Sozialgericht Stade
Beschl. v. 27.12.2011, Az.: S 28 AS 871/11 ER

Vorliegen eines öffentlichen Interesses an der Vollziehung eines Verwaltungsaktes vor Eintritt seiner Bestandskraft bei Aussprechen einer Vollziehungsanordnung

Bibliographie

Gericht
SG Stade
Datum
27.12.2011
Aktenzeichen
S 28 AS 871/11 ER
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2011, 35640
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGSTADE:2011:1227.S28AS871.11ER.0A

Tenor:

  1. 1.

    Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers vom 17. Oktober 2011 (Az.: S 28 AS 741/11) gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 12. September 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04. Oktober 2011 wird wiederhergestellt. Der Antragsgegner hat dem Antragsteller die notwendigen außer-gerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten.

  2. 2.

    Dem Antragsteller wird für das erstinstanzliche Verfahren Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung in Höhe der Selbstbeteiligung bei der Rechtsschutzversicherung in Höhe von 150,00 EUR ab Antragstellung bewilligt und Rechtsanwalt D. aus E. beigeordnet.

Gründe

1

1. Der Antragsteller begehrt die Aufhebung der am 25. November 2011 vom Antragsgegner getroffenen schriftlichen Anordnung über die sofortige Vollziehung des Erstattungsbescheides vom 12. September 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04. Oktober 2011, mit dem der Antragsgegner die Zahlung von 2.488,08 EUR verlangt.

2

Nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Haupt-sache auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine auf-schiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Hiermit sind die Fallgruppen von § 86a Abs. 2 SGG angesprochen, so dass dieser Vor-schrift neben der Anordnung der aufschiebenden Wirkung in den Fällen von § 86a Abs. 2 Nr. 1 bis 4 SGG, in denen von Gesetzes wegen die aufschiebende Wirkung entfällt, auch die Fälle der Wiederherstellung der aufschiebende Wirkung (§ 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG) unterfallen, also solche, in denen - wie hier - die Verwaltung zuvor den Sofortvollzug an-geordnet hatte (vgl. Thüringer LSG, Beschluss vom 05.03.2003 - L 3 AL 979/02 ER - zitiert nach [...]). Der Gesetzgeber hat auch bei Sofortvollzugsanordnungen einstweiligen Rechtsschutz durch Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung einräumen wollen (vgl. LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 25.08.2003 - L 13 AL 2374/03 - zitiert nach [...]; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 06.02.2006 - L 13 AL 4566/05 ER-B - zitiert nach [...]). Die bloße Aufhebung der Vollziehbarkeitsanordnung sieht der insoweit einschlägige § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG nicht vor (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 21.09.2007 - L 7 AS 183/07 ER -).

3

Sinngemäß hat der Antrag des Antragstellers auf einstweiligen Rechtsschutz daher zum Gegenstand, dass die aufschiebende Wirkung seiner Klage vom 17. Oktober 2011 (Az.: S 28 AS 741/11) gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 12. September 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04. Oktober 2011 wegen der Erstattung von Leistungen in Höhe von 2.488,08 EUR wiederhergestellt wird.

4

Der so verstandene Antrag des Antragstellers ist zulässig und begründet.

5

Nach § 86a Abs. 1 SGG haben Widerspruch und Anfechtungsklage grundsätzlich auf-schiebende Wirkung. Die aufschiebende Wirkung von Rechtsbehelfen leitet sich aus Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) ab. Sie beruht auf der Garantie eines effizienten Rechts-schutzes und ist ein fundamentaler Grundsatz öffentlicher Prozesse. Er verhindert, dass die öffentliche Hand irreparable Maßnahmen durchführt und vollendete Tatsache schafft, bevor die Gerichte die Rechtmäßigkeit überprüft haben. Der Grundsatz der aufschieben-den Wirkung gilt jedoch nicht ausnahmslos. Nach dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit kann es in Ausnahmefällen gerechtfertigt sein, den Anspruch auf aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs einstweilen zurückzustellen. Der Gesetzgeber hat diese Ausnahmen in § 86a Abs. 2 SGG enumerativ geregelt (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 21.09.2007 - L 7 AS 183/07 ER -).

6

Nach § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG entfällt die aufschiebende Wirkung in Fällen, in denen die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten ist und die Stelle, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Wider-spruch zu entscheiden hat, die sofortige Vollziehung mit schriftlicher Begründung des besonderen Interesses an der sofortigen Vollziehung anordnet.

7

Mit den in der Vollziehungsanordnung des Antragsgegners vom 25. November 2011 ge-nannten Gründen lässt sich ein besonders öffentliches Interesse gerade an der sofortigen Vollziehung des Bescheides vom 12. September 2011 in der Gestalt des Widerspruchs-bescheides vom 04. Oktober 2011 nicht rechtfertigen.

8

Der Hinweis in der Vollziehungsanordnung, dass der Sachvortrag des Antragstellers, mit dem die Rechtswidrigkeit des angegriffenen Bescheides behauptet werde, nicht mit der geltenden Rechtslage in Einklang gebracht werden könne, vermag ein besonders öffentliches Vollziehungsinteresse hier noch nicht zu rechtfertigen. Der Antragsgegner verweist insoweit sinngemäß darauf, dass vernünftige Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Erstattungsentscheidung nicht bestünden und dass der Rechtsstreit nur geführt werde, um Zeit zu gewinnen und die Rückzahlung hinauszuzögern. Zwar trifft es zu, dass der Antrags-gegner und auch das Gericht bei der Frage, ob ein besonderes das Aufschubinteresse des Antragstellers übersteigendes besonderes Vollziehungsinteresse besteht, die Erfolgsaussicht in der Hauptsache in den Blick nehmen kann und muss. Mit der Feststellung, dass die Klage wegen Anfechtung der Erstattungsverfügung kaum Aussicht auf Erfolg hat, lässt sich aber das besondere öffentliche Vollzugsinteresse allein nicht begründen. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung stellt eine Ausnahme vom Regelfall des § 86a Abs. 1 SGG dar, wonach auch der Rechtsbehelf gegen eine rechtmäßige Erstattungsentscheidung grundsätzlich solange aufschiebende Wirkung hat, bis abschließend in der Hauptsache entschieden worden ist. Für die Vollziehungsanordnung ist ein besonderes öffentliches Interesse erforderlich, das über jenes Interesse hinausgeht, das den Verwaltungsakt selbst rechtfertigt. Das besondere öffentliche Interesse muss viel-mehr gerade an der sofortigen Vollziehung bestehen (vgl. LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 25.08.2003 - L 13 AL 2374/03 - zitiert nach [...], m.w.N.; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 06.02.2006 - L 13 AL 4566/05 ER-B - zitiert nach [...], m.w.N.). Die Vollziehungsanordnung bedarf auch bei einem offensichtlich rechtmäßigen Verwaltungsakt zusätzlich eines öffentlichen Interesses daran, den Verwaltungsakt vor Eintritt seiner Bestandskraft zu vollziehen (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG Kommentar, 9. Auflage, § 86b Rn. 12i).

9

Der Antragsgegner hat sich in der Vollziehungsanordnung dazu weiterhin darauf berufen, dass ein öffentliches Interesse an der zeitnahen Realisierung von öffentlich-rechtlichen Forderungen und an der Rückführung von zu Unrecht gezahlten öffentlichen Steuergeldern bestehe. Auch damit ist indes noch kein besonderes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung aufgezeigt. Zwar können auch fiskalische Interessen ein öffentliches Interesse darstellen. Fiskalische Interessen können den Ausschlag für das besondere Sofortvollzugsinteresse geben, wenn andernfalls so schwerwiegende Beeinträchtigungen der öffentlichen Interessen eintreten würden, dass der Regelfall der aufschieben-den Wirkung als Gebot des effektiven Rechtsschutzes zu Gunsten des Sofortvollzuges weichen muss. Hierfür ist bei Fiskalinteressen allerdings (regelmäßig) Voraussetzung, dass die Realisierung der geltend gemachten Forderung, die ohne größeren Aufschub gegebenenfalls auch vollstreckt werden soll, später ernsthaft in Frage steht, was die Verwaltung gegebenenfalls glaubhaft machen muss. Bei Geldforderungen ist ein besonderes Interesse an der sofortigen Vollziehung nur dann gegeben, wenn deren Vollstreckung gefährdet erscheint (vgl. Thüringer LSG, Beschluss vom 05.03.2003 - L 3 AL 979/02 ER - zitiert nach [...], m.w.N.; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 25.08.2003 - L 13 AL 2374/03 - zitiert nach [...], m.w.N.; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 06.02.2006 - L 13 AL 4566/05 ER-B - zitiert nach [...], m.w.N.). Anhaltspunkte für die Gefahr, dass die Realisierung der Erstattungsforderung in Gefahr gerät, sind für die Kammer nicht erkennbar. Auf eine solche Gefährdung hat sich auch der Antragsgegner in der Anordnung nicht berufen und auch hierfür keine tatsächlichen Anhaltspunkte aufgezeigt.

10

Schließlich reicht der schlichte Hinweis auf den Zinsvorteil des Antragstellers nicht aus, um den Sofortvollzug erfolgreich zu begründen (vgl. Hessisches LSG, Beschluss vom 23.12.2005 - L 7 AL 228/05 ER - zitiert nach [...]).

11

Damit fehlt es an einem besonderen die sofortige Vollziehung des Erstattungsbescheides rechtfertigenden öffentlichen Interesse mit der Folge, dass die aufschiebende Wirkung der Klage wegen der Anfechtung des Erstattungsbescheides wiederherzustellen ist.

12

Die Kostenentscheidung folgt aus dem entsprechend anzuwendenden § 193 SGG.

13

2. Der Prozesskostenhilfeantrag hat Erfolg, weil der Antrag aus den vorstehenden Gründen (vgl. Ziffer 1.) hinreichende Erfolgsaussichten im Sinn der §§ 73a SGG und 114 Satz 1 Zivilprozessordnung (ZPO) hat.