02 DM begehrt die Klägerin mit der vorliegenden Klage, die sie primär auf die einzelvertraglich vereinbarte Geltung des Gehaltstarifvertrages für die ... und hilfsweise auch auf die Lohngruppe II a des Einzelhandelstarifvertrages stützt mit der Begründung, ihre Tätigkeit erfülle die einer Auszeichnen n im Sinne dieser Lohngruppe.

7

Das Arbeitsgericht hat durch ein den Parteien am 10. März 1994 zugestelltes Urteil vom 16. Februar 1994, auf dessen Inhalt zur näheren Darstellung des erstinstanzlichen Sach- und Streitstandes im übrigen Bezug genommen wird (Bl. 49-55 d. A.), die Beklagte zur Zahlung von 80,02 DM brutto nebst 4 % Zinsen aus dem sich daraus ergebenden Nettobetrag seit dem 01.01.1993 verurteilt. Zur Begründung hat es ausgeführt, daß die Beklagte zur Nachzahlung dieses Betrages aus dem Arbeitsvertrag verpflichtet sei. Hiernach sei die jeweils gültige Fassung des Gehalts- und Lohntarifvertrages für die Tarifgemeinschaft der ... anzuwenden. Die Klägerin könne deshalb ab dem 1. Mai 1992 den Lohn der Lohngruppe I b für Tätigkeiten der Abpackerinnen und Auffüllerinnen, die ohne besondere berufliche oder handwerkliche Vor- oder Ausbildung ausgeführt werden können, beanspruchen. Der Stundenlohn betrage 13,48 DM.

8

Es sei unerheblich, daß die Beklagte aus der Tarifgemeinschaft der ... ausgeschieden sei. Damit sei zwar ihre Tarifgebundenheit beendet worden, nicht aber ihre Bindung an den Arbeitsvertrag mit der Klägerin. Im Vergleich der Regelungen des Arbeitsvertrages mit dem allgemeinverbindlichen Gehalts- und Lohntarifvertrag für den Einzelhandel in Niedersachsen gelte das Günstigkeitsprinzip gemäß § 4 Abs. 3 TVG. Der Arbeitsvertrag sei hiernach im Vergleich der Löhne für die Klägerin günstiger. Nachdem die Parteien vertraglich die Geltung der jeweils gültigen Fassung des Gehaltstarifvertrages vereinbart hätten, sei auch nicht der Lohn- und Gehaltstarifvertrag für die Beschäftigten in co op-Unternehmen für 1989 maßgeblich, sondern der ab 01.05.1992 geltende.

9

Hiergegen richtet sich die am 6. April 1994 eingelegte und am 4. Mai 1994 begründete Berufung der Beklagten.

10

Die Beklagte ist der Auffassung, dem zwischen den Parteien abgeschlossenen Arbeitsvertrag sei zu entnehmen, daß das der Klägerin zu zahlende Tarifgehalt sowie etwaige übertarifliche Zulagen und sonstige Zuwendungen den jeweiligen kollektiven Vereinbarungen angepaßt werden könnten. Im Arbeitsvertrag sei auf den Tarifvertrag für die Beschäftigten der ... Bezug genommen worden. Damit habe dieser zwar unmittelbar, jedoch nicht unabdingbar gegolten. Die unmittelbare Wirkung sei mit der Kündigung der Tarifbindung zum 30.04.1992 weggefallen. Die Nachwirkung des zum 30.04.1992 gekündigten Lohn- und Gehaltstarif Vertrages für die Beschäftigten in den ... sei mit der Geltung des allgemeinverbindlichen Tarifvertrages für den Niedersächsischen Einzelhandel entfallen. Das Günstigkeitsprinzip würde zwischen zwei Tarifverträgen derselben Gewerkschaft keine Anwendung finden. Im übrigen gelte der Grundsatz der Tarifeinheit. Sie lege in ihren Betrieb fast ausschließlich nur noch den Lohn- und Gehaltstarifvertrag für den Niedersächsischen Einzelhandel den Dienstverhältnissen zugrunde.

11

Die Beklagte beantragt,

das am 16. Februar 1994 verkündete Urteil des Arbeitsgerichts Wilhelmshaven, 1 Ca 245/93, aufzuheben und die Klage abzuweisen.

12

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

13

Sie weist darauf hin, daß die Rechtsgrundlage für ihren Anspruch nicht im Tarifvertrag, sondern im Arbeitsvertrag liege. Der einzelvertragliche Anspruch sei durch den Verbandswechsel der Beklagten nicht berührt worden. Es gelte das Günstigkeitsprinzip, weil hier der Arbeitsvertrag und der Tarifvertrag konkurrieren, nicht aber zwei verschiedene Tarifverträge.

Entscheidungsgründe

14

Die Berufung der Beklagten ist statthaft. Sie ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden und damit insgesamt zulässig, §§ 518, 519 ZPO, 64, 66 ArbGG.

15

Sie ist jedoch nicht begründet. Das Arbeitsgericht hat zu Recht festgestellt, daß der Klägerin für die Monate September bis Dezember 1992 noch ein Zahlungsanspruch gegen die Beklagte in Höhe von 80,02 DM brutto nebst Zinsen zusteht.

16

Dieser Anspruch ergibt sich als vertraglicher Anspruch unmittelbar aus dem von den Parteien abgeschlossenen Arbeitsvertrag in Verbindung mit dem Lohn- und Gehaltstarifvertrag der ... sen in der ab dem 1. Mai 1992 gültigen Fassung. Die Parteien haben nämlich in Ziffer 10. des Arbeitsvertrages vom 13. März 1989 ausdrücklich vereinbart, daß der Gehaltstarifvertrag für die Beschäftigten in den ... in der jeweils gültigen Fassung Anwendung findet.

17

Die Klägerin war bei der Beklagten als Abpackerin eingestellt worden. Nach § 4 des Tarifvertrages steht ihr als Abpackerin und Auffüllerin mithin ein Lohn nach der Lohngruppe I b zu, was einem Stundenlohn von 13,48 DM brutto entspricht.

18

Für die Anwendbarkeit dieses Lohn- und Gehaltstarifvertrages ist es unerheblich, daß die Beklagte aus der Tarifgemeinschaft der ... zum 30.04.1992 ausgeschieden ist.

19

Zwar fiel durch ihr Ausscheiden die unmittelbare tarifliche Geltung des Tarifvertrages weg. Hierdurch wurde jedoch lediglich die Tarifgebundenheit gemäß § 3 Abs. 1 TVG beendet, so daß die Klägerin ihre Forderungen nicht mehr auf die neben dem vertraglichen Anspruch bestehende tarifliche Anspruchsgrundlage mit Erfolg stützen kann.

20

Die Frage der Nachwirkung des Lohn- und Gehaltstarif Vertrages gemäß § 3 Abs. 5 TVG stellt sich entgegen der von der Beklagten vertretenen Auffassung dabei nicht, da die Beklagte bereits vor Abschluß und vor Inkrafttreten des ab 1. Mai 1992 geltenden Tarifvertrages aus dem Verband ausgeschieden war. Ein Nachwirken setzt jedoch voraus, daß der Tarifvertrag noch zum Zeitpunkt der Tarifgebundenheit unmittelbare Geltung entfalten konnte.

21

Der Austritt aus der Tarifgemeinschaft der ... führt jedoch nicht zu einer automatischen Änderung des Inhalts des Arbeitsvertrages der Parteien, in dem die Geltung des Lohn- und Gehaltstarifvertrages der ... in der jeweils gültigen Fassung vereinbart war.

22

Diese Bezugnahme hat trotz der bei Abschluß des Vertrages noch vorliegenden Tarifbindung jedenfalls der Beklagten nicht nur deklaratorische Bedeutung. Der Beklagten ging es durch die Verwendung des Arbeitsvertragsformulares ersichtlich darum, sicherzustellen, daß die dort ausdrücklich aufgeführten Tarifverträge auf das Arbeitsverhältnis Anwendung finden, und zwar unabhängig davon, ob die Klägerin bereits damals tarifgebunden war und dies auch im weiteren Verlauf des Arbeitsverhältnisses blieb.

23

Dem Arbeitsvertrag kann auch nicht entnommen werden, daß jeweils die Tarifverträge Anwendung finden sollen, die der Tarifbindung der Beklagten entsprechen. Einer derartigen Auslegung steht der insoweit eindeutige Wortlaut des Vertragstextes entgegen. Hier ist ausdrücklich festgelegt, welcher Lohn- und Gehaltstarifvertrag Anwendung finden soll.

24

Anhaltspunkte dafür, daß die Beklagte berechtigt sein sollte, durch einseitigen Verbandsaustritt oder Verbandswechsel den Inhalt des Arbeitsvertrages ebenfalls einseitig ändern zu können, sind nicht ersichtlich. Ein derartiges einseitiges Gestaltungsrecht mag dem Interesse des Arbeitgebers, aber nicht dem Willen des betroffenen Arbeitnehmers entsprechen (vgl. hierzu Wiedemann/Arnold, Tarifkonkurrenz und Tarifpluralität in der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, ZTR 1994, Seite 399 ff., Seite 443 ff., hier Seite 447).

25

Vielmehr kann, wenn eine tarifliche Regelung wie vorliegend kraft vertraglicher Vereinbarung gilt, dieser vertragliche Lohnanspruch nicht einseitig durch den Arbeitgeber, sondern nur durch Änderungskündigung oder Aufhebungs- bzw. Änderungsvertrag beseitigt werden (so ausdrücklich BAG vom 15.03.1991, 2 AZR 582/90 und vom 15. März 1991, 2 AZR 591/90, EzA Nr. 16, 17 zu § 2 KSchG). Der vertragliche Anspruch bleibt mithin bestehen, obwohl die tariflichen Voraussetzungen mangels Fortbestehens der Tarifbindung der Beklagten nicht mehr vorliegen (BAG a.a.O.; Däubler, Tarifflucht - eine aussichtsreiche Strategie zur Reduzierung von Lohnkosten?, ZTR 1994, Seite 448, 451).

26

Der vertragliche Anspruch der Klägerin ist auch nicht nach den Grundsätzen des Wegfalls der Geschäftsgrundlage gemäß § 242 BGB entfallen. Als Geschäftsgrundlage in diesem Sinne werden nämlich angesehen die bei Abschluß des Vertrages zutage getretenen und dem anderen Teil erkennbar gewordenen und von ihm nicht beanstandeten Vorstellungen der einen Partei oder die gemeinsamen Vorstellungen beider Parteien von dem Vorhandensein oder dem künftigen Eintritt besonderer Umstände, sofern der Geschäftswille der Parteien auf diesen Vorstellungen aufbaut. Fällt diese Geschäftsgrundlage später weg, ist dies rechtlich nur dann von Bedeutung, wenn das Festhalten am bisherigen Vertrag ein Verstoß gegen Treu und Glauben wäre. Der Grundsatz der Vertragstreue darf nämlich nur durchbrochen werden, wenn dies notwendig ist, um untragbare, mit Recht und Gerechtigkeit unvereinbare Ergebnisse zu vermeiden, wenn also den Parteien das Festhalten an dem bisherigen Vertrag nicht mehr zugemutet werden kann. Dies ist nicht der Fall, wenn ein von den Parteien zur Grundlage des Geschäftswillens gemachter Umstand in den Risikobereich einer Partei fällt.

27

Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht gegeben. Zwar mag bei der Eingehung des Arbeitsverhältnisses die Tarifbindung der Beklagten oder beider Parteien zur Geschäftsgrundlage gehört haben. Es kann jedoch nicht davon ausgegangen werden, daß durch den Verbandswechsel der Beklagten ein mit Recht und Gerechtigkeit unvereinbares Ergebnis eingetreten ist. Zu berücksichtigen ist zum einen, daß bezüglich des hier im Streit stehenden Arbeitsverhältnisses noch nicht einmal ein Betrag von monatlich 30,00 DM brutto im Streit steht, so daß ein Verstoß gegen Treu und Glauben sicherlich nicht festgestellt werden kann. Hinzu kommt, daß es der Beklagten durchaus möglich und zumutbar ist, die individualrechtlichen Gestaltungsmittel zur Änderung bestehender vertraglicher Vereinbarungen anzuwenden. § 2 KSchG kann der Grundsatz entnommen werden, daß der Inhalt eines Arbeitsvertrages nur dann geändert werden kann, wenn die Voraussetzungen des § 1 Abs. 2 Satz 1 bis 3, Abs. 3 Satz 1 und 2 KSchG vorliegen. Für eine Anwendung der Grundsätze des Wegfalls der Geschäftsgrundlage besteht daneben bei der Vorliegenden Fallkonstellation kein Raum.

28

Dem vertraglichen Anspruch der Klägerin steht nicht entgegen, daß ab 1. April 1992 beide Parteien tarifgebunden hinsichtlich der Tarifverträge für den Niedersächsischen Einzelhandel waren, und daß zudem der diesbezügliche Lohn- und Gehaltstarifvertrag für allgemeinverbindlich erklärt worden ist. Entgegen der vom 4. Senat des Bundesarbeitsgerichts vertretenen Auffassung (BAG vom 20.03.1991, 4 AZR 455/90, EzA Nr. 7 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz) stellt sich vorliegend hinsichtlich der Vergütungsansprüche der Klägerin nicht die Frage der Tarifkonkurrenz oder Tarifpluralität, da hier nicht tarifliche Ansprüche untereinander, sondern tarifliche Ansprüche mit vertraglichen Ansprüchen konkurrieren. Nach ganz überwiegender Ansicht führt aber die einzelvertragliche Inbezugnahme eines Tarifvertrages lediglich dazu, daß die Normen des Tarifvertrages Inhalt des Arbeitsvertrages werden und deshalb lediglich arbeitsvertragliche Wirkung entfalten (BAG AP Nr. 96 und 100 zu §§ 22, 23 BAT; Hagemeyer/Kempen/Zachert/Zilius, TVG, § 3 Rdnr. 49 ff., 51; Wiedemann/Stumpf, TVG, § 3 Rdnr. 90, 91; Wiedemann/Arnold, ZTR 1994, Seite 443, 447). § 4 Abs. 3 TVG bestimmt nunmehr jedoch ausdrücklich, daß von einem Tarifvertrag abweichende Abmachungen zulässig sind, soweit sie eine Änderung der tariflichen Regelungen zugunsten des Arbeitnehmers enthalten. Hiervon weicht der 4. Senat des Bundesarbeitsgerichts ab, wenn er ausführt, für die Anwendung des Günstigkeitsprinzips sei kein Raum, da die Regeln zur Lösung einer Tarifkonkurrenz auch dann Anwendung finden sollen, wenn die Tarifkonkurrenz gerade erst auf schuldrechtliche Vereinbarung zurückzuführen ist. Dieses Urteil des Bundesarbeitsgerichts ist deshalb in der Literatur zu Recht auf Kritik gestoßen, da sie einen Eingriff in die einzelvertragliche Gestaltungsfreiheit und zudem einen Verstoß gegen § 4 Abs. 3 TVG darstellt (Frohenstatt, Der Betrieb 1992, Seite 1678, 1682 f.; Kraft, RdA 1992, Seite 161, 167; Merten, Betriebsberater 1993, Seite 572, 577 f.; Wiedemann/Arnold, ZTR 1994, Seite 443, 447: vgl. ferner Konzen, RdA 1978 Seite 146, 153 f.; B. Müller, NZA 1989, Seite 449, 451; Wiedemann/Stumpf, TVG, 5. Aufl., § 4 Rdnr. 164; Wiedemann/Arnold, Anm. zu BAG AP Nr. 16 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz; Löwisch/Rieple, TVG, § 4 Rdnr. 290 ff.; Zöllner/Loritz, Arbeitsrecht, 4. Aufl., Seite 379; Hagemeyer/Kempen/Zachert/Zilius, TVG, 2. Aufl., § 4 Rdz. 109; Däubler, Tarifvertragsrecht, 3. Aufl., Rdnrn. 1502 ff.; Kraft, RdA 1992, Seite 162 ff.; Reuter, Just 1992, Seite 105, 108 f.; Vogg, Anm. zu EzA § 4 TVG Tarifkonkurrenz Nr. 7; Salie, SAE 1993, Seite 79).

29

Auch der 10. Senat des Bundesarbeitsgerichts hat in einem Urteil vom 22. September 1993 (10 AZR 207/92, NZA 1994, Seite 667, 668 [BAG 22.09.1993 - 10 AZR 207/92]) die Auffassung vertreten, die einzelvertragliche Vereinbarung eines Manteltarifvertrages löse keine Tarifkonkurrenz oder Tarifpluralität aus, sondern sei eine von dem Verfahrenstarifvertrag "abweichende Abmachung" im Sinne von § 4 Abs. 3 TVG.

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Aber auch auf der Basis der Rechtsprechung des 4. Senats des Bundesarbeitsgerichts steht der Klägerin vorliegend ein Anspruch auf die begehrten 80,02 DM brutto zu. Der 4. Senat löst das Zusammentreffen eines Tarifvertrages kraft vertraglicher Vereinbarung mit einem für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrag über die Grundsätze der Tarifkonkurrenz. Auch die vertragliche Vereinbarung der Geltung eines Tarifvertrages kann hiernach zum Entstehen einer Tarifkonkurrenz oder Tarifpluralität führen, für dessen Lösung der Ursprung der Tarifgeltung nicht von Bedeutung ist. Auch bei dem Vorliegen einer Tarifpluralität sind hiernach im Ergebnis die Regeln über die Tarifkonkurrenz anzuwenden. Nach dem Prinzip der Tarifeinheit ist dabei unter mehreren Tarifverträgen nach dem Grundsatz der Spezialität dem sachnäheren Tarifvertrag der Vorzug zu geben. Dies ist derjenige Tarifvertrag, der den Betrieb räumlich, fachlich und persönlich am nächsten steht und deshalb den Erfordernissen und Eigenarten des Betriebes und den darin tätigen Arbeitnehmern am besten Rechnung trägt (BAG vom 20.03.1992, a.a.O. unter B II 2 bis 4 der Gründe).

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Für die vorliegende Fallkonstellation hat diese Rechtsprechung zur Folge, daß die Beklagte gehalten ist, nach dem Prinzip der Tarifeinheit für sämtliche bei ihr beschäftigten Arbeitnehmer weiterhin die für die ... vereinbarten Tarifverträge anzuwenden. Wie die Beklagte erstinstanzlich nämlich selbst ausgeführt hat, sind die Haustarifverträge der ... filialbezogen strukturiert und auf Lebensmittelmarktbedingungen abgestellt, während der Einzelhandelstarifvertrag Niedersachsen vornehmlich Tätigkeitsbereiche und Belange von Kaufhäusern betreibt. Der Lohn- und Gehaltstarifvertrag für die ... ist deshalb spezieller als der Lohn- und Gehaltstarifvertrag für den Niedersächsischen Einzelhandel. Er steht dem Betrieb der Beklagten räumlich, fachlich und persönlich näher als der generelle Tarifvertrag für sämtliche Sparten des Niedersächsischen Einzelhandels.

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Die Berufung der Beklagten war mithin mit der Kosten folge des § 97 ZPO zurückzuweisen.

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Die Zulassung der Revision beruht auf § 72 Abs. 2 Ziffer 1 ArbGG.