Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 04.10.2011, Az.: 4 ME 184/11

Tatsächliche Verbundenheit eines mit der baldigen Abschiebung bedrohten Ausländers zu seinem die deutsche Staatsangehörigkeit besitzenden Kind bei bestehender wahrnehmender Besuchsregelung

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
04.10.2011
Aktenzeichen
4 ME 184/11
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2011, 25562
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2011:1004.4ME184.11.0A

Fundstellen

  • FamRZ 2012, 1178-1179
  • InfAuslR 2012, 13-14

Redaktioneller Leitsatz

Die Richtlinie 2004/38/EG (Unionsbürgerrichtlinie) findet keine Anwendung auf Unionsbürger, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit keinen Gebrauch gemacht haben und sich stets in dem Mitgliedstaat aufgehalten haben, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen, infolgedessen können deren Familienangehörige aus dieser Richtlinie kein abgeleitetes Aufenthaltsrecht herleiten.

Gründe

1

Die Beschwerde ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet, weil angesichts der drohenden Abschiebung des Antragstellers ein Anordnungsgrund besteht und der Antragsteller mit seiner Beschwerdebegründung auch einen Anspruch auf die Untersagung aufenthaltsbeendender Maßnahmen bis zum Ende des Jahres (Anordnungsanspruch) hinreichend glaubhaft gemacht hat.

2

Aufgrund des nunmehr vorliegenden Sachverhalts bestehen bei der im vorliegenden Verfahren nur möglichen summarischen Prüfung hinreichende Anhaltspunkte für die Annahme einer tatsächlichen Verbundenheit des Antragstellers mit seinem die deutsche Staatsangehörigkeit besitzenden Kind, die dem Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG unterfällt und auch angesichts der Straftaten des Antragstellers seiner Abschiebung gegenwärtig entgegensteht.

3

Diese Anhaltspunkte ergeben sich aus dem von dem Antragsteller zur Begründung seiner Beschwerde vorgelegten Protokoll der nicht öffentlichen Sitzung des Amtsgerichts B. (C.) vom 14. Juli 2011. In diesem familiengerichtlichen Verhandlungstermin hat die Verfahrensbeiständin des Kindes des Antragstellers zunächst erklärt, es zwar derzeit nicht für geboten zu halten, die Anschriften des Kindes und der Schule dem Antragsteller mitzuteilen, sie sich aber gut vorstellen könne, "dem Vorschlag des Jugendamtes nahezutreten und abzuwarten, ob sich die Angelegenheit gut entwickelt und dass dann zu einer späteren Zeit die Angaben gemacht werden." Im Anschluss daran haben der Antragsteller und die Verfahrensbeiständin des Kindes vereinbart, dass der Antragsteller begleitete Umgangskontakte zu seinem Sohn in vierwöchigem Abstand haben und das Jugendamt des Landkreises B., das mit zwei Mitarbeitern in der Verhandlung anwesend gewesen ist, mit dem Antragsteller zum Jahresende 2011 ein Gespräch führen soll, in dem erörtert werden soll, ob die Anschriften des Kindes und der Schule ihm mitgeteilt werden können, "insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Beteiligten die Erwartung hegen, dass sich die weiteren Umgangskontakte störungsfrei entwickeln". Angesichts dieser Erklärungen der Beteiligten des familiengerichtlichen Verfahrens, des Inhalts des vor dem Familiengericht geschlossenen Vergleichs, der offenbar auf einen Vorschlag des Jugendamtes zurückgeht, und des Umstandes, dass der Antragsteller die vereinbarten Treffen bisher auch tatsächlich wahrgenommen hat, bestehen bei der im vorliegenden Verfahren nur möglichen summarischen Prüfung des Sachverhalts hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass eine tatsächliche Verbundenheit des Antragstellers mit seinem Kind im Rahmen des gegenwärtig Möglichen (1 Stunde im Monat) besteht und er gewillt ist, diese Beziehung zu intensivieren, wenn ihm hierzu Gelegenheit gegeben wird.

4

Diese für den Antragsteller sprechenden Gesichtspunkte werden auch nicht durch die Sachstandsmitteilung des Antragsgegners in seinem Schriftsatz vom 19. September 2011 entkräftet. Denn zum einen handelt es sich dabei nur um eine vorläufige Einschätzung, weil das Jugendamt das Verhältnis des Antragstellers zu seinem Kind nach dem vor dem Familiengericht geschlossenen Vergleich erst Ende des Jahres im Hinblick auf die Weitergabe der Anschriften des Kindes und der Schule abschließend beurteilen will. Zum anderen enthält diese Stellungnahme des Antragsgegners keine konkreten Angaben über das Verhältnis des Antragstellers zu seinem Kind. Es fehlt beispielsweise eine Beschreibung des Umgangs des Antragstellers mit seinem Kind, die Rückschlüsse auf sein Verhältnis zu diesem zuließe. Soweit pauschal darauf hingewiesen wird, dass sich das Vater-Kind-Verhältnis im Vergleich zu anderen Fällen nicht wesentlich verbessert habe, der Antragsteller sich nach wie vor von seinen eigenen (aggressiven) Stimmungen leiten lasse und bei den Umgangskontakten in erster Linie seine eigenen Interessen sehe, fehlt eine nähere Begründung und ist beispielsweise nicht ersichtlich, ob dieses Verhalten des Antragstellers möglicherweise auch auf ein angespanntes Verhältnis zu dem Mitarbeiter des Jugendamtes, der bei diesen lediglich einstündigen Kontakten anwesend ist, zurückzuführen ist.

5

Es bleibt daher (entsprechend dem vor dem Familiengericht geschlossenen Vergleich) abzuwarten, wie sich das Verhältnis des Antragstellers zu seinem Kind bis zum Ende des Jahres entwickelt und ob die Anhaltspunkte, die gegenwärtig für eine tatsächliche Verbundenheit des Antragstellers mit seinem Kind sprechen, bestätigt werden. Aus diesem Grunde hat der Senat dem Antragsgegner lediglich bis zum 31. Dezember 2011 im Wege der einstweiligen Anordnung untersagt, gegenüber dem Antragsteller aufenthaltsbeendende Maßnahmen durchzuführen, und die Beschwerde zurückgewiesen, soweit der Antragsteller darüber hinausgehend die Untersagung aufenthaltsbeendender Maßnahmen bis zum Abschluss des Klageverfahrens vor dem Verwaltungsgericht begehrt hat.

6

Soweit die Beschwerde Erfolg hat, ist dem Antragsteller auch Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren unter Beiordnung seines Rechtsanwalts gemäß § 166 VwGO i.V.m. §§ 114 Satz 1, 119 Abs. 1 Satz 2 und 121 Abs. 1 ZPO zu bewilligen.

7

Soweit der Antragsteller jedoch sowohl im erstinstanzlichen Verfahren als auch im Beschwerdeverfahren des weiteren beantragt hat, den Antragsgegner im Wege einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm entsprechend Art. 10 Abs. 1 Satz 2 der Unionsbürgerrichtlinie eine Bescheinigung auszustellen, hat dieser Antrag keinen Erfolg und ist die Beschwerde daher insoweit unbegründet.

8

Denn die Richtlinie 2004/38/EG (Unionsbürgerrichtlinie) gilt nach ihrem Art. 3 Abs. 1 nur für Unionsbürger, die sich in einen anderen als den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen, begeben oder sich dort aufhalten, und deren Familienangehörige. Damit findet die Richtlinie keine Anwendung auf Unionsbürger, die - wie das die deutsche Staatsangehörigkeit besitzende Kind des Antragstellers - von ihrem Recht auf Freizügigkeit keinen Gebrauch gemacht haben und sich stets in dem Mitgliedstaat aufgehalten haben, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen. Folglich können deren Familienangehörige - wie hier der Antragsteller - aus der genannten Richtlinie kein abgeleitetes Aufenthaltsrecht herleiten (EuGH, Urteil vom 5.5.2011 - C-434/09 -, "McCarthy"; BVerwG, Urteil vom 22.6.2011 - 1 C 11/10 -). Eine entsprechende Anwendung dieser Richtlinie kommt schon mangels einer Regelungslücke von vornherein nicht in Betracht.

9

Entgegen der Auffassung des Antragstellers ergibt sich auch aus dem von ihm zitierten Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 8. März 2011 (- C-34/09 -, "Zambrano") nichts anderes. Denn bereits in dieser Entscheidung hat der Europäische Gerichtshof ausdrücklich festgestellt, dass die Unionsbürgerrichtlinie nur für die Unionsbürger, die sich in einen anderen als den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen, begeben oder sich dort aufhalten, sowie für deren Familienangehörige gilt (Rn. 39).

10

Auch kann der Antragsteller nach dieser Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs entgegen seiner Behauptung ausArt. 20 AEUV keine Rechte etwa auf Aufenthaltsgestattung oder die (im vorliegenden Verfahren vor dem Verwaltungsgericht nicht geltend gemachte) Erteilung einer Arbeitserlaubnis herleiten, da der arbeitslose Antragsteller im Unterschied zu dem Kläger in dem vom Europäischen Gerichtshof entschiedenen Fall seinem Kind keinen Unterhalt leistet und vor allem sein bei den Pflegeeltern lebendes Kind im Falle seiner Ausreise keineswegs gezwungen wäre, das Gebiet der Europäischen Union mit ihm zu verlassen (vgl. EuGH, Urteil vom 8.3.2011 - C-34/09 - Rn. 40 ff.). Die von dem Antragsteller beantragte Vorlage an den Europäischen Gerichtshof kommt daher von vornherein nicht in Betracht.

11

Soweit die Beschwerde des Antragstellers unbegründet ist, bleibt auch sein Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren gemäß § 166 VwGO i.V.m. § 114 Satz 1 ZPO erfolglos, weil seine Beschwerde insoweit bereits zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidungsreife des Prozesskostenhilfeantrags keine hinreichende Aussicht auf Erfolg gehabt hat.