Sozialgericht Stade
Urt. v. 13.09.2011, Az.: S 16 AL 155/09

§ 130 Abs. 2 Nr. 4 SGB III findet Anwendung bei Vereinbarung einer kürzeren Arbeitszeit als der bislang arbeitsvertraglich geschuldeten; Anwendbarkeit von § 130 Abs. 2 Nr. 4 SGB III bei Vereinbarung einer kürzeren Arbeitszeit als der bislang arbeitsvertraglich geschuldeten

Bibliographie

Gericht
SG Stade
Datum
13.09.2011
Aktenzeichen
S 16 AL 155/09
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2011, 25241
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGSTADE:2011:0913.S16AL155.09.0A

Tenor:

Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

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Der Kläger begehrt die Gewährung höheren Arbeitslosengeldes ab 1. Juni 2009.

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Der 1948 geborene Kläger war zumindest seit 1994 als Lagerverwalter angestellt bei der von seiner Frau geführten Firma E. Bezirkshandlung B ... Die Tätigkeit des Klägers umfasste über viele Jahre etwa 13 bis 15 Stunden pro Woche. Ab 1. Oktober 2006 war der Kläger 19,5 Stunden wöchentlich tätig. Im Zeitraum 1. April bis 31. August 2008 umfasste seine Tätigkeit 30 Stunden bei einem Arbeitsentgelt von 1.540,00 EUR brutto, ab 1. September 2008 übte der Kläger seine Tätigkeit als Vollzeittätigkeit im Sinne von 40 Wochenstunden bei einem Bruttoarbeitsentgelt von 4.500,00 EUR aus. In dem Zeitraum ab 1. September 2008 war die Ehefrau des Klägers arbeitsunfähig erkrankt. Aus diesem Grund wurden vom Kläger ab diesem Zeitpunkt zusätzliche Aufgaben wahrgenommen. Im November 2008 kündigte die Ehefrau des Klägers den Bezirkshändlervertrag mit der E. Deutschland GmbH. Mit Schreiben vom 8. Januar 2009 bestätigte die E. Deutschland GmbH die Kündigung und teilte mit, dass der Bitte auf vorzeitige Entlassung aus dem Bezirkshändlervertrag zum 31. Mai 2009 zugestimmt werde. Bereits am 23. Dezember 2008 kündigte die Ehefrau des Klägers als Arbeitgeberin dem Kläger zum 31. Mai 2009. Als Grund wurde angegeben, dass wegen Krankheit der Unternehmerin eine Geschäftsaufgabe erfolge.

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Am 23. April 2009 meldete sich der Kläger bei der Beklagten arbeitslos zum 1. Juni 2009. Mit Bescheid vom 6. Mai 2009 bewilligte die Beklagte dem Kläger Arbeitslosengeld für 720 Kalendertage ab 1. Juni 2009 iHv 54,12 EUR täglich. Dabei berücksichtigte die Beklagte zur Bestimmung des Bemessungsentgelts das Arbeitseinkommen im Zeitraum Juni 2008 bis April 2009, d.h. drei Monate mit einem Arbeitsentgelt von 1.540,00 EUR sowie acht Monate mit einem Arbeitsentgelt von 4.500,00 EUR. Gegen diesen Bescheid legte der Kläger Widerspruch ein. Mit Änderungsbescheid vom 10. November 2009 korrigierte die Beklagte die Entscheidung dahingehend, dass zusätzlich das Arbeitsentgelt im Monat Mai 2009 berücksichtigt wurde. Die Höhe des Arbeitslosengeldes wurde zugleich korrigiert auf 55,17 EUR täglich. Mit Widerspruchsbescheid vom 11. November 2009 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers im Übrigen zurück und führte aus, sie habe zutreffend auch die Monate Juni 2008 bis August 2008 mit dem geringeren Arbeitsentgelt bei der Bestimmung des Bemessungsentgelts berücksichtigt. Die Billigkeitsregel des § 130 Abs. 2 Nr. 4 Sozialgesetzbuch Drittes Buch (SGB III) greife nur ein, wenn zuletzt vor Eintritt der Arbeitslosigkeit von der Vollzeitbeschäftigung auf eine Teilzeitbeschäftigung gewechselt worden sei. Mit Änderungsbescheid vom 12. November 2009 teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass sich aufgrund der Nichtberücksichtigung der Tochter des Klägers eine Verringerung der Höhe des Arbeitslosengeldes ergebe. Diesen Bescheid hob die Beklagte mit weiterem Bescheid vom 8. März 2010 wieder auf und stellte fest, dass dem Kläger auch ab 1. Dezember 2009 Arbeitslosengeld in Höhe von 55,17 EUR täglich zustehe.

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Am 11. Dezember 2009 hat der Kläger Klage erhoben und trägt vor, er sei weiterhin der Auffassung, dass § 130 Abs. 2 Nr. 4 SGB III auch ihm zugute kommen müsse. Nach dem Wortlaut der Norm sei eine Einschränkung dahingehend, dass die Regelung nur dann eingreife, wenn zuvor von einer Vollzeit- auf eine Teilzeittätigkeit gewechselt worden sei, nicht hingegen umgekehrt, nicht erkennbar. Wenn der Gesetzgeber eine derartige Einschränkung gewollt hätte, hätte er dies im Gesetzestext berücksichtigt.

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Der Kläger beantragt,

die Beklagte wird verurteilt, unter Abänderung des Bescheides vom 6. Mai 2009 in der geänderten Gestalt gemäßÄnderungsbescheid vom 10. November 2009 sowie Änderungsbescheid vom 8. März 2010 an den Kläger ab dem 1. Juni 2009 ein monatliches Arbeitslosengeld nach § 117 SGB III aus dem für die Zeit vom 1. September 2008 bis 31. Mai 2009 ermittelten Bemessungsentgelt zu zahlen.

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Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

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Sie hält den angefochtenen Bescheid für rechtmäßig und nimmt Bezug auf die Begründung des Widerspruchsbescheides.

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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte und die beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Klage ist unbegründet. Die angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten, der Kläger hat keinen Anspruch auf Gewährung höheren Arbeitslosengeldes.

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Streitig ist zwischen den Beteiligten ausschließlich, ob zugunsten des Klägers die Regelung des § 130 Abs. 2 Nr. 4 SGB III Anwendung findet, so dass sich die Höhe des Arbeitslosengeldes bzw. des Bemessungsentgelts ausschließlich aufgrund des Arbeitsentgelts aus dem Zeitraum September 2008 bis Mai 2009 bestimmen würde.

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Die Entscheidung der Beklagten ist nicht zu beanstanden, denn die Voraussetzungen des § 130 Abs. 2 1 Nr. 4 SGB III sind vorliegend nicht erfüllt. § 130 Abs. 2 1 Nr. 4 SGB III sieht vor, dass Zeiten bei der Ermittlung des Bemessungszeitraums außer Betracht bleiben, in denen die durchschnittliche regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit aufgrund einer Teilzeitvereinbarung nicht nur vorübergehend auf weniger als 80% der durchschnittlichen regelmäßigen Arbeitszeit einer vergleichbaren Vollzeitbeschäftigung, mindestens um fünf Stunden wöchentlich, vermindert war, wenn der Arbeitslose Beschäftigungen mit einer höheren Arbeitszeit innerhalb der letzten dreieinhalb Jahre vor der Entscheidung des Anspruchs während eines sechs Monate umfassenden zusammenhängenden Zeitraums ausgeübt hat.

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Die veränderte Arbeitszeit muss auf einer Teilzeitvereinbarung im Sinne einer individual-rechtlichen Regelung der Arbeitszeit durch Einzelvertrag oder einer Regelung auf der Ebene einer Betriebsvereinbarung oder eines Tarifvertrages beruhen. Der Begriff der Teilzeitvereinbarung im Sinne der Norm erfasst dabei ausschließlich Arbeitszeitveränderungen im selben, bereits bestehenden Beschäftigungsverhältnis. Neben dem Wortlaut der Regelung ergibt sich dies aus den Zielsetzungen der Vorgängerregelungen in § 112 Abs. 4a Arbeitsförderungsgesetz (AFG) und § 131 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB III aF, da mit der Vergünstigung die Bereitschaft in Vollzeit beschäftigter Arbeitnehmer gefördert werden sollte, ihre regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit im Interesse der Vermeidung von Arbeitslosigkeit durch Vereinbarung einer geringeren Wochenarbeitszeit zu vermindern. Diese Auslegung, die auf § 130 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 SGB III Anwendung findet, führt zu einer plausiblen Abstimmung mit den Regelungen über das Teilarbeitslosengeld in § 150 SGB III. Teilarbeitslosengeld wird nur bei dem Verlust einer von mehreren Teilzeitbeschäftigungen, nicht jedoch bei einer bloßen Verringerung der Arbeitszeit gezahlt. Auch bei der Neubegründung eines Arbeitsverhältnisses und Festlegung einer Teilarbeitszeit fehlt die erforderliche Kontinuität des bisher schon bestehenden Rechtsverhältnisses zum Arbeitgeber (vgl ausführlich Behrend, in: Eicher/Schlegel, SGB III, Stand: März 2010, § 130 SGB III Rdn 76).

13

Die Regelung des § 130 Abs. 2 Nr. 4 SGB III will mithin die Bereitschaft der Arbeitnehmer, einen Teilzeitarbeitsplatz anzunehmen, durch weitgehenden Ausschluss der vorstehend genannten negativen Folgen erhöhen. Bis zur Einführung dieser Regelung mit der weitgehend identischen Vorgängerregelung in § 112 Abs. 4a AFG erhielten Arbeitnehmer, die von einem Vollzeitarbeitsplatz auf einen Teilzeitarbeitsplatz gewechselt sind im Fall der Arbeitslosigkeit Arbeitslosengeld stets nach dem (geringeren) Teilzeitarbeitsentgelt. Aus den Gesetzesmaterialien zur Vorgängerregelung des § 130 Abs. 2 Nr. 4 SGB III folgt, dass Sinn und Zweck des neu eingeführten § 112 Abs. 4a AFG gewesen ist, genau diesen Effekt, dass die Bereitschaft von Arbeitnehmern einen Teilzeitarbeitsplatz anzunehmen, aufgrund der niedrigeren Höhe des sich anschließenden Arbeitslosengeldes regelmäßig nicht gegeben ist, zu vermeiden. Mit der Neueinführung des § 112 Abs. 4a AFG sollte insoweit ausdrücklich die Bereitschaft vollzeitbeschäftigter Arbeitnehmer, ihre regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit im Interesse der Vermeidung oder Beendigung von Arbeitslosigkeit zu vermindern, nicht mehr negativ beeinflusst werden (BT-Drucks 12/7565, S. 15; ebenso Brandt, in: Niesel/Brandt, SGB III, 5. Aufl, § 130 Rdn 11).

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Der Tatbestand des § 130 Abs. 2 Nr. 4 SGB III findet demzufolge nur dann Anwendung, wenn der Arbeitnehmer bei bestehendem Arbeitsverhältnis mit einem Arbeitgeber eine kürzere Arbeitszeit als die bislang arbeitsvertraglich geschuldete vereinbart hat. Denn § 130 Abs. 2 Nr. 4 SGB setzt schon nach seinem Wortlaut voraus, dass die wöchentliche Arbeitszeit "vermindert" war, was nur dann der Fall sein kann, wenn zuvor eine längere Arbeitszeit arbeitsvertraglich geschuldet wurde. Wird eine von mehreren Teilzeitbeschäftigungen aufgegeben, liegt keine Verminderung der Arbeitszeit durch Teilzeitvereinbarung vor; gleiches gilt, wenn die Arbeitszeit von zunächst vereinbarter Teilzeitbeschäftigung ausgebaut wird (vgl Coseriu/Jakob, in: Mutschler ua, SGB III, 3. Aufl. 2008, § 130 Rdn 52, 55).

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Vorliegend kann von einer Teilzeitvereinbarung des Klägers, die zu einer Reduzierung der Arbeitszeit geführt hat, keine Rede sein. Vielmehr hat der Kläger seine Arbeitszeit von 1994 an kontinuierlich ausgebaut von zunächst 13 Stunden pro Woche auf bis zuletzt 40 Stunden pro Woche. Bereits nach dem Wortlaut des § 130 Abs. 2 Nr. 4 SGB III scheidet die Anwendung dieser Regelung auf den Kläger aus, da gerade keine "Verminderung" der Arbeitszeit im Sinne einer Teilzeitvereinbarung erfolgt ist. Darüber hinaus führt der zur Auslegung der Norm ergänzend heranzuziehende - oben dargelegte - Sinn und Zweck der Vorschrift ohne Zweifel dazu, dass der Kläger nicht mit Erfolg die Anwendung dieser Norm zu seinen Gunsten geltend machen kann. Denn der Kläger ist als Arbeitsloser, der zuletzt neun Monate in Vollzeit gearbeitet hat, eben nicht schutzwürdig im Sinne der Norm. Wie bei jedem anderen Arbeitslosen sind bei dem Kläger die letzten zwölf Monate und das erzielte Arbeitsentgelt zu berücksichtigen im Rahmen der Bemessung des Arbeitslosengeldes. Der Kläger ist - anders als derjenige, der von Vollzeit in Teilzeit gewechselt ist vor Eintritt der Arbeitslosigkeit - gerade keinerlei Risiko dahingehend eingegangen, dass sich durch diese Veränderung sein Anspruch auf Arbeitslosigkeit ggf. verringern könnte. Im Gegenteil - die Aufnahme einer Vollzeittätigkeit (statt zuvor 30 Stunden pro Woche) bei gleichzeitiger Erhöhung des monatlichen Bruttoarbeitsentgelts von 1.540,00 EUR auf 4.500,00 EUR hatte ausschließlich positive Folgen für den Kläger, insbesondere resultierte daraus eine erhebliche Steigerung des Arbeitslosengeldanspruchs.

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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.