Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 06.10.2011, Az.: 5 ME 296/11

Notwendigkeit der Erstellung einer Anlassbeurteilung im Auswahlverfahren um eine Beförderungsstelle bei Änderungen der wahrgenommenen Aufgaben nach dem letzten Beurteilungsstichtag

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
06.10.2011
Aktenzeichen
5 ME 296/11
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2011, 25688
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2011:1006.5ME296.11.0A

Fundstellen

  • DVBl 2011, 1504
  • NordÖR 2012, 111

Amtlicher Leitsatz

Sofern ein Beamter nach dem Beurteilungsstichtag der letzten Regelbeurteilung während eines Zeitraums von etwa eineinhalb Jahren grundlegend andere Aufgaben wahrgenommen hat, ist im Auswahlverfahren um eine Beförderungsstelle eine Anlassbeurteilung zu erstellen (hier: Wechsel eines Justizobersekretärs von dem Dienstposten eines Systemverwalters auf den Dienstposten einer Servicekraft in einer Geschäftsstelle).

Gründe

1

Die Antragsgegnerin wendet sich mit ihrer Beschwerde gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 1. August 2011, mit dem dieses der Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig untersagt hat, den Beigeladenen zum Justizhauptsekretär (Besoldungsgruppe A 8) zu befördern.

2

Die Beschwerde der Antragsgegnerin ist zulässig, aber unbegründet. Die von der Antragsgegnerin mit der Beschwerde dargelegten Gründe, auf deren Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, rechtfertigen die Abänderung des angefochtenen Beschlusses nicht. Der Senat teilt die Einschätzung des Verwaltungsgerichts, dass der Antragsteller einen Anordnungsanspruch nach § 123 Abs. 1 und 3 VwGO i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO glaubhaft gemacht hat. Denn die Auswahlentscheidung der Antragsgegnerin trägt nicht dem in Art. 33 Abs. 2 GG und § 9 BeamtStG verankerten Leistungsprinzip Rechnung.

3

Auswahlentscheidungen unterliegen als Akt wertender Erkenntnis lediglich einer eingeschränkten gerichtlichen Kontrolle. Die verwaltungsgerichtliche Nachprüfung beschränkt sich darauf, ob die Verwaltung den anzuwendenden Begriff oder den gesetzlichen Rahmen, in dem sie sich frei bewegen kann, verkannt hat oder ob sie von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen ist, allgemeingültige Wertmaßstäbe nicht beachtet, sachfremde Erwägungen angestellt oder gegen Verfahrensvorschriften oder mit höherrangigem Recht vereinbare Richtlinien (Verwaltungsvorschriften) verstoßen hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.2.2003 - BVerwG 2 C 16.02 -, [...]; Urteil vom 21.8.2003 - BVerwG 2 C 14.02 -, [...]; Nds. OVG, Beschluss vom 18.8.2011 - 5 ME 209/11 -, [...]; Beschluss vom 21.9.2011 - 5 ME 241/11 -, [...]). Erweist sich anhand dieses Maßstabes die Auswahlentscheidung als fehlerhaft und lässt sich nicht ausschließen, dass der jeweilige Antragsteller bei einer erneuten Auswahlentscheidung ausgewählt werden wird (siehe dazuBVerfG, Beschluss vom 24.9.2002 - 2 BvR 857/02 -, [...]; Nds. OVG, Beschluss vom 18.8.2011, a.a.O.), hat der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes Erfolg.

4

Ausgehend von diesen Grundsätzen ist es rechtlich nicht zu beanstanden, dass das Verwaltungsgericht die von der Antragsgegnerin getroffene Auswahlentscheidung als rechtsfehlerhaft angesehen und festgestellt hat, es könne nicht ausgeschlossen werden, dass der Antragsteller im Falle einer erneuten Auswahlentscheidung zum Zuge komme.

5

Dem nicht nur bei einer Beförderung, sondern auch bei der Übertragung eines höherwertigen Dienstpostens zu beachtenden Grundsatz der Bestenauslese (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.2.2003, a.a.O.), der sich aus Art. 33 Abs. 2 GG und § 9 BeamtStG ergibt, entspricht es, zur Ermittlung des Leistungsstandes konkurrierender Bewerber in erster Linie auf unmittelbar leistungsbezogene Kriterien zurückzugreifen. Dies sind regelmäßig die aktuellen dienstlichen Beurteilungen, weil für die zu treffende Entscheidung hinsichtlich Leistung, Befähigung und Eignung auf den aktuellen Stand abzustellen ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.2.2003, a.a.O.; Nds. OVG, Beschluss vom 8.4.2010 - 5 ME 277/09 -, [...]; Beschluss vom 13.4.2010 - 5 ME 328/09 -, [...]; Beschlüsse vom 18.8.2011 und 21.9.2011, a.a.O.).

6

Die Antragsgegnerin durfte ihre am 6. Mai 2011 getroffene Auswahlentscheidung jedenfalls nicht auf die letzte Regelbeurteilung des Antragstellers vom 16./21. Juli 2009 stützen, die der Antragsteller zum Stichtag 1. Mai 2009 erhalten hat. Denn diese Beurteilung war im Zeitpunkt der Auswahlentscheidung nicht mehr hinreichend aktuell.

7

Unter welchen Voraussetzungen zurückliegende Beurteilungen noch eine hinreichend verlässliche Grundlage für eine Auswahlentscheidung darstellen, lässt sich nicht generell, sondern nur unter Berücksichtigung aller Umstände des jeweiligen Einzelfalls beantworten. Dabei können diese Umstände eine Anlassbeurteilung sogar dann gebieten, wenn die einschlägigen Beurteilungsrichtlinien eine solche Beurteilung grundsätzlich nicht vorsehen (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 21.9.2011, a.a.O., m.w.N.). Es kann deshalb offen bleiben, ob der Einschätzung der Antragsgegnerin gefolgt werden kann, dass vorliegend einer der unter Abschnitt III. der maßgeblichen "Richtlinien für die dienstliche Beurteilung von Beamtinnen und Beamten im Niedersächsischen Justizministerium, bei den Gerichten und Staatsanwaltschaften sowie bei der Norddeutschen Fachhochschule für Rechtspflege" vom 25. Mai 2005 (- BeurtAV -, Nds. Rpfl. S 176; geändert am 15.4.2009, Nds. Rpfl. S. 154) aufgeführten Tatbestände, in denen eine Anlassbeurteilung zu erstellen ist, nicht gegeben ist.

8

Nach der Rechtsprechung des für das Recht des öffentlichen Dienstes zuständigen 2. Senats des Bundesverwaltungsgerichts ist ein Zeitablauf von rund eineinhalb Jahren seit der letzten dienstlichen Beurteilung zu lang, wenn der Bewerber nach dem Beurteilungsstichtag "andere Aufgaben" wahrgenommen hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 30.6.2011 - BVerwG 2 C 19.10 -, [...] Rn 23, m.w.N.). Der 1. Wehrdienstsenat des Bundesverwaltungsgerichts hat entschieden, dass seit der letzten dienstlichen Beurteilung in Bezug auf die Verwendung des Bediensteten "einschneidende Änderungen" eingetreten sein müssen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 22.9.2005 - BVerwG 1 WB 4.05 -, [...] Rn 25). Dem ist der beschließende Senat gefolgt (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 21.9.2011, a.a.O.; Beschluss vom 18.12.2008 - 5 ME 353/08 -, [...]). Ob dies der Fall ist, hängt jedoch - wie ausgeführt - von den Umständen des jeweiligen Einzelfalls ab.

9

Im vorliegenden Einzelfall sind nach der Überzeugung des Senats Umstände gegeben, die dafür sprechen, dass die letzte Regelbeurteilung des Antragstellers keine verlässliche Grundlage mehr für die am 6. Mai 2011 getroffene Auswahlentscheidung darstellt. Der Antragsteller war während des Zeitraums, der der zum Stichtag 1. Mai 2009 erstellten Regelbeurteilung zugrunde lag, auf einem nach derBesoldungsgruppe A 7 bewerteten Dienstposten als Systemverwalter tätig. Dagegen wird der Antragsteller seit November 2009 auf einem ebenfalls nach derBesoldungsgruppe A 7 bewerteten Dienstposten als Servicekraft in einer Geschäftsstelle eingesetzt. Die Tätigkeit in einer Geschäftsstelle, die der Antragsteller im Zeitpunkt der Auswahlentscheidung seit etwa eineinhalb Jahren durchgehend ausgeübt hat, unterscheidet sich - und darauf kommt es entscheidungserheblich an - grundlegend von der Tätigkeit eines Systemverwalters. Der Senat hält es angesichts der Tatsache, dass der Antragsteller nach Erstellung der letzten Regelbeurteilung während eines Zeitraums von immerhin etwa eineinhalb Jahren gänzlich andere Aufgaben wahrgenommen hat als während des Zeitraums, auf den sich die zum Stichtag 1. Mai 2009 gefertigte Regelbeurteilung bezieht, für ausgeschlossen, dass sich bei dem Antragsteller durch die Tätigkeit als Servicekraft in einer Geschäftsstelle keine leistungs- und beurteilungsrelevanten Veränderungen ergeben haben (vgl. zu diesem Gesichtspunkt auch BVerwG, Urteil vom 30.6.2011, a.a.O.). Dieser Umstand führt aber wiederum zu der Annahme, dass es der zum Stichtag 1. Mai 2009 erstellten Regelbeurteilung des Antragstellers im Zeitpunkt der Auswahlentscheidung vom 6. Mai 2011 an der gebotenen Aktualität gefehlt hat.