Sozialgericht Stade
Beschl. v. 01.12.2011, Az.: S 34 SF 39/11 E

Geschäftsgebühr nach Nr. 2401 VV RVG von mehr als 120,00 EUR kann nur gefordert werden bei großem Umfang oder Schwierigkeit der Tätigkeit; Forderung einer Geschäftsgebühr nach Nr. 2401 VV RVG von mehr als 120,00 EUR bei großem Umfang oder Schwierigkeit der Tätigkeit; Mangelnde Verbindlichkeit einer von einem Rechtsanwalt getroffenen Bestimmung nach § 14 Abs. 1 S. 4 RVG bei Unbilligkeit und Ersatz derselben von einem Dritten

Bibliographie

Gericht
SG Stade
Datum
01.12.2011
Aktenzeichen
S 34 SF 39/11 E
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2011, 32155
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGSTADE:2011:1201.S34SF39.11E.0A

Tenor:

Die Erinnerung des Beklagten vom 21. Juli 2011 sowie die Anschlusserinnerung der Klägerin vom 29. August 2011 werden zurückgewiesen.

Gründe

1

Streitig ist zwischen den Beteiligten die Höhe der zu erstattenden Auslagen und Gebühren. Der Beklagte und Erinnerungsführer wendet sich gegen die Festsetzung einer Geschäftsgebühr nach Nr. 2401 VV RVG iHv 150,00 EUR sowie gegen die Festsetzung einer Dokumentenpauschale nach Nr. 7000 VV RVG iHv 34,45 EUR. Die Erinnerungsgegnerin und Klägerin macht mit ihrer Anschlusserinnerung eine höhere Verfahrenbsgebühr nach Nr. 3103 VV RVG, eine höhere Terminsgebühr nach Nr. 3106 VV RVG sowie eine Einigungsgebühr nach Nrn 1005, 1006 VV RVG geltend.

2

I.

Die Erinnerung ist zulässig und teilweise begründet.

3

Unzutreffend hat die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle eine Geschäftsgebühr nach Nr. 2401 VV RVG iHv 150,00 EUR festgesetzt. Zu Recht macht der Beklagte geltend, dass eine Geschäftsgebühr nach dieser Ziffer lediglich iHv 120,00 EUR geltend gemacht werden kann. Die Geschäftsgebühr in sozialgerichtlichen Angelegenheiten, in denen im gerichtlichen Verfahren Betragsrahmengebühren entstehen, beträgt nach Nr. 2401 VV RVG 40,00 bis 260,00 EUR. Die Mittelgebühr beträgt 150,00 EUR. Eine Gebühr von mehr als 120,00 EUR kann jedoch nur gefordert werden, wenn die Tätigkeit umfangreich oder schwierig war.

4

Vorliegend ist nicht erkennbar, dass von einer Überdurchschnittlichkeit hinsichtlich Aufwand oder Schwierigkeit ausgegangen werden kann. Insbesondere hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin nicht dargelegt, aus welchen Gründen die Tätigkeit umfangreich bzw. schwierig in diesem Sinne gewesen sein soll. Nach Aktenlage ist ersichtlich, dass im Wesentlichen zwei Schriftsätze am 19. Juli 2006 sowie am 4. September 2006 gefertigt worden sind. Beide Schriftsätze umfassen einen Text von jeweils zwei Seiten. Auch unter Würdigung der vorliegenden medizinischen Unterlagen ist nicht ersichtlich, dass von einem ungewöhnlich hohen anwaltlichen Aufwand oder einer überdurchschnittlichen Schwierigkeit der Rechtssache ausgegangen werden kann. Nach alledem kann eine Gebühr von mehr als 120,00 EUR nicht geltend gemacht werden, da die Voraussetzungen nicht erfüllt sind.

5

Dagegen hat die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle zu Recht eine Dokumentenpauschale nach Nr. 7000 VV RVG iHv 34,45 EUR festgesetzt. Insoweit kann auf die Ausführungen in dem angefochtenen Kostenfestsetzungsbeschluss verwiesen werden; an dieser Stelle ist ausdrücklich und nachvollziehbar dargelegt, welche Fotokopien als notwendig zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung im Sinne des SGG anzusehen und damit erstattungsfähig sind. Dem hat der Beklagte nichts entgegengesetzt. Die bloße Behauptung, lediglich 45 Fotokopien wären erforderlich gewesen, ist nicht nachvollziehbar. Im Übrigen folgt die Kammer der zitierten Rechtsprechung des SG Hannover aus dem Jahr 2006 nicht.

6

II.

Die Anschlusserinnerung der Klägerin ist zulässig und teilweisebegründet.

7

Die Klägerin hat entgegen ihrer eigenen Darstellung keine Erinnerung gegen den Kostenfestsetzungsbeschluss eingelegt. Allerdings ist ihr Begehren als Anschlusserinnerung auszulegen und insoweit zulässig, aber unbegründet.

8

1. Zu Unrecht hat die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle lediglich eine Verfahrensgebühr nach Nr. 3103 VV RVG iHv 170,00 EUR festgesetzt.

9

Nach §§ 3, 14 RVG bestimmt der Rechtsanwalt die Rahmengebühr im Einzelfall unter Berücksichtigung aller Umstände, vor allem des Umfangs und der Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit, der Bedeutung der Angelegenheit sowie der Einkommens- und der Vermögensverhältnisse des Auftraggebers nach billigem Ermessen. Das Haftungsrisiko ist zu berücksichtigen, § 14 Abs. 1 Satz 3 RVG. Wenn die Gebühr von einem Dritten zu ersetzen ist, so ist die von dem Rechtsanwalt getroffene Bestimmung nach § 14 Abs. 1 Satz 4 RVG nicht verbindlich, wenn sie unbillig ist.

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Ausgangspunkt bei der Bemessung der Gebühr ist die sogenannte Mittelgebühr, das heißt die Mitte des gesetzlichen Gebührenrahmens, die anzusetzen ist bei Verfahren durchschnittlicher Bedeutung, durchschnittlichen Schwierigkeitsgrades und wenn die vom Rechtsanwalt/Beistand geforderte und tatsächlich entwickelte Tätigkeit ebenfalls von durchschnittlichem Umfang war. Denn nur so wird eine einigermaßen gleichmäßige Berechnungspraxis gewährleistet. Abweichungen nach unten oder oben ergeben sich, wenn nur ein Tatbestandsmerkmal des § 14 RVG fallbezogen unter- oder überdurchschnittlich zu bewerten ist, wobei das geringere Gewicht eines Bemessungsmerkmals das überwiegende Gewicht eines anderen Merkmals kompensieren kann (Gerold/Schmidt-Mayer, RVG, 18. Auflage 2008, § 14 Rn 11). Unter Berücksichtigung dieser Maßgaben erweist sich die von der Klägerin geltend gemachte Verfahrensgebühr iHv 200,00 EUR nicht als unbillig. Anhaltspunkte dafür, dass die Bedeutung der Sache, die Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit sowie die Ein-kommens- und Vermögensverhältnisse der Klägerin überdurchschnittlich waren, sind nicht ersichtlich. Allerdings erweist sich der Umfang der anwaltlichen Tätigkeit im gerichtlichen Verfahren als leicht überdurchschnittlich, da neben der Klagebegründung acht weitere Schriftsätze gefertigt wurden. Daher ist die Verfahrensgebühr wie beantragt mit 200,00 EUR festzusetzen.

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2. Zutreffend hat die Urkundsbeamtin dagegen die Terminsgebühr nach Nr. 3106 VV RVG auf 100,00 EUR festgesetzt.

12

Der Rechtsstreit wurde durch die Annahme eines Anerkenntnisses beendet, so dass ein Termin tatsächlich nicht stattgefunden hat. Eine Terminsgebühr nach Nr. 3106 VV-RVG ist dennoch entstanden. Durch die Regelung der Nr. 3106 VV RVG (Ziffern 1 bis 3) soll verhindert werden, dass gerichtliche Termine allein zur Wahrung des Gebührenanspruchs stattfinden müssen; sie bietet einen Anreiz für den Rechtsanwalt, auf die Durchführung des Termins zu verzichten. Die Anwendung der Grundsätze des § 14 RVG auf die "fiktive" Terminsgebühr nach Nr. 3106 - Ziffer 1 bis Ziffer 3 - VV RVG ist mit dem Problem behaftet, dass ein Termin tatsächlich nicht stattgefunden hat und dessen Schwierigkeit und Aufwand für den Prozessbevollmächtigten damit nicht bewertet werden können. Die Kammer vertritt in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, dass bei der Bemessung der Terminsgebühr auf den hypothetischen Aufwand abzustellen ist, der bei Durchführung eines Termins im konkreten Verfahrensstadium voraussichtlich entstanden wäre. Daher ist eine fiktive Vergleichsbetrachtung anzustellen, in welcher Höhe ein Gebührenanspruch voraussichtlich entstanden wäre, wenn ein Termin stattgefunden hätte.

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Wenn danach auch bei der fiktiven Terminsgebühr von einem Gebührenrahmen zwischen 20,00 EUR und 380,00 EUR auszugehen ist, ergibt eine auf einen hypothetischen Termin bezogene Abwägung der Kriterien des § 14 RVG, dass insoweit eine insgesamt weit unterdurchschnittliche Angelegenheit vorliegt. Dem Anwalt steht die Mittelgebühr hinsichtlich der Terminsgebühr für Termine mit durchschnittlicher Schwierigkeit, durchschnittlichem Aufwand und durchschnittlicher Bedeutung für den Mandanten zu. Unter Beachtung aller Abwägungskriterien erscheint regelmäßig nach Annahme eines vollen Anerkenntnisses und entsprechendem Entfallen eines Termins eine fiktive Terminsgebühr in Höhe der Hälfte der Mittelgebühr angemessen. Entscheidend ist regelmäßig darauf abzustellen, dass die Durchführung eines Termins bei bereits zuvor vorliegendem vollen Anerkenntnis sowohl in der Vorbereitung durch den Anwalt als auch vom zeitlichen und inhaltlichen tatsächlichen Umfang als weit unterdurchschnittlich anzusehen ist. Gleiches gilt bei dieser Sachlage auch für die Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit.

14

Da bei der Bemessung auch der Terminsgebühr gemäß § 14 Abs. 1 RVG jedoch - wie ausgeführt - alle Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen sind, kann andererseits auch nicht allein auf den zu erwartenden geringen Aufwand abgestellt werden. Wägt man daher die dargestellten unterdurchschnittlichen Anforderungen an die hypothetische anwaltliche Tätigkeit mit den übrigen Kriterien des § 14 Abs. 1 RVG - insoweit ist eine Abweichung zu der Bewertung der Kriterien bei der Bemessung der Verfahrensgebühr in der Regel nicht gerechtfertigt - gegeneinander ab, ist der Rechtsstreit hinsichtlich der Festsetzung der Terminsgebühr in Höhe von 100,00 EUR - mithin in Höhe der Hälfte der Mittelgebühr - regelmäßig kostenrechtlich angemessen erfasst. Dies bedeutet zugleich, dass bei einem tatsächlich stattgefundenen Termin, in dem lediglich die Annahme des Anerkenntnisses erklärt worden wäre, regelmäßig auch ein Betrag in Höhe dieses Betrages festzusetzen wäre.

15

Die Entscheidung entspricht der inzwischen ständigen Rechtsprechung der Kostenkammer des Sozialgerichts Stade. Die von der Klägerin zitierte Rechtsprechung des Gerichts aus dem Jahr 2009 wurde bereits im Jahr 2009 aufgegeben.

16

3. Zutreffend hat die Urkundsbeamtin die Festsetzung einer Einigungs- bzw. Erledigungsgebühr iSv Nr. 1006 VV RVG abgelehnt.

17

Eine Einigung i.S.d. RVG ist vorliegend offensichtlich nicht zustande gekommen, da der Beklagte den Anspruch anerkannt hat.

18

Eine Erledigungsgebühr entsteht nach Nr. 1006 i.V.m. Nr. 1002 VV RVG, wenn sich eine Rechtssache ganz oder teilweise nach Aufhebung oder Änderung des mit einem Rechtsbehelf angefochtenen Verwaltungsakts durch die anwaltliche Mitwirkung erledigt. Das Gleiche gilt, wenn sich eine Rechtssache ganz oder teilweise durch Erlass eines bisher abgelehnten Verwaltungsakts erledigt. Die anwaltliche Mitwirkung erfordert dabei nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ein qualifiziertes, erledigungsgerichtetes Tätigwerden des Rechtsanwalts, das über das Maß desjenigen hinausgeht, welches bereits durch den allgemeinen Gebührentatbestand für das anwaltliche Auftreten im sozialrechtlichen Widerspruchs- bzw. Klageverfahren abgegolten wird (vgl BSG, Urteil vom 01. Juli 2009 - B 4 AS 21/09 R - [...] Rdn 42 m.w.N.; BSG, Urteil vom 05. Mai 2009 - B 13 R 137/08 R - [...] Rdn 16 m.w.N.; BSG, Urteil vom 02. Oktober 2008 - B 9/9a SB 3/07 R - [...] Rdn 15; vgl. auch Hartmann, Kostengesetze, 40. Aufl. 2010, VV 1002 Rdn. 9; Müller-Rabe in Gerold/ Schmidt, Kommentar zum Rechtsanwaltsvergütungsgesetz, 19. Aufl. 2010, VV 1002 Rdn 38, VV 1005-1007 Rdn 2).

19

Hier hat sich das Klageverfahren nicht durch eine diesen Voraussetzungen entsprechende Mitwirkung des Bevollmächtigten des Antragstellers erledigt. Allein die Annahme eines Anerkenntnisses ist (wie auch eine Klagerücknahmeerklärung oder andere Erledigterklärung) in aller Regel keine über die normale Prozessführung hinaus gehende, qualifizierte Mitwirkung des Rechtsanwalts an der Erledigung (vgl Hartmann, a.a.O., VV 1002 Rdn 9 und Rdn 14 zur "Erledigtanzeige" und zur "Klagerücknahme"; LSG Rheinland-Pfalz - Beschluss vom 30. August 2010 - L 3 SF 6/09 E; OVG Mecklenburg-Vorpommern - Beschluss vom 05. Mai 2010 - 1 O 27/10; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 6. Mai 2011 - L 6 B 20/09 SB und Urteil vom 23.03.2010 - L 6 SB 64/09). Die Abgabe einer solchen Prozesserklärung wird mit der Verfahrensgebühr abgegolten. Eine besondere Mühewaltung des Beschwerdeführers, die die Entstehung der zusätzlichen Gebühr rechtfertigen würde, ist nicht erkennbar. Wenn der Prozessgegner ein Anerkenntnis abgibt und damit dem Kläger den vollen Klageerfolg zugesteht, wird ein Rechtsanwalt seinen Mandanten regelmäßig ohne Mühe und somit ohne qualifizierende Mitwirkung zur Annahme des Anerkenntnisses bewegen können.

20

III.

Nach alledem berechnen sich die zu erstattenden Auslagen und Gebühren wie folgt:

21

Vorverfahren:

Geschäftsgebühr Nr. 2401 VV RVG120,00 EUR
Dokumentenpauschale Nr. 7000 VV RVG0,50 EUR
Auslagenpauschale Nr. 7002 VV RVG 20,00 EUR
Umsatzsteuer Nr. 7008 VV RVG 26,70 EUR
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Klageverfahren:

Verfahrensgebühr Nr. 3103 VV RVG 200,00 EUR
Terminsgebühr Nr. 3106 VV RVG100,00 EUR
Dokumentenpauschale Nr. 7000 VV RVG 34,45 EUR
Auslagenpauschale Nr. 7002 VV RVG20,00 EUR
Umsatzsteuer Nr. 7008 VV RVG67,35 EUR
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Summe 589,00 EUR

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IV.

Da bei Durchführung einer Gesamtbetrachtung die angefochtene Festsetzung mit 589,00 EUR nicht zu beanstanden ist, sondern sich als zutreffend erweist, sind Erinnerung und Anschlusserinnerung (im Ergebnis) zurückzuweisen.

25

V.

Die Entscheidung ist unanfechtbar, § 197 Abs. 2 SGG.