Sozialgericht Stade
Urt. v. 02.12.2011, Az.: S 17 AS 521/10

Berücksichtigung des Miteigentums eines Sozialhilfeberechtigten an einem Einfamilienhaus in Erbengemeinschaft mit der Mutter i.R.d. Leistungsbewilligung nach dem SGB II

Bibliographie

Gericht
SG Stade
Datum
02.12.2011
Aktenzeichen
S 17 AS 521/10
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2011, 34826
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGSTADE:2011:1202.S17AS521.10.0A

Fundstellen

  • I&F 2012, 449
  • NJW-Spezial 2012, 135-136
  • ZEV 2012, 363
  • info also 2012, 139

Tenor:

Der Beklagte wird in Abänderung des Bescheides vom 20. Januar 2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. Juni 2010 verurteilt, der Klägerin die Leistungen nach dem SGB II in gesetzlicher Höhe nicht darlehensweise, sondern zuschussweise zu gewähren mit der Maßgabe, dass keine vermögensmäßige Berücksichtigung des Anteils am Hauseigentum der Erbengemeinschaft erfolgt. Der Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu erstatten.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten über die Berücksichtigung eines Miteigentums der Klägerin an einem Einfamilienhaus in Erbengemeinschaft mit ihrer Mutter im Rahmen der Leistungs-bewilligung nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).

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Die Klägerin, geboren im April 1968, bezieht seit April 2006 und nach einer Unterbrechungen wieder ab Anfang Januar 2009 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II vom Beklagten. Seit Ende 2004 ist die Klägerin in Erbengemeinschaft mit ihrer Mutter Eigentümerin eines mit einem Einfamilienhaus aus dem Jahr 1993/1994 bebauten Grundstücks in F ... Das Haus weist eine Wohnfläche von rund 160 qm auf. Die Mutter der Klägerin bewohnt das Erdgeschoss des Hauses. Das Obergeschoss ist an einen Dritten vermietet. Aufgrund einer privatschriftlichen Vereinbarung zwischen Klägerin und Mutter aus dem Jahr 2006 bewohnt die Mutter das gemeinsame Hauseigentum und vereinnahmt auch die kompletten Mieteinnahmen, trägt dafür im Gegenzug aber auch die Belastungen aus Zins- und Tilgungsverpflichtungen, die noch auf dem Haus lasten. Nach Angaben der Klägerin be-laufen sich die Schuldverbindlichkeiten noch auf rund 93.000,00 EUR. Die Mutter der Klägerin lebt nach Angaben der Klägerin von einer eigenen Rente, einer Witwenrente und den Mieteinnahmen und komme auf diese Weise auf rund 900,00 EUR im Monat, von denen sie allerdings für Zins und Tilgung rund 528,00 EUR aufwende.

3

Nach den Ermittlungen des Beklagten, unter anderem beim Gutachterausschuss in F., soll von einem Verkehrswert von Haus und Grund in Höhe von 200.000,00 EUR ausgegangen werden können. Die Klägerin geht indessen davon aus, dass aufgrund der Lage des Grundstücks an einer Landesstraße einerseits und einer Eisenbahnlinie andererseits allenfalls 130.000,00 EUR als Wert angesetzt werden könnten.

4

Mit Bescheid vom 20. Januar 2009 bewilligte der Beklagte der Klägerin Leistungen nach dem SGB II im Zeitraum 05. Januar bis zum 31. Juli 2009. Die Leistungsgewährung er-folgte unter Verweis auf das vorhandene und zu verwertende Grundeigentum der Klägerin nur darlehensweise. Zugleich forderte der Beklagte die Klägerin auf, bis Mai 2009 ernsthafte Verwertungsbemühungen nachzuweisen. Die Klägerin legte hiergegen am 23. Februar 2009 Widerspruch ein, den sie nicht weiter begründete. Mit Widerspruchsbescheid vom 01. Juni 2010 wies der Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Am 02. Juli 2010 hat die Klägerin Klage erhoben.

5

Sie trägt vor, sie habe keine Rechtspflicht zur Auseinandersetzung der Erbengemeinschaft mit ihrer Mutter. Über ihren Anteil könne sie alleine und ohne Zustimmung ihrer Mutter jedoch nicht verfügen. Es müsse außerdem die wirtschaftliche Situation der Mutter berücksichtigt werden, die auf die Mieteinnahmen angewiesen sei. Bei einem freihändigen Verkauf des Hauses seien im Übrigen allenfalls 100.000,00 EUR bis 110.000,00 EUR zu erzielen, wenn überhaupt.

6

Die Klägerin beantragt,

den Bescheid des Beklagten vom 20. Januar 2009 und den Widerspruchsbescheid vom 01. Juli 2009 aufzuheben, soweit die Leistungen ab Januar 2009 gemäß § 23 Abs. 5 SGB II als Darlehen gewährt werden.

7

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

8

Er weist darauf hin, dass der Miteigentumsanteil der Klägerin einen wesentlichen Vermögenswert darstelle, der auch verwertbar sei und vorrangig zur Deckung des Lebensunterhalts einzusetzen sei. Gründe, die einer Verwertung entgegenstehen könnten, seien nicht erkennbar.

9

Zum Vorbringen der Beteiligten im Übrigen und zu den weiteren Einzelheiten des Sach-verhalts wird auf die Gerichtsakte und die vorliegenden Verwaltungsakten des Beklagten, die auch Gegenstand der mündlichen Verhandlung am 02. Dezember 2011 waren, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

10

Die zulässige und als Anfechtungs- und Verpflichtungsklage gemäß § 54 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte Klage hat Erfolg.

11

Die angegriffene, nur darlehenweise Leistungsbewilligung durch den Beklagten erweist sich als rechtswidrig und beschwert insoweit die Klägerin im Sinne des § 54 Abs. 2 SGG. Der Beklagte hat der Klägerin die Leistungen nach dem SGB II im hier betroffenen Leistungszeitraum zuschussweise und ohne Berücksichtigung des Anteils der Klägerin am Vermögen der Erbengemeinschaft zu gewähren und die bisher darlehensweisen Leistungen entsprechend in einen Zuschuss umzuwandeln.

12

Das Vermögen der Klägerin in Gestalt ihres Anteils an der Erbengemeinschaft, die als solche Eigentümerin des Einfamilienhauses in F. ist, ist als Vermögen bei der Leistungs-berechnung nicht zu berücksichtigen, da die Verwertung eines besondere Härte im Sinne des§ 12 Abs. 3 Nr. 6 SGB II für die Klägerin bedeuten würde.

13

Gemäß § 7 Abs. 1 Nr. 3 SGB II erhält Leistungen nach dem SGB II, wer hilfebedürftig ist. Gemäß § 9 Abs. 1 SGB II ist hilfebedürftig, wer seinen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus dem zu berücksichtigem Einkommen oder Vermögen sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen, erhält. Gemäß § 12 Abs. 1 SGB II sind als Vermögen alle verwertbare Gegenstände zu berück-sichtigen. Gemäß § 12 Abs. 3 Nr. 6 SGB II sind als Vermögen Sachen und Rechte nicht zu berücksichtigen, soweit ihrer Verwertung offensichtlich unwirtschaftlich ist oder für den Betroffenen eine besondere Härte bedeuten würde.

14

Für die Annahme einer besonderen Härte im Sinne der genannten Vorschrift müssen außergewöhnliche Umstände vorliegen, die den Betroffenen eindeutig größeres Opfer abverlangen als eine einfache Härte und erst recht als die mit der Vermögensverwertung stets verbundenen Einschnitte, und die nicht durch die ausdrücklichen Freistellungen über das Schonvermögen erfasst werden. Zu verlangen ist mithin das Vorliegen einer Atypik gegenüber den Leitvorstellungen des SGB II. Die Konkretisierung des Begriffs der besonderen Härte erfordert eine Abwägungsentscheidung zwischen dem Interesse des Leistungsberechtigten an dem Erhalt des Vermögens und dem öffentlichen Interesse des sparsamen Umganges mit Steuergeldern. Dabei ist neben der Berücksichtigung der persönlichen, familiären und beruflichen Verhältnisse auch auf die Höhe des Vermögens im Verhältnis zur Höhe und voraussichtlichen Dauer des Sozialleistungsbezugs abzustellen (vgl Radüge in: jurisPK-SGB II, 3. Auflage 2011, Stand 15. August 2011, § 12, Rn 161ff).

15

Der Anteil der Klägerin am Eigentum der Erbensgemeinschaft ist als Vermögensgegen-stand nicht grundsätzlich von der Vermögensberücksichtigung ausgenommen. Keiner der Ausnahmetatbestände des § 12 Abs. 2 SGB II ist insoweit einschlägig. Der Anteil ist aus rechtlicher Sicht auch verwertbar (vgl BSG, Urteil vom 27. Januar 2009 - B 14 AS 52/07 R -, Rn 29ff, zitiert nach [...].de). Da sich die Mutter der Klägerin offenbar weigert, die Erbengemeinschaft einvernehmlich auseinanderzusetzen, hat die Klägerin die Möglichkeit, auf Grundlage des § 2042 BGB eine Auseinandersetzung der Erbengemeinschaft zu verlangen. Erforderlich hierfür wäre zunächst eine Teilungsversteigerung des der Erben-gemeinschaft gehörenden Hauses, das nach den Angaben der Klägerin den einzigen Vermögensgegenstand der Erbengemeinschaft darstellt. Ist das Vermögen der Erben-gemeinschaft auf diese Weise versilbert, müsste die Gemeinschaft dann durch Vereinbarung der Mitglieder auseinandergesetzt werden, wobei die Klägerin bei dauerhafter und ernstlicher Weigerung der Mutter eine Auseinandersetzungsvereinbarung streitig durch Klage vor einem Zivilgericht durchsetzen müsste.

16

Unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des vorliegenden Einzelfalls stellt sich dieses Vorgehen, das aufgrund der Selbsthilfeverpflichtung gemäß § 2 SGB II auch im Grundsatz verlangt werden kann, für die Klägerin als eine besondere Härte im Sinne des § 12 Abs. 3 Nr. 6 SGB II dar. Maßgeblich für diese Einschätzung ist für das erkennende Gericht der Umstand, dass die Erbengemeinschaft aus der Klägerin und deren eigener Mutter besteht und die Mutter das zu versteigernde Objekt selbst bewohnt. Denn dies hat zur Folge, dass die Klägerin nicht nur zur Durchführung der Auseinandersetzung der Erbengemeinschaft auf die beschriebene Weise ihre Mutter verklagen müsste. Vielmehr würde die Klägerin durch die streitige Auseinandersetzung auch den Verlust der Unterkunft der Mutter bewirken. Denn es ist davon auszugehen, dass die Mutter aufgrund ihrer wirtschaftlichen Situation den Anteil der Tochter nicht selbst kaufen kann. Ein Verkauf des Hauses an einen Dritten hätte deshalb mit großer Wahrscheinlichkeit nach zur Folge, dass die Mutter ihre bisherige Wohnung in dem betreffenden Haus räumen müsste. Von der Klägerin würde also verlangt werden, dass sie zum einen die innerfamiliären Belastungen einer solchen streitigen Auseinandersetzung in Kauf nimmt und zum anderen der eigenen Mutter deren Unterkunft, die diese mit dem verstorbenen Ehemann selbst errichtet hatte, zu nehmen. Die Klägerin wäre praktisch gezwungen, die eigene Mutter durch die streitige Auseinandersetzung auf die Straße zu setzen. Unabhängig davon, welchen Verkehrswert das Hausgrundstück tatsächlich hat und welcher Erlös bei einem Verkauf oder einer Versteigerung am Ende erzielt werden könnte, stellen die Folgen einer Vermögensverwertung unter den gegebenen Umständen nach Einschätzung des Gerichts eine besondere Härte dar, und zwar nicht nur für die Mutter der Klägerin, sondern auch für die Klägerin selbst. Denn es widerspricht des Wertungen des SGB II, wenn ein Betroffener in gerichtliche Auseinandersetzung mit nahen Angehörigen gezwungen würde und diese Angehörigen schwere Nachteile zufügt. Es ist kaum zu rechtfertigen, wenn die Klägerin nur aus leistungsrechtlichen Gründen ihrer eigenen Mutter deren Unterkunft entziehen und damit massiv in deren Angelegenheiten eingreifen müsste. Zwar soll jeder soweit wie möglich nach eigenen Kräften seinen Lebensunterhalt sicherstellen und hat zu diesem Zweck grundsätzlich auch sein Einkommen und Vermögen einzusetzen, soweit es rechtlich und tatsächlich realisierbar ist. Es kann jedoch nicht gewollt sein, dass damit Risiken für den Zusammenhalt des eigenen Familienverbandes sowie relevante Nachteile für das Fortkommen naher, leistungsrechtlich nicht betroffener Angehöriger verbunden sind. Die Atypik der Umstände im vorliegenden Fall ergibt sich damit aus der engen emotionalen Verbindung zwischen Klägerin und Mutter bei gleich-zeitig zu befürchtenden erheblichen Nachteilen für die Mutter im Falle der streitigen Auseinandersetzung der Erbengemeinschaft, d.h. dem Verlust der eigenen Wohnung auf Betreiben der Klägerin. Anders wäre der Fall möglicherweise zu beurteilen, wenn seitens des Hilfebedürftigen zu dem betroffenen Mitglied einer Erbengemeinschaft, das von einer derartigen Auseinandersetzung unmittelbar betroffen wäre, keine enge Bindung besteht oder nicht mehr besteht oder Anlass zu der Annahme besteht, dass dem Hilfebedürftigen die entstehenden Nachteile für das andere Mitglied tatsächlich egal sind. Es kann nach Überzeugung der Kammer nicht generell von einer besonderen Härte im Sinne des § 12 Abs. 3 Nr. 6 SGB II ausgegangen werden, nur weil die Vermögensverwertung in die Sphäre eines nahen Angehörigen eingreifen würde. Im Einzelfall sind die Folgen für den nahen Angehörigen und deren Erheblichkeit zu prüfen, um zu beurteilen, ob die Verursachung dieser Folgen für den Hilfebedürftigen bei vernünftiger Betrachtungsweise hinnehmbar erscheint oder nicht.

17

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).