Sozialgericht Stade
Beschl. v. 12.08.2011, Az.: S 19 SO 89/11 ER

Unter einer eheähnlichen Lebensgemeinschaft ist eine auf Dauer angelegte Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft zu verstehen; Einstufung einer auf Dauer angelegten Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft als eheähnliche Lebensgemeinschaft

Bibliographie

Gericht
SG Stade
Datum
12.08.2011
Aktenzeichen
S 19 SO 89/11 ER
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2011, 26834
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGSTADE:2011:0812.S19SO89.11ER.0A

Tenor:

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwältin B. wird abgelehnt.

Gründe

1

I.

Die Beteiligten streiten im einstweiligen Rechtsschutz um Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem 12. Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII).

2

Die am 20. Oktober 1955 geborene Antragstellerin bezog ab April 2005 Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem SGB XII. Infolge ihres Umzugs nach D. wurden die Leistungen zum 1. September 2006 eingestellt. Seit erneutem Zuzug in den örtlichen Zuständigkeitsbereich des Antragsgegners steht sie seit März 2010 dort wieder im Leistungsbezug. Dabei erfolgt die Leistungsbewilligung unter Berücksichtigung von Einkommen des Herrn E., mit welchem die Antragstellerin eine gemeinsam angemietete Wohnung bewohnt. Zuletzt wurden ihr mit Bescheid der Gemeinde F. vom 4. Juli 2011 für die Monate Juli und August 2011 Leistungen iHv 874,92 EUR monatlich und für den Zeitraum September 2011 bis Juni 2012 auf 237,27 EUR monatlich bewilligt.

3

Gegen diesen Bescheid hat die Antragstellerin mit Schreiben ihrer Bevollmächtigten vom 13. Juli 2011 Widerspruch eingelegt sowie eine Abänderung der Bescheide für die Zeit vor dem 1. August 2010 beantragt.

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Am 15. Juli 2011 hat sie beim Sozialgericht Stade das vorliegende Eilverfahren eingeleitet, in welchem sie im Wege der einstweiligen Anordnung die Verpflichtung des Antragsgegners zur Bewilligung von Leistungen nach dem SGB XII ohne Anrechnung des Einkommens des Herrn E. beantragt. Nach ihrer Auffassung besteht zwischen ihr und Herrn E. keine eheähnliche Gemeinschaft. Seit einer Subarachnoidalblutung im Jahr 1999 bestünden bei ihr neuropsychologische Defizite. Gutachterlicherseits sei 2004 eine Hirnleistungsstörung mit behandlungsbedürftigen kognitiven Defiziten, Einschränkungen der Konzentration, der Auffassung, der Logik und des Kurzzeitgedächtnisses festgestellt worden. Zudem ergebe sich aus einem Gutachten des Neurologen Prof. G. vom 8. März 2005, dass sie nicht mehr in der Lage sei, einen Haushalt selbstständig zu führen und im Kontakt mit Menschen in ungewohnter Umgebung, z.B. beim Einkaufen und bei Behördengängen, durch Angst- und Panikstörungen in starker Weise behindert sei. Daher sei sie seit Jahren auf eine Person angewiesen, die ihr den Haushalt führe und sie bei Einkäufen oder sonstigen Erledigungen begleite. Diese Hilfen übernehme Herr E., ohne dessen Unterstützungen Leistungen der Eingliederungshilfe, Haushaltshilfe oder Hilfe zur Pflege erforderlich wären. Bei ihm handele es sich um einen 17 Jahre jüngeren, guten Freund ihres Sohnes. Das Verhältnis zwischen ihr und Herrn E. sei durch ihre Hilfebedürftigkeit geprägt; eine persönliche Beziehung im Sinne einer gegenseitigen Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft bestehe nicht. Sie nutzen die untere Etage des Hauses mit Küche und Bad gemeinsam, hätten aber getrennte Schlafzimmer. Sie verfügten weder über gemeinsame Konten noch seien gemeinsame Versicherungen abgeschlossen worden.

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Der Antragsgegner tritt dem Antrag entgegen und beantragt dessen Ablehnung. Nach seiner Auffassung ist aufgrund zahlreicher Indizien von einer bestehenden Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft auszugehen. So habe die Antragstellerin Herrn E. mehrfach als Lebenspartner bezeichnet, sei mehrfach gemeinsam mit ihm umgezogen und habe die anspruchsmindernde Berücksichtigung von seinem Einkommen bislang widerspruchslos hingenommen. Die aktuelle Situation der Antragstellerin sei davon geprägt, dass Teile des Lohns von Herrn E. gepfändet seien. Es seien aber weder Grund und Dauer der Pfändung noch die Höhe der Forderung bekannt noch sei ersichtlich, ob Herr E. seinen Arbeitgeber zur Einhaltung der Pfändungsfreigrenzen aufgefordert und sich gegen die Pfändungsmaßnahmen gewehrt habe. Daher könnten Änderungen bei der Leistungsbewilligung gegenüber der Antragstellerin zurzeit nicht vorgenommen werden.

6

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zur Akte gereichten Schriftsätze der Beteiligten sowie auf die Verwaltungsakten des Antragsgegners, die das Gericht beigezogen hat, verwiesen.

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II.

Der zulässige Antrag ist unbegründet. Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Dies ist der Fall, wenn ohne den vorläufigen Rechtsschutz dem Betroffenen eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung in seinen Rechten droht, die durch die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann (Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 12.05.2005 - 1 BvR 569/05 m.w.N.). Die tatsächlichen Voraussetzungen des Anordnungsanspruchs - die Rechtsposition, deren Durchsetzung im Hauptsacheverfahren beabsichtigt ist - sowie des Anordnungsgrundes - die Eilbedürftigkeit für eine Entscheidung durch einstweiligen Rechtsschutz - sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 S 4 SGG i.V.m. § 920 Zivilprozessordnung).

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Die Antragstellerin hat jedenfalls einen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft dargelegt. Gem § 19 Abs. 2 SGB XII ist Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach den besonderen Voraussetzungen des 4. Kapitels an Personen zu leisten, die dauerhaft voll erwerbsgemindert sind, sofern sie ihren notwendigen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, insbesondere aus ihrem Einkommen und Vermögen, beschaffen können. Personen, die in eheähnlicher oder lebenspartnerschaftsähnlicher Gemeinschaft leben, dürfen gem § 20 SGB XII hinsichtlich der Voraussetzungen sowie des Umfangs der Sozialhilfe nicht besser gestellt werden als Ehegatten. Das Einkommen und Vermögen von nicht getrennt lebenden Ehegatten oder Lebenspartnern sowie des Partners einer eheähnlichen Gemeinschaft, die dessen notwendigen Lebensunterhalt nach § 27a SGB XII übersteigen, sind bei den Grundsicherungsleistungen zu berücksichtigen, § 43 Abs. 1 SGB XII. Von einer eheähnlichen Lebensgemeinschaft ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Urteil vom 17. November 1992, Az: 1 Bv L 8/87, NJW 1993, 647 [BVerfG 24.09.1992 - 1 BvR 1443/89]) eine auf Dauer angelegte Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft zu verstehen. Davon ist auszugehen, wenn die Lebensgemeinschaft auf Dauer angelegt ist, daneben keine weitere Lebensgemeinschaft gleicher Art zulässt und sich durch innere Bindungen auszeichnet, die ein gegenseitiges Einstehen der Partner füreinander begründen, also über die Beziehung einer reinen Haus- und Wirtschaftsgemeinschaft hinausgehen. Eine solche Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft ist bei Gemeinschaften gegeben, in denen die Bindung der Partner so eng ist, dass von ihnen ein gegenseitiges Einstehen in Not und Wechselfällen des Lebens erwartet werden kann. Ob bei einem Zusammenleben zwischen Mann und Frau von einer eheähnlichen Gemeinschaft auszugehen ist, kann dabei nur aufgrund von Indizien beurteilt werden, wobei unter Würdigung aller Umstände des Einzelfalls alle Anhaltspunkte einzeln und jeweils in ihrem Zusammenwirken zu bewerten und zu gewichten sind (vgl LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 9. September 2010 L 8 SO 140/10 B ER; Beschluss vom 6. Juli 2005, Az: L 8 AS 137/05 ER).

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Ausgehend von diesen Voraussetzungen ist vorliegend aufgrund der Indizien von einer eheähnlichen Gemeinschaft auszugehen. Insbesondere ist von Bedeutung, dass die Antragstellerin mit Herrn E. nicht nur seit vielen Jahren an verschiedenen Orten zusammenwohnt, sondern sie ihn in der Vergangenheit immer wieder als ihren Freund bzw. Lebensgefährten angegeben hat. So hat sie bereits bei erstmaliger Antragstellung mit Schreiben vom 15. Februar 2005 erklärt, bislang von dem Geld ihres Freundes gelebt zu haben. Weiterhin ist in der Sozialanamnese eines über die Antragstellerin erstellten medizinischen Gutachtens von Prof. H. vom 7. Juni 2004 und ebenso in einem fachneurologischen Zusatzgutachten von Prof. G. vom 26. Februar 2005 ausgeführt, dass sie mit einem neuen Freund zusammen bzw. vom Unterhalt ihres derzeitigen Lebenspartners lebe. Zudem hat den Grundsicherungsantrag vom 26. Januar 2010 Herr E. als Lebenspartner unterschrieben und dort die geforderten Angaben zu seinen Einkommens- und Vermögensverhältnissen vorgenommen. Es ist schon kein einleuchtender Grund ersichtlich, warum die Angaben der Antragstellerin bzw. des Herrn E. in der Vergangenheit fehlerhaft gewesen sein sollten. Auch kann sich die Antragstellerin nicht mit Erfolg darauf berufen, sich der rechtlichen Bedeutung dieser Angaben nicht bewusst gewesen zu sein oder gegenüber der Gemeinde F. darauf hingewiesen zu haben, dass keine eheähnliche Lebensgemeinschaft bestehe. Denn von der dann naheliegenden Möglichkeit eines Widerspruchs gegen die aus ihrer Sicht fehlerhaften Bescheide ist bis zuletzt kein Gebrauch gemacht worden, obwohl das Einkommen des Herrn E. jedenfalls seit 2010 anspruchsmindernd berücksichtigt wird; damit sind nicht nur ihre Angaben, sondern ist auch das Verhalten in der Vergangenheit widersprüchlich zu dem jetzigen Vorbringen. Ebenso ist die Annahme abwegig, dass die Angaben in verschiedenen medizinischen Gutachten nicht auf entsprechenden Erklärungen der Antragstellerin beruhen.

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Hinzu kommt, dass die Antragstellerin seit November 2004 mindestens fünf Mal mit Herrn E. zusammen gemeinsam umgezogen ist. Für eine Wohngemeinschaft, die allein zum Zwecke des bloßen Zusammenwohnens besteht, ist bei Auszug eines Mitglieds die Auflösung oder Fortsetzung in anderer Zusammensetzung typisch. Hingegen spricht das gemeinsame Beziehen einer oder mehrerer Wohnungen, noch dazu wie vorliegend an unterschiedlichen Orten, für ein Zusammenleben, das über bloße Wohnzwecke deutlich hinausgeht.

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Diese wie auch weitere für eine eheähnliche Lebensgemeinschaft sprechenden Indizien werden durch die krankheitsbedingte Hilfebedürftigkeit der Antragstellerin nicht widerlegt. Vielmehr weist der Antragsgegner zu Recht darauf hin, dass gerade die von der Antragstellerin geschilderten Hilfestellungen des Herrn E. bei Einkäufen, Haushaltsführung, Behördengängen und Arztbesuchen, aber auch seine Unterstützungen zum Lebensunterhalt vor und auch noch während des Leistungsbezugs geradezu typisch für eine Verantwortungs- und Einstandsgemeinschaft sind, welche eine eheähnliche Lebensgemeinschaft begründen. Im Übrigen zeigt sich das gegenseitige Einstehen füreinander vorliegend auch darin, dass es die Antragstellerin zulässt, dass das Arbeitsentgelt des Herrn E. infolge der Pfändung von dessen Konto jetzt auf ihrem Konto eingeht.

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Ist demnach von einer eheähnlichen Lebensgemeinschaft auszugehen, ist das Einkommen des Herrn E. bei den Grundsicherungsleistungen der Antragstellerin zu berücksichtigen. Der Umstand, dass infolge der Pfändung des Arbeitseinkommens von Herrn E. zurzeit weniger Einkommen zur Verfügung steht als im letzten Bewilligungsbescheid ausgewiesen, kann jedenfalls im vorliegenden Verfahren zu keinem höheren Anspruch führen, da die Antragstellerin nicht dargelegt hat, dass insoweit die vorrangigen Rechtsschutzmöglichkeiten des Zwangsvollstreckungsverfahrens (§ 850 f Abs. 1 ZPO) ausgeschöpft wurden.

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III.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von §§ 183, 193 SGG.

14

IV.

Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist abzulehnen, da der Antrag aus den vorstehenden Gründen keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat, § 73 a SGG i.V.m. §§ 114 ff ZPO.