Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Urt. v. 15.03.1994, Az.: 16 (6) Sa 179/93 E

Tarifgerechte Eingruppierung eines Kindertagesstättenleiters; Anspruch auf Eingruppierung aus einer bestimmten Vergütungsgruppe; Tätigkeitsmerkmale für den Sozialdienst und Erziehungsdienst

Bibliographie

Gericht
LAG Niedersachsen
Datum
15.03.1994
Aktenzeichen
16 (6) Sa 179/93 E
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1994, 17351
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LAGNI:1994:0315.16.6SA179.93E.0A

Verfahrensgang

vorgehend
ArbG Braunschweig - 29.09.1992 - AZ: 1 Ca 192/92 E
nachfolgend
BAG - 06.03.1996 - AZ: 4 AZR 671/94

Amtlicher Leitsatz

Die Eingruppierung eines Sozialpädagogen als Leiter einer Kindertagesstätte für Kinder oder Jugendliche mit wesentlichen Erziehungsschwierigkeiten setzt voraus, daß die wesentlichen Erziehungsschwierigkeiten vergleichbar sind mit wesentlichen Behinderungen gemäß § 39 Abs. 1 BSHG und damit ein Maß erreichen, das bei dem einzelnen Kind einen Anspruch auf Hilfe zur Erziehung begründet gemäß §§ 27 ff KJHG. Der Kläger hat deshalb vorzutragen, daß ein Grad erreicht sein muß, der bei den zu betreuenden Kindern eine Eingliederung in die Gesellschaft gefährdet oder überhaupt eine Eingliederung kaum möglich macht.

In dem Rechtsstreit
hat die 16. Kammer des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen
auf die mündliche Verhandlung vom 15. März 1994
durch
den Vorsitzenden Richter am Landesarbeitsgericht Hannes und
die ehrenamtlichen Richter Heimlich und Hess
für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Braunschweig vom 29.09.1992, Az.; 1 Ca 192/92 E, wird auf Kosten des Klägers zurückgewiesen.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt mit der Klage weitere Vergütungszahlungen für den Zeitraum vom 01.01.1991 bis 30.06.1991 mit der Begründung, er sei nach einer höheren Vergütungsgruppe einzugruppieren.

2

Der am ... geborene Kläger war in der Zeit vom 01.10.1989 bis 31.03.1993 bei dem Beklagten als Kindertagesstättenleiter in der Kindertagesstätte ... beschäftigt. Er besitzt eine Ausbildung als Sozialpädagoge.

3

Die Beschäftigung erfolgt auf der Grundlage des Arbeitsvertrages vom 30.10.1989. Wegen des Inhalts wird auf diesen (Bl. 9/10 d.A.) verwiesen.

4

Der Kläger ist derzeit eingruppiert in der Gehaltsgruppe IV b des Bundesmanteltarifvertrages für die Arbeitnehmer der Arbeiterwohlfahrt (BMT - AW II) vom 01.11.1977 in der Fassung des letzten Änderungstarifvertrages vom 14.05.1991 sowie auf der Grundlage des Tarifvertrages über die Tätigkeitsmerkmale zum Bundesmanteltarifvertrag für die Arbeitnehmer der Arbeiterwohlfahrt vom 01.11.1977, zuletzt geändert durch Tarifvertrag vom 28.05.1991.

5

Gemäß dem Tarifvertrag erhielt der Kläger ein Grundgehalt nach Vergütungsgruppe IV b in Höhe von DM 3.102,56 brutto. Das Grundgehalt nach Vergütungsgruppe IV a betrug im streitbefangenen Zeitraum 3.513,09 DM.

6

Die Differenz zwischen diesen beiden Vergütungsgruppen macht der Kläger mit der Klage für den Zeitraum vom 01.01.1991 bis 30.06.1991 geltend.

7

Die Kindertagesstätte des Beklagten in ... liegt in einem sozialen Brennpunkt mit einem überproportionalen Anteil von Aussiedler- und Ausländerkindern. Der Stadtteil hat eine besondere soziale Situation. In diesem Stadtteil befinden sich außer der Kindertagesstätte des Beklagten die Einrichtung der Gemeinde sowie der

8

Aufgrund der besonderen sozialen Situation haben sich verschiedene Personen bzw. Gremien mit der Struktur und der Problematik der Kinderbetreuung beschäftigt. Bezüglich der Verbesserungsvorschläge für die Arbeitssituation in ... Einrichtungen von ... der Maßnahmen der Regionalkonferenz Süd des Beklagten sowie der Arbeitsgemeinschaft der Träger ... wird auf den hier zugeführten Schriftverkehr verwiesen (Bl. 11-30 d.A.).

9

Mit betroffen ist hiervon auch eine Kindertagesstätte des ...

10

Der Kläger hat gegenüber dem Beklagten seine Höhergruppierung geltend gemacht. Der Beklagte hat diese Höhergruppierung mit Schreiben vom 12.11.1991 (Bl. 8 d.A.) abgelehnt.

11

In der Kindertagesstätte des Beklagten wurden im letzten Quartal 1990 vormittags durchschnittlich 65,67 Kinder, nachmittags 33,33 Kinder und ganztags 20,67 Kinder betreut.

12

Aufgrund der besonderen sozialen Situation erhielt die Kindertagesstätte des Beklagten ab 08.01.1991 eine zusätzliche Erzieherin, wie auch im übrigen die übrigen Kindertagesstätten im Stadtteil. Ab 01.08.1992 wurde ein sogenannter Therapeutenpool gebildet, der besetzt wurde mit Mitarbeitern, die sich insbesondere auf dem Gebiet der Heilpädagogik, Logopädie, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Ergotherapie sowie Pädagogik ausgebildet hatten. Dieser Therapeutenpool wurde nicht einer bestimmten Kindertagesstätte zugewiesen, er war vielmehr zuständig für die Kinder im Stadtteil. Die Parteien streiten darüber, ob sich dieses nur auf die Kinder in den Kindertagesstätten oder auf sämtliche Kinder des Stadtteiles bezog.

13

Der Kläger hat die Auffassung vertreten, daß von einer Durchschnittsbelegung der Kindertagesstätte mit ca. 100 Plätzen auszugehen sei.

14

Darüber hinaus handele es sich um eine Einrichtung für Kinder und Jugendliche mit wesentlichen Erziehungsschwierigkeiten. In der Kindertagesstätte sei eine hohe Zahl entwicklungsverzögerter, auffälliger und therapiebedürftiger Kinder mit psychosozialen Störungen vorhanden.

15

Eine Unterscheidung zwischen behinderten und auffälligen Kindern könne nicht gemacht werden. Mit der besonderen Situation sei ein Regelkindergarten grundsätzlich über fordert. Eine hinreichende Förderung/Therapie aller auffälligen Kinder sei nicht zu leisten. Die wesentlichen Erziehungsschwierigkeiten ergäben sich daraus, daß ein hoher Anteil von Aussiedlerkindern sowie von ausländischen Kindern vorhanden sei sowie Kindern aus sozial geschädigten Familien. Circa 80 bis 90 % der Kinder hätten wesentliche Erziehungsschwierigkeiten. So seien von 122 Kindern 10 in einer Therapie, 50 verhaltensauffällig, 25 entwicklungsverzögert, 48 sprachgestört und 3 Kinder mit Wahrnehmungsstörungen. 80 bis 90 % der Kinder seien aggressiv, hyperaktiv oder auf der anderen Seite zu still und ohne Durchsetzungsvermögen.

16

Wegen der konkreten Störungen der Kinder wird auf den Schriftsatz des Klägers vom 24.09.1992, Blatt 5 bis 7 (Bl. 61-63 d.A.) verwiesen.

17

Der Kläger hat beantragt,

den Beklagten zu verurteilen, an den Kläger 2.463,18 DM brutto nebst 4 % Zinsen seit dem 06.04.1992 zu zahlen.

18

Der Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

19

Er hat die Auffassung vertreten, daß im Durchschnitt der Belegung nur von ca. 86 Kindern auszugehen sei.

20

Zwar handele es sich um eine Kindertagesstätte mit einer besonderen sozialen Situation. Die Kindertagesstätte des Beklagten sei aber eine Regeleinrichtung und keine Kindertagesstätte für Behinderte oder Kinder mit wesentlichen Erziehungsschwierigkeiten. Der Wille der Tarifvertragsparteien, wie er sich auch aus dem Text des Tarifvertrages ergebe, sei der gewesen, zwischen Regeleinrichtungen und Sondereinrichtungen zu unterscheiden. Nur in Sondereinrichtungen sei eine höhere Eingruppierung des Leiters gerechtfertigt. Nicht ausreichend sei es, wenn auch Kinder mit wesentlichen Erziehungsschwierigkeiten betreut würden.

21

Die Tatsache, daß ein zusätzlicher Therapeutenpool eingerichtet sei, habe mit der Kindertagesstätte selbst nichts zu tun. Dieser sei einrichtungsextern eingerichtet. Der Status der Kindertagesstätte werde hiervon nicht berührt.

22

Bei den vom Kläger genannten Zahlen handele es sich zum einen um keine objektiven Aussagen, vielmehr um subjektive Einschätzungen des Klägers. Zum anderen seien vom Kläger Mehrfachzählungen erfolgt, so daß die vom Kläger genannten Zahlen nicht bestätigt werden könnten.

23

Jedenfalls seien Kinder mit Rechtsansprüchen nach § 27 des Gesetzes zur Neuordnung des Kinder- und Jugendhilferechtes (KJHG) nicht betreut.

24

Es sei im übrigen auch nicht erkennbar, daß überwiegend Kinder mit wesentlichen Erziehungsschwierigkeiten betreut würden. Ein konkreter Hinweis auf eine hohe Anzahl solcher Kinder sei insoweit vom Kläger nicht vorgetragen worden. Hierfür wäre erforderlich, daß sonderpädagogische Maßnahmen getroffen würden, die konzeptionell auf solches Klientel ausgerichtet seien und für deren Durchführung anerkannte Rechtsansprüche nach dem KJHG bestünden. Hierfür fehle es aber bei der Kindertagesstätte des Beklagten.

25

Das Arbeitsgericht Braunschweig hat die Klage abgewiesen, die Kosten des Rechtsstreits dem Kläger auferlegt und den Streitwert auf 2.463,18 DM festgesetzt.

26

Zur Begründung hat das Arbeitsgericht ausgeführt, daß der Kläger keinen Anspruch auf Höhergruppierung habe, da es an einem schlüssigen substantiierten Tatsachenvortrag fehle, der eine Eingruppierung in die begehrte Vergütungsgruppe rechtfertige. Die Tarifvertragsparteien seien bei der Verwendung des Vergütungsmerkmales in erster Linie davon ausgegangen, daß die Zweckbestimmung der Einrichtung Aufschluß über die Erfüllung dieses Tatbestandsmerkmales gebe. Es sei allerdings nicht erforderlich, daß die Kindertagesstätte von vornherein für die Aufnahme von Kindern und Jugendlichen mit wesentlichen Erziehungsschwierigkeiten bestimmt sei, maßgebend könne insoweit auch noch die tatsächliche Belegung der Kindertagesstätte sein.

27

Dem Vortrag des Klägers sei aber nicht zu entnehmen, daß entweder eine Zweckbestimmung für die Kindertagesstätte vorhanden sei, weil eine problematische Sozialstruktur nicht automatisch eine Zweckbestimmung rechtfertige, noch könne erkannt werden, aufgrund des Vortrags des Klägers, daß vorliegend im wesentlichen Kinder betreut würden, deren Erziehungsschwierigkeiten wesentlich seien. Aus den vorhandenen Erziehungsschwierigkeiten, die der Kläger nur pauschal dargelegt habe, könne nicht erkannt werden, daß diese über das normale Maß erheblich hinausgingen. Weder die Tatsache, daß eine hohe Anzahl von Ausländer- oder Aussiedlerkindern in der Kindertagesstätte betreut würden, noch die pauschal- und stichwortartig genannten Auffälligkeiten bei Kindern ließen eine qualitative Beurteilung der Erziehungsschwierigkeiten zu.

28

Das Urteil des Arbeitsgerichts Braunschweig wurde dem Kläger am 11.01.1993 zugestellt. Hiergegen legte er am 11.02.1993 Berufung ein und begründete diese mit einem am 10.03.1993 beim Landesarbeitsgericht eingegangenen Schriftsatz.

29

Zur Begründung der Berufung vertritt der Kläger die Auffassung, daß eine offizielle Anerkennung einer Kindertagesstätte für Kinder mit wesentlichen Erziehungsschwierigkeiten nach dem Gesetz bereits nicht möglich sei. Ebenso wie bei den Behinderten nach § 39 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) erhielten Kinder und Jugendliche nach dem KJHG lediglich einen individuellen Anspruch auf Hilfe zur Erziehung. Wie diese Hilfe letztlich gewährt werde, ob individuell oder auch pauschal für die Einrichtung und damit auch zugunsten des einzelnen Kindes, sei den zuständigen Behörden überlassen. Jedenfalls ergebe sich hieraus keine besondere Anerkennung einer Einrichtung. Diese könne vielmehr nur aus den Umständen selbst hergeleitet werden. Daß aber eine besondere Hilfe erforderlich und geboten sei, ergebe sich zum einen aus der zusätzlichen Finanzierung einer Erzieherin in der Kindertagesstätte des Beklagten, zum anderen aus der Zurverfügungstellung eines Therapeutenpools durch die Stadt W., besetzt mit einer Heilpädagogin, einer Bewegungstherapeutin, einer Kinder- und Jugendpsychotherapeutin sowie eines Logopäden.

30

Dieses seien Maßnahmen im Rahmen des § 27 KJHG, so daß davon auszugehen sei, daß diese Einrichtung in diesem Stadtteil als eine anerkannte im Sinne des Tarifvertrages zu gelten habe.

31

Im übrigen habe der Kläger die besondere Problematik der Kinder im erzieherischen Bereich dargestellt. Dieser Vortrag sei ausreichend, da eine Grenze der Beweisbarkeit im Interesse der Kinder erreicht sei, so daß weiterer Vortrag nicht möglich sei.

32

Der Kläger beantragt,

unter Abänderung des erstinstanzlichen Urteiles den Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 2.463,18 DM nebst 4 % Zinsen seit dem 06.04.1992 zu zahlen.

33

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

34

Der Beklagte vertritt die Auffassung, daß zumindest eine indirekte Anerkennung der Einrichtung erforderlich sei durch Vereinbarung über den Zuschußbedarf, der nur dann gesondert im Rahmen des KJHG gegeben werde, wenn eine spezifisch definierte Gruppe betreut werde auf der Grundlage des Kinderhilferechtes. Derartige Zuschüsse würden gegeben für Einrichtungen für Kinder mit wesentlichen Erziehungsschwierigkeiten. Eine solche Einrichtung unterscheide sich dann aber auch in Konzeption und inhaltlicher Arbeit wesentlich von den Regeleinrichtungen.

35

Die Erziehungshilfe werde auch nicht durch den Therapeutenpool gewährleistet. Dieser Therapeutenpool sei gebildet für Ansprüche individueller Kinder bzw. Familien und verändere letztlich nicht die Zweckausrichtung der Einrichtung selbst.

36

Der Beklagte verweist weiter darauf, daß sich die Erziehungsschwierigkeiten, die der Kläger dargestellt habe, nur aus einer subjektiven Einschätzung ergäben ohne Anspruch auf eine objektive Richtigkeit.

Gründe

37

Die Berufung des Klägers ist statthaft, sie ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden und damit insgesamt zulässig (§§ 64, 66 Arbeitsgerichtsgesetz, 518, 519 ZPO). Der Beschwerdegegenstand übersteigt 800,- DM.

38

Die Berufung des Klägers ist jedoch nicht begründet. Sie konnte keinen Erfolg haben, da das Arbeitsgericht die Klage zu Recht abgewiesen hat

39

Der Kläger hat keinen Anspruch auf Vergütung nach der Vergütungsgruppe IV a des obengenannten Tarifvertrages.

40

Gemäß § 22 des BMT - AW II, der kraft Tarifbindung auf das Arbeitsverhältnis Anwendung findet, wird der Arbeitnehmer nach dem Tarifvertrag über die Tätigkeitsmerkmale in die Vergütungs- bzw. Lohngruppe eingruppiert, die der von ihm überwiegend auszuübenden Tätigkeit entspricht. Gemäß § 2 des Tarifvertrages über die Tätigkeitsmerkmale zum BMT - AW II ergeben sich die Tätigkeitsmerkmale aus der Anlage zu diesem Tarifvertrag.

41

Maßgeblich ist vorliegend Teil I B, in dem sich die Tätigkeitsmerkmale für den Sozial- und Erziehungsdienst befinden.

42

Gemäß Vergütungsgruppe IV a ist eingruppiert nach Fallgruppe 6 der Angestellte als Leiter von Kindertagesstätten für Behinderte im Sinne des § 39 BSHG oder für Kinder oder Jugendliche mit wesentlichen Erziehungsschwierigkeiten mit einer Durchschnittsbelegung von mindestens 70 Plätzen. Nach der Fallgruppe 7 ergeben sich die gleichen Tätigkeitsmerkmale, allerdings bei einer Durchschnittsbelegung von mindestens 90 Plätzen.

43

Da in der Kindertagesstätte unstreitig mindestens 70 Plätze durchschnittlich im maßgeblichen Zeitraum belegt waren, wäre für die Höhergruppierung die Fallgruppe 6 der Vergütungsgruppe IV a für den Kläger maßgeblich.

44

Der Kläger erfüllt jedoch nicht das Vergütungsmerkmal, daß er ein Leiter einer Kindertagesstätte ist für Kinder mit wesentlichen Erziehungsschwierigkeiten.

45

Bei Kindern mit Erziehungsschwierigkeiten wird durch das Merkmal "wesentlich" klargestellt, daß die Erziehungsschwierigkeiten einen bestimmten Umfang und eine bestimmte Bedeutung haben müssen. Nach der Regelung, die vor dem 01.01.1991 gegolten hat, ist von den Tarifvertragsparteien von schwererziehbaren Kindern gesprochen worden. Hierunter hat das Bundesarbeitsgericht Kinder verstanden, die aus Gründen ihrer körperlichen, seelischen oder geistigen Verfassung mit den allgemeinen und üblichen pädagogischen Mitteln zu einem normalen Sozialverhalten und einer entsprechenden Persönlichkeitsbildung nicht erzogen werden konnten (vgl. BAG, Urteil vom 04.05.1988 in AP Nr. 144 zu §§ 22, 23 BAT 1975).

46

Das Bundesarbeitsgericht hat hierzu ausgeführt, daß finanzielle, gesundheitliche oder sonstige Probleme der Eltern bzw. Verschlossenheit, mangelndes Selbstvertrauen, Nervosität, Unruhe, Konzentrationsschwäche und starke Lernschwierigkeiten der Kinder diese Anforderungen nicht erfüllten. Diese Probleme und Eigenschaften könnten zwar zu Schwierigkeiten bei der Erziehung führen, sie seien jedoch bei vielen Kindern vorhanden, müßten bei der Anwendung normaler Erziehungsmittel berücksichtigt werden und könnten deshalb nicht als schwere Erziehbarkeit gewertet werden.

47

Der Begriff der "schweren Erziehbarkeit" ist nunmehr durch den Begriff der wesentlichen Erziehungsschwierigkeiten abgeändert worden.

48

Da hierfür eine Definition seitens der Tarifvertragsparteien nicht gegeben wird, ist aus dem Gesamtzusammenhang des Tarifvertrages zu ermitteln, welchen Grad der Erziehungsschwierigkeiten die Tarifvertragsparteien diesem Begriff beimessen wollten.

49

Dies ergibt sich zum einen aus der Vergütungsgruppe IV a Fallgruppe 6 bzw. vergleichbaren Fallgruppen bereits daraus, daß auf der einen Seite Kindertagesstätten für Behinderte im Sinne des § 39 BSHG genannt sind, auf der anderen Seite Kindertagesstätten für Kinder oder Jugendliche mit wesentlichen Erziehungsschwierigkeiten.

50

Grundsätzlich ist davon auszugehen, daß eine bestimmte Eingruppierung nach den Anforderungen der Tätigkeit selbst erfolgt und daß nicht innerhalb einer Fallgruppe unterschiedliche Wertungen der Tätigkeit erfolgen.

51

Dieses bedeutet, daß die wesentlichen Erziehungsschwierigkeiten für Kinder auch an dem Problem der Behinderten des § 39 BSHG gemessen werden und gleichwertige Schwierigkeiten bei der Betreuung dieser Kinder bestehen müssen.

52

Gemäß § 39 BSHG ist der Personenkreis der Behinderten dadurch definiert, daß es sich um Personen handelt, die nicht nur vorübergehend körperlich, geistig oder seelisch wesentlich behindert sind und denen deshalb Eingliederungshilfe zu gewähren ist.

53

Es wird deshalb hierbei auf einen gewissen Schweregrad und eine gewisse Dauer der Behinderung abgestellt, was letztlich näher definiert wird durch die Verordnung zur Durchführung des § 24 Absatz 2 Satz 1 Bundessozialhilfegesetz vom 28.06.1974, in dessen § 3 insbesondere die seelisch wesentlich Behinderten definiert werden. Diese sind am ehesten vergleichbar mit den Kindern mit wesentlichen Erziehungsschwierigkeiten.

54

Seelisch wesentlich behindert sind dabei Personen, bei denen Folge seelischer Störungen die Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft im erheblichen Umfange beeinträchtigt ist. Seelische Störungen, die eine Behinderung im Sinne des Satzes 1 zur Folge haben können, sind

  1. 1.

    körperlich nicht begründbare Psychosen,

  2. 2.

    seelische Störungen als Folge von Krankheiten oder Verletzungen des Gehirns, von Anfallsleiden oder von Krankheiten oder körperlichen Beeinträchtigungen,

  3. 3.

    Suchtkrankheiten,

  4. 4.

    Neurosen und Persönlichkeitsstörungen.

55

Nach Auffassung der Kammer müssen deshalb die wesentlichen Erziehungsschwierigkeiten vergleichbar sein mit der wesentlichen Behinderung, wie sie sich letztlich aus § 39 Absatz 1 BSHG ergeben. Bezüglich des Verhältnisses zwischen der Hilfe für Behinderte nach dem BSHG auf der einen Seite und der Kinder- und Jugendhilfe nach den entsprechenden Gesetzen, zuletzt KJHG, auf der anderen Seite, besteht keine klare Abgrenzung, was zu häufigen Streitigkeiten zwischen Jugend- und Sozialhilfe geführt hat (vgl. hierzu Schellhorn/Jirasek/Seipp, Kommentar zum Bundessozialhilfegesetz, 14. Aufl. 1993, § 39 Rdnr. 59 a ff.). Dieser Streit braucht im vorliegenden Verfahren nicht im einzelnen beurteilt zu werden, ergibt sich aber hieraus gerade die Tatsache, daß Ansprüche auf Hilfe für Behinderte und Hilfe zur Erziehung für den Bereich von psychischen Störungen eng beieinanderliegen. Die Vergleichbarkeit von seelisch wesentlich Behinderten im Sinne des § 39 BSHG und von Kindern mit wesentlichen Erziehungsschwierigkeiten kann deshalb gezogen werden. Die wesentlichen Erziehungsschwierigkeiten müssen ein Maß erreichen, das bei dem einzelnen Kind einen Anspruch auf Hilfe zur Erziehung begründet gemäß §§ 27 ff. KJHG.

56

Wenn in der Einrichtung des Beklagten Kinder mit festgestellten derartigen Ansprüchen nicht betreut werden, auf der anderen Seite auch seitens der maßgeblichen Stellen, also dem Träger der Einrichtung wie auch den zuständigen Behörden, eine besondere Hilfe über die Vorschriften der §§ 27 ff. KJHG nicht zuteil wird, kann deshalb der Eingruppierungsanspruch des Klägers nur dann begründet sein, wenn tatsächlich Kinder mit entsprechenden Schwierigkeiten betreut werden. Dieses kann aber nach dem Vortrag des Klägers nicht festgestellt werden. Die Angaben des Klägers, daß Überängstlichkeit, Wahrnehmungsstörungen, Sprachauffälligkeiten, Antriebshemmungen, grob- und feinmotorische Störungen, Aggressivität und Hyperaktivität auftreten, läßt einen verläßlichen Schluß noch nicht darauf zu, daß der Grad der seelischen Behinderung im Rahmen des § 39 BSHG erreicht ist bzw. für den Bereich des Kinder- und Jugendhilfegesetzes der entsprechende schwerwiegende Grad erreicht ist. Gemäß § 39 Absatz 3 BSHG ist es Aufgabe der Eingliederungshilfe, eine drohende Behinderung zu verhüten oder eine vorhandene Behinderung oder deren Folgen zu beseitigen oder zu mildern und den Behinderten in die Gesellschaft einzugliedern. Demzufolge müßte es Aufgabe der Kindertagesstätte sein, drohende wesentliche Erziehungsschwierigkeiten zu verhüten oder vorhandene und deren Folgen zu beseitigen oder zu mildern und das Kind in die Gesellschaft einzugliedern.

57

Gerade aus einem Vergleich dieser Aufgaben, die eine Einrichtung für Behinderte im Sinne des § 39 BSHG darstellt mit der Aufgabe der Kindertagesstätte des Beklagten zeigt, daß für die Kindertagesstätte ein Grad der wesentlichen Erziehungsschwierigkeiten erreicht sein muß, der eine Eingliederung in die Gesellschaft gefährdet oder überhaupt eine Eingliederung kaum möglich macht. Dies entspricht bereits einem Grad der Hilfe zur Erziehung, der gemäß §§ 33 ff. KJHG dazu führen kann, daß Kindern zur Verbesserung der Erziehungsbedingungen derart starke Hilfen zuteil werden müssen, daß eine andere Familie oder ein Heim die Erziehung anstelle der Eltern übernimmt.

58

Die Richtigkeit dieser Auffassung wird auch durch den Tarifvertrag und die dazugehörigen Protokollnotizen bestätigt. Gemäß Protokollnotiz Nr. 9 zu den Vergütungsgruppen, die auch für die vorliegende Fallgruppe maßgeblich ist, wird unterschieden bei den Kindertagesstätten im Sinne der Regelung auf der einen Seite die Kindergärten, auf der anderen Seite andere Kinderbetreuungseinheiten. Dieses zeigt bereits, daß die Tarifvertragsparteien differenzieren wollten zwischen den Regelkindergärten und anderen Kinderbetreuungseinheiten, die eben eine besondere Betreuung erforderlich machen.

59

Aber auch aus der Protokollnotiz Nr. 11 ergeben sich Hinweise für den Grad der wesentlichen Erziehungsschwierigkeiten. Die Protokollnotiz Nr. 11 lautet wie folgt:

60

Erziehungsheime sind Heime, in denen überwiegend behinderte Kinder oder Jugendliche im Sinne des § 39 BSHG oder Kinder oder Jugendliche mit wesentlichen Erziehungsschwierigkeiten ständig untergebracht sind.

61

Gerade hieraus ergibt sich, daß Kinder, die wesentliche Erziehungsschwierigkeiten haben, auch in einem Heim untergebracht sind und damit ein Grad der Schwierigkeiten erreicht ist, der im Maßnahmenkatalog der Hilfen für Erziehung einen sehr schwerwiegenden Eingriff ermöglicht. Dieses bestätigt die Auffassung der Kammer, daß wesentliche Erziehungsschwierigkeiten festgestellt werden müßten, die auch unter Umständen die Möglichkeit einer Einweisung in ein Erziehungsheim möglich machen.

62

Aus dem Vortrag des Klägers ist aber nicht ersichtlich, daß eine so große Zahl von Kindern die Kindertagesstätte prägt, die derart wesentliche Erziehungsschwierigkeiten haben. Sind aber derartige Feststellungen nicht möglich, so kann eine Berechtigung zur Eingruppierung des Klägers nach der Vergütungsgruppe IV a nicht festgestellt werden.

63

Die Richtigkeit der Auffassung der Kammer ergibt sich zusätzlich aus folgender Überlegung. Die Feststellung von wesentlichen Erziehungsschwierigkeiten kann nur dann objektiv nachvollzogen werden, wenn konkrete Feststellungen hierzu getroffen sind. Diese Feststellungen sind ohne weiteres dann möglich, wenn Kinder mit entsprechenden festgestellten Ansprüchen nach dem KJHG in ausreichender Zahl betreut werden. Diese Feststellung ist ferner möglich, wenn die Einrichtung durch Vereinbarungen mit den Trägern der Jugendhilfe anerkannt bekommen haben, daß zusätzliche Schwierigkeiten bestehen und deshalb eine besondere Betreuung erforderlich ist, die weitere Mittel rechtfertigt. Die sonstigen Feststellungen bezüglich der wesentlichen Erziehungsschwierigkeiten wären nur möglich, wenn das Gericht nach entsprechendem Vortrag durch Sachverständigengutachten feststellen könnte, daß entsprechende Kinder betreut werden. Eine solche Feststellung ist aber nur nach intensiver Arbeit in der Kindertagesstätte mit den Kindern möglich, so daß Feststellungen nur unter großem Zeitaufwand und unter großen Kosten getroffen werden könnten. Die Formulierung des Tarifvertrages, daß es sich um Einrichtungen handeln muß für Kinder mit wesentlichen Erziehungsschwierigkeiten, spricht deshalb dafür, daß eine irgendwie geartete Zweckbestimmung nachvollziehbar erfolgt ist, damit entsprechende Feststellungen getroffen werden können.

64

Nach alledem war der Kläger im streitbefangenen Zeitraum nicht nach Vergütungsgruppe IV a, vielmehr nach Vergütungsgruppe IV b, zu vergüten, so daß ein weiterer Anspruch auf Bezahlung nicht besteht. Die Berufung des Klägers war deshalb zurückzuweisen.

65

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 91, 97 ZPO in Verbindung mit § 64 Absatz 6 Arbeitsgerichtsgesetz.