Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Urt. v. 25.02.1994, Az.: 12 Sa 1702/92 E
Einheitlicher Arbeitsvorgang, keine Aufteilung in verschiedene Arbeitsgänge; Eingruppierung entsprechend überwiegend ausgeübten Tätigkeit; Mindestens hälftig Tätigkeiten aus der beanspruchten Vergütungsgruppe
Bibliographie
- Gericht
- LAG Niedersachsen
- Datum
- 25.02.1994
- Aktenzeichen
- 12 Sa 1702/92 E
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1994, 10755
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LAGNI:1994:0225.12SA1702.92E.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- ArbG Oldenburg - 08.09.1992 - AZ: 5 Ca 356/91 E
- nachfolgend
- BAG - 15.11.1995 - AZ: 4 AZR 584/94
Rechtsgrundlage
- § 22 BAT
Prozessführer
...
Prozessgegner
...
Redaktioneller Leitsatz
Die Eingruppierung erfolgt entsprechend der überwiegend ausgeübten Tätigkeit. Es müssen mindestens zur Hälfte Arbeitsvorgänge anfallen, die den Tätigkeitsmerkmalen der beanspruchten Vergütungsgruppe entsprechen.
In dem Rechtsstreit
hat die 12. Kammer des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen
auf die mündliche Verhandlung vom 25. Februar 1994
durch
den Vorsitzenden Richter am Landesarbeitsgericht ...
und die ehrenamtlichen Richter
für Recht erkannt:
Tenor:
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Arbeitsgerichts Oldenburg vom 08. September 1992 abgeändert:
Es wird festgestellt, daß die Beklagte verpflichtet ist, die Klägerin mit Wirkung ab 01. Juni 1990 entsprechend Vergütungsgruppe V b BAT zu vergüten.
Die Beklagte tragt die Kosten des Rechtsstreits.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten darüber, ob die Klägerin in einer "heilpädagogischen Gruppe" tätig ist und dementsprechend Vergütung aus der Vergütungsgruppe V b Fallgruppe 1 k BAT Teil II - Angestellte im Erziehungsdienst - in der bis zum 31. Dezember 1990 gültig gewesenen Fassung zu erhalten hat.
Die Beklagte betreibt Werkstätten für Behinderte an mehreren Orten mit Arbeitsbereichen, Arbeitstrainingsbereichen und Fördergruppen. Die am 17. Mai 1951 geborene Klägerin, eine examinierte Krankenschwester und Kinderpflegerin, ist seit dem 1. März 1985 bei der Beklagten beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien findet der BAT kraft Einzelarbeitsvertrag Anwendung mit Ausnahme der Bestimmungen der §§ 25, 37, 53 Abs. 2 und 55. Nachdem die Klägerin zunächst in der Betriebsstätte ... tätig war, arbeitet sie seit Januar 1990 in der Betriebsstätte ...
Die Klägerin hat vorgetragen, sie sei im Förderbereich der Werkstatt .. als Gruppenleiterin beschäftigt und leite eigenverantwortlich eine heilpädagogische Gruppe. Ihrer Auffassung nach entspreche diese Tätigkeit der Vergütungsgruppe V b Fallgruppe 1 k des Teils II Abschnitt G Unterabschnitt II der Anlage 1 a zum BAT. Anstelle gewahrter Vergütung nach Vergütungsgruppe V c bzw. VI b BAT müsse die Beklagte sie ab 1. Juni 1990 gemäß ihrem schriftlichen Antrag vom 30. November 1990 nach Vergütungsgruppe V b BAT entlohnen.
Die Klägerin hat beantragt,
festzustellen, daß die Beklagte verpflichtet ist, die Klägerin mit Wirkung ab 01.06.1990 entsprechend Vergütungsgruppe V b BAT zu vergüten.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hat bestritten, daß die Klägerin im maßgeblichen Zeitraum ab 01. Juni 1990 eine erzieherische Tätigkeit im Rahmen einer heilpädagogischen Gruppe ausgeübt hat. Die Klägerin sei vielmehr nur im pflegerischen Bereich tätig gewesen und könne nicht dem Förderbereich zugeordnet werden, sondern ausschließlich dem gesamten Bereich der Werkstatt. Auch sei sie nicht Gruppenleiterin gewesen.
Wegen des erstinstanzlichen Sach- und Streitstandes wird im übrigen gemäß § 543 Abs. 2 ZPO auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils (Bl. 117 bis 119 d.A.) sowie die zwischen den Parteien vor dem Arbeitsgericht gewechselten Schriftsätze nebst deren Anlagen und die arbeitsgerichtliche Sitzungsniederschrift vom 14. April 1992 (Bl. 91, 91 R) verwiesen.
Das Arbeitsgericht hat durch das am 8. September 1992 verkündete, hiermit in Bezug genommene Urteil die Klage abgewiesen, der Klägerin die Kosten des Rechtsstreits auferlegt und den Streitwert auf 14.624,00 DM festgesetzt. Gegen das am 29. Oktober 1992 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 20. November 1992 Berufung eingelegt und diese am 17. Dezember 1992 begründet.
Sie nimmt auf ihren Vortrag erster Instanz Bezug und meint des weiteren, das Arbeitsgericht habe verkannt, daß sie Sozialpädagogen und Erziehern gleichgestellt sei. Im übrigen wurden Mitarbeiter der Beklagten, welche die gleiche Tätigkeit wie sie ausführten, nach Vergütungsgruppe V b BAT entlohnt. Unrichtig sei auch, daß sie für den pflegerischen Bereich der gesamten Werkstatt ... eingesetzt worden sei. Vielmehr habe sie tatsächlich ab Januar 1990 ständig eine heilpädagogische Gruppe von Schwerstbehinderten geleitet.
Die Klägerin beantragt,
1.
Das Urteil des Arbeitsgerichts Oldenburg vom 08. September 1992 - Gesch.-Nr. 5 Ca 356/91 E - wird abgeändert.
Es wird nach den Schlußanträgen 1. Instanz erkannt.
2.
Die Beklagte tragt die Kosten des Rechtsstreits.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigt das angefochtene Urteil nach Maßgabe ihres Schriftsatzes vom 19. Januar 1993 (Bl. 144 bis 146 d.A.) und tragt des weiteren vor, die Klägerin habe mehr als die Hälfte der Arbeitszeit im Werkstattbereich verbracht, um dort die Schwerstbehinderten zu pflegen.
Zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes zweiter Instanz wird auf die zwischen den Parteien vor dem Berufungsgericht gewechselten Schriftsätze nebst deren Anlagen sowie die Sitzungsniederschrift vom 6. August 1993 (Bl. 164 bis 167 d.A.) Bezug genommen.
Die Kammer hat Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeuginnen ... Hinsichtlich des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf deren Protokolle verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung hat auch in der Sache Erfolg. Die Klage ist begründet. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme zweiter Instanz ist davon auszugehen, daß die Klägerin spätestens seit dem 1. Juni 1990 Anspruch auf Bezahlung gemäß der Vergütungsgruppe V b BAT hat, denn sie erfüllt mit ihrer Tätigkeit bereits ab Anfang 1990 das Tätigkeitsmerkmal der Vergütungsgruppe V b BAT Fallgruppe 1 k für Angestellte im Erziehungsdienst, in der bis zum 31. Dezember 1990 geltenden Fassung.
Gemäß § 22 BAT, der kraft Arbeitsvertrages auf das Anstellungsverhältnis der Parteien Anwendung findet, erfolgt die Eingruppierung entsprechend der überwiegend ausgeübten Tätigkeit. Es müssen mindestens zur Hälfte Arbeitsvorgänge anfallen, die den Tätigkeitsmerkmalen der beanspruchten Vergütungsgruppe entsprechen. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ist davon auszugehen, daß die Klägerin - zumindest ab Februar 1990, d. h. dem Dienstantritt der Zeugin ... - ständig in einer Fördergruppe tätig war und nur ausnahmsweise als Vertretung Behinderte im Werkstattbereich pflegte. Dies haben sämtliche Zeuginnen bestätigt, auch die Zeugin ..., welche lediglich die Einschränkung machte, daß bis zum Eintritt der Zeugin ... die Klägerin auch in der Werkstatt arbeitete. Die Tätigkeit der Klägerin im hier maßgebenden Zeitraum ab 1. Juni 1990 beinhaltet demnach die Betreuung einer Fördergruppe mit 4 bzw. 5 erwachsenen Schwerstbehinderten. Diese Tätigkeit ist - insoweit kann dem Arbeitsgericht gefolgt werden - ein einheitlicher Arbeitsvorgang. Der betreuende Dienst der Klägerin kann nicht in verschiedene Arbeitsvorgänge aufgeteilt werden. Jede der geleisteten Arbeiten mit den Behinderten dient deren umfassender Betreuung und Anleitung. Die Tätigkeit der Klägerin erfüllt auch die Anforderungen der Vergütungsgruppe V b BAT, wobei im Streitfall nach dem Vorbringen der Klägerin allein die Fallgruppe 1 k in Frage kommt.
Zwar ist die Klägerin keine Sozialpädagogin oder Sozialarbeiterin, wie dort vorausgesetzt. Sie ist aber als examinierte Krankenschwester Sozialpädagogen und Sozialarbeitern gleichgestellt, weil sie ihre Tätigkeit in der Fördergruppe bereits vor dem 31. Dezember 1990 ausgeübt hat, wie die Beweisaufnahme eindeutig ergab.
Die Klägerin ist auch in einer heilpädagogischen Gruppe i. S. der Vergütungsgruppe V b Fallgruppe 1 k tätig. Die Kammer geht davon aus, daß die heilpädagogische Tätigkeit sich nach dem allgemeinen Sprachgebrauch und der Auffassung der beteiligten Fachkreise richtet und deshalb die ständige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zum Begriff der Heilpädagogik zum BAT zugrunde zu legen ist (vgl. etwa BAGE 50, 241, BAG AP Nr. 148 zu §§ 22, 23 BAT 1975, BAG ZTR 90, 380). Danach ist unter einer heilpädagogischen Tätigkeit eine solche zu verstehen, die mit besonderen spezifischen Erziehungsformen die Forderung und Betreuung behinderter Menschen umfaßt. Diese Voraussetzung erfüllt die Tätigkeit der Klägerin. Schon in der Broschüre der Beklagten "Wir stellen uns vor" (Hulle Bl. 181 d.A.) heißt es auf Seite 45 unter dem Stichwort "Förderbereich":
"Die Betreuung und Forderung in diesem Bereich umfaßt die ganze Persönlichkeit. Neben der pflegerischen Versorgung werden lebenspraktische Fähigkeiten und Kenntnisse vermittelt. Durch kontinuierliche und intensive Forderung werden im Einzelfall auch arbeitstechnische Fähigkeiten trainiert. Durch die organisatorische und räumliche Anbindung des Förderbereichs an die Werkstatt wird gewährleistet, daß die Betreuten des Förderbereiches in den Alltag der Werkstatt einbezogen werden. Gemeinsame Freizeiten, gemeinsame Mahlzeiten, Besuche und Hospitationen in den Arbeitsbereichen wirken rehabilitationsfördernd und sind wichtige Schritte auf dem Weg im Rahmen der Werkstatt betreut zu werden."
Bereits diese Zielsetzung steht der Annahme des Arbeitsgerichts entgegen, die Tätigkeit der Klägerin beschränke sich auf die körperliche Betreuung und Versorgung. Die Arbeit der Klägerin dient nicht in erster Linie dazu, die Behinderten lediglich zu pflegen. Dies wäre der Fall, wenn die Schwerstbehinderten in die Fördergruppe lediglich gebracht werden, um sie dort eine gewisse Zeit aufzubewahren, was schon deshalb nicht Sinn und Zweck dieser Gruppe sein kann, weil sie "Fördergruppe" heißt. Die Behinderten sollen vielmehr dort so gefordert werden, daß sie Selbstvertrauen und Selbstachtung gewinnen, daß bei ihnen eine Gemeinschaft individuell in der Gruppe erlebbar gemacht und vorhandene - wenn auch geringe - Fähigkeiten erhalten und weiterentwickelt werden. Dies geschieht durch die besondere spezifische Form der Heilpädagogik.
Auch wenn man die heilpädagogische Tätigkeit wie das Bundesarbeitsgericht in neuerlichen Entscheidungen (vgl. Urteile vom 26. Mai 1993 - 4 AZR 358/92- und 4 AZR 381/92 -) dahin definiert, daß sie in der Forderung und Betreuung behinderter Menschen mit besonderen spezifischen Erziehungsformen besteht und sich nicht auf einzelne Lebensbereiche des Behinderten beschränken darf, sondern in einem umfassenden Sinne seine gesamte Persönlichkeit zum Gegenstand haben muß, dann ist dies auch in einer Fördergruppe möglich, jedenfalls dann, wenn - wie die Beklagte zu Protokoll der Sitzung vom 6. August 1993 eingeräumt hat - die Schwerstbehinderten nicht bloß betreut, sondern auch im Rahmen des Möglichen gefördert werden. Gerade auch die Notwendigkeit, den Behinderten nicht nur beim Umkleiden, Essen und auch bei hygienischen Verrichtungen lediglich behilflich zu sein, sondern sie hierbei auch anzuleiten, betont den heilpädagogischen Charakter der Tätigkeit der Klägerin in besonderer Weise. Da die Klägerin ihre Behinderten wahrend der gesamten Zeit ihres Aufenthalts in der Fördergruppe und auch in den Pausen ganzheitlich zu betreuen hat und gerade für die Schwerstbehinderten die Vorbereitung auf einen eventuellen Übergang in den Arbeitsbereich allenfalls als Fernziel oder lediglich als Programmsatz angestrebt wird, liegt der Schwerpunkt der klägerischen Tätigkeit in der individuellen Betreuung entsprechend der jeweiligen Behinderung mit den Mitteln der Heilpädagogik.
Der Klage war nach alledem unter Abänderung des Urteils erster Instanz stattzugeben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 ZPO.
Die Revision war wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache gemäß § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG zuzulassen.