Sozialgericht Stade
Beschl. v. 30.05.2011, Az.: S 28 AS 296/11 ER
Gewährung eines Mehrbedarfs nach § 21 Abs. 4 S. 1 SGB II zur Deckung der Aufwendungen zur Wiederholung der Vorbereitung auf die schriftliche Prüfung für die Heilpraktiker-Erlaubnis im Bereich Psychotherapie
Bibliographie
- Gericht
- SG Stade
- Datum
- 30.05.2011
- Aktenzeichen
- S 28 AS 296/11 ER
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2011, 37321
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:SGSTADE:2011:0530.S28AS296.11ER.0A
Rechtsgrundlage
- § 21 Abs. 4 S. 1 SGB II
Tenor:
- 1.
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin vom 29. April 2011 bis zum 31. August 2011 vorläufig unter dem Vorbehalt der Rückforderung Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) in gesetzlicher Höhe unter Berücksichtigung eines Mehrbedarfs nach § 21 Abs. 4 Satz 1 SGB II zu gewähren, längstens jedoch bis zur Entscheidung in der Hauptsache. Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt. Der Antragsgegner hat der Antragstellerin 2/3 der notwendigen außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten.
- 2.
Der Antragstellerin wird für das erstinstanzliche Verfahren Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung ab Antragstellung bewilligt und Rechtsanwältin B. beigeordnet.
Gründe
1. Der Antrag auf Gewährung eines Mehrbedarfs nach § 21 Abs. 4 Satz 1 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) im Wege der einstweiligen Anordnung ist zulässig und in dem aus dem Entscheidungsausspruch ersichtlichen Umfang begründet.
Die Antragstellerin hatte im November 2008 eine Ausbildung zur Heilpraktikerin für Psychotherapie im Abendstudium à 20 Stunden die Woche in D. begonnen. Es wurden ihr mit Bescheid des Antragsgegners vom 16. September 2008 Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben bewilligt. Sie erhielt zudem seit Ausbildungsbeginn einen Mehrbedarfszuschlag nach § 21 Abs. 4 SGB II. Die Antragstellerin bestand die schriftliche Prüfung im März 2011 nicht. Mit Bescheid vom 23. März 2011 bewilligte der Antragsgegner der Antragstellerin auf ihren Antrag 450,00 EUR zur Deckung ihrer Aufwendungen zur Wiederholung der Vorbereitung auf die schriftliche Prüfung für die Heilpraktiker-Erlaubnis im Bereich Psychotherapie durch die Einrichtung "Steinmüller Seminare". Die Förderung stützte der Antragsgegner auf § 16 Abs. 2 SGB II i.V.m. § 45 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III). Den Mehrbedarfszuschlag nach § 21 Abs. 4 Satz 1 SGB II erhält die Antragstellerin seit April 2011 nicht mehr. Dagegen wendet sie sich mit dem vorliegenden Eilantrag.
Nach § 86b Abs. 2 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) kann, wenn wie hier ein Fall des Absatzes 1 nicht vorliegt, das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen. Voraussetzung ist, dass die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Nach Satz 2 der Vorschrift sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Voraussetzung für den Erlass einer solchen Regelungsanordnung ist das Vorliegen eines die Eilbedürftigkeit der Entscheidung rechtfertigenden Anordnungsgrundes sowie das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs aus dem materiellen Leistungsrecht. Sowohl der Anordnungsanspruch als auch der Anordnungsgrund müssen gemäß § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung (ZPO) glaubhaft gemacht werden.
Bei seiner Entscheidung kann das Gericht grundsätzlich sowohl eine Folgenabwägung vornehmen als auch eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache anstellen. Drohen aber ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen, die durch das Hauptsach-verfahren nicht mehr zu beseitigen wären, dann dürfen sich die Gerichte nur an den Erfolgsaussichten orientieren, wenn die Sach- und Rechtslage abschließend geklärt ist. Ist dem Gericht dagegen eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist allein anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden (vgl. Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05 - zitiert nach [...]). Handelt es sich wie hier um Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende, die der Sicherstellung eines menschenwürdigen Lebens dienen und damit das Existenz-minimum absichern, muss die überragende Bedeutung dieser Leistungen für den Empfänger mit der Folge beachtet werden, dass ihm im Zweifel die Leistungen - gegebenen-falls auf das absolut erforderliche Minimum beschränkt - aus verfassungsrechtlichen Gründen vorläufig zu gewähren sind.
a) Nach den Gesamtumständen ist ein Anspruch auf den Mehrbedarf nach § 21 Abs. 4 Satz 1 SGB II als glaubhaft gemacht anzusehen. Diesen erhalten erwerbsfähige behinderte Hilfebedürftige, denen Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nach § 33 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) sowie sonstige Hilfen zur Erlangung eines geeigneten Platzes im Arbeitsleben oder Eingliederungshilfen nach § 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 - 3 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) erbracht werden.
Die Antragstellerin ist - unstreitig - eine erwerbsfähige behinderte Hilfebedürftige. Sie er-hält zudem von dem Antragsgegner "sonstige Hilfen zur Erlangung eines geeigneten Platzes im Arbeitsleben" im Sinne des § 21 Abs. 4 Satz 1 SGB II.
Die Leistungen umfassen nach §§ 33 Abs. 3 SGB IX insbesondere Hilfen zur Erhaltung oder Erlangung eines Arbeitsplatzes einschließlich Leistungen zur Beratung und Vermittlung, Trainingsmaßnahmen, Mobilitätshilfen, Berufsvorbereitung, berufliche Anpassung und Weiterbildung und berufliche Ausbildung. Es muss sich um eine berufsbezogene, das Arbeitsleben betreffende Eingliederungsmaßnahme handeln (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 30.03.2011 - L 7 AS 573/08 - ).
Die in § 21 Abs. 4 SGB II gesondert aufgeführten Hilfen zur Erlangung eines geeigneten Platzes im Arbeitsleben fallen im Grunde weitgehend auch unter den Begriff Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben. Ihnen kommt eine Auffangfunktion zu (vgl. O. Loose in GK-SGB II, § 21 Rn. 27.1). Zu den sonstigen Hilfen zur Erlangung eines geeigneten Platzes im Arbeitsleben zählen Leistungen, die mit den in der Vorschrift ebenfalls genannten Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nach § 33 SGB IX nach Ziel, Zweck und Art der Hilfeleistung vergleichbar sind. Es geht in beiden Fällen um Leistungen, die erbracht werden, um Behinderten die Teilhabe am Arbeitsleben zu ermöglichen. Der Anwendungsbereich der "sonstigen Hilfen" dürfte sich weitestgehend auf Leistungen von Behörden beschränken, die nicht zu den Rehabilitationsträgern nach § 6 SGB IX zählen und daher keine Leistungen nach § 33 SGB IX erbringen können (vgl. SG Lüneburg, Urteil vom 07.08.2008 - S 24 AS 332/08 - zitiert nach [...]). Welche Leistungen tatsächlich als sonstige Hilfen in diesem Sinne in Betracht kommen, ist unklar. Nach dem Wortlaut ist ein direkter Bezug zur Erlangung eines geeigneten Arbeitsplatzes erforderlich. Die "sonstigen Hilfen" müssen daher darauf gerichtet sein, den erwerbsfähigen, aber behinderten hilfebedürftigen Menschen wieder in das Erwerbsleben zu integrieren (O. Loose in GK-SGB II, § 21 Rn. 27.1; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 28.05.2009 - L 7 AS 4/09 - zitiert nach [...]).
Weiterhin setzt die Gewährung eines Mehrbedarfs nach § 21 Abs. 4 Satz 1 SGB II die tatsächliche Teilnahme an einer regelförmigen Maßnahme mit einem organisatorischen Mindestrahmen voraus, die grundsätzlich geeignet ist, einen Mehrbedarf beim Betroffenen auszulösen. Eine Mehrheit von Maßnahmeteilnehmern ist jedoch nicht erforderlich. Unerheblich ist auch, ob die Leistung im konkreten Einzelfall geeignet ist, zusätzliche Aufwendungen bei dem Hilfebedürftigen auszulösen (vgl. BSG, Urteil vom 22.03.2010 - B 4 AS 59/09 R - zitiert nach [...]; BSG,Urteil vom 25.06.2008 - B 11b AS 19/07 R - zitiert nach [...]).
Vorliegend hat der Antragsgegner der Antragstellerin mit Bescheid vom 23. März 2011 450,00 EUR zur Deckung ihrer Aufwendungen zur Wiederholung der Vorbereitung auf die schriftliche Prüfung für die Heilpraktiker-Erlaubnis im Bereich Psychotherapie durch die Einrichtung "Steinmüller Seminare" bewilligt. Die Förderung stützt der Antragsgegner auf § 16 Abs. 2 SGB II i.V.m. § 45 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III). Inhaltlich handelt es sich um einen Kurs in Ottersberg bei der Einrichtung "Steinmüller Seminare"; die Maßnahmekosten betragen 450,00 EUR. Dieser Vorbereitungskurs findet ab dem 23. März 2011 an 14 Unterrichtsterminen - jeweils mittwochs - in der Zeit von 9:30 Uhr bis 12:30 Uhr in Ottersberg statt. Der letzte Kurstermin ist der 31. August 2011. Ausweislich des Bescheides vom 23. März 2011 soll die Antragstellerin mindestens zweimal wöchentlich zusätzlich zum Vorbereitungskurs an den privaten Lerngruppen der Einrichtung teilnehmen. Der Antragsgegner hat die Teilnahme der Antragstellerin für sinnvoll erachtet. Die Wiederholung der Individualvorbereitung stelle nach Rücksprache mit dem Reha-Team der Bundesagentur für Arbeit in Verden eine Unterstützungsmöglichkeit dar, die als zielführend erachtet werde.
Es handelt sich bei der bewilligten Leistung um eine Leistung zur Eingliederung nach § 16 Abs. 2 SGB II. Die Maßnahme zielt nach Auffassung der Kammer auf eine Hilfe zur Erlangung eines geeigneten Arbeitsplatzes ab. Zwar ist die eigentliche Ausbildung der Antragstellerin an der Paracelsus-Schule in Bremen beendet. Es geht jedoch auch bei dem von dem Antragsgegner nunmehr finanzierten Kurs darum, die Antragstellerin auf die schriftliche Prüfung für die Heilpraktiker-Erlaubnis im Bereich Psychotherapie vorzubereiten. Ziel der Förderung ist es daher unverändert, eine Grundqualifizierung in einem Beruf zu erlangen. Diese "sonstige Hilfe" ist darauf gerichtet, die Antragstellerin wieder in das Erwerbsleben zu integrieren, so dass ein direkter Bezug zur Erlangung eines geeigneten Arbeitsplatzes besteht. Bei dem von dem Antragsgegner finanzierten Vorbereitungskurs wird die berufliche Ausbildung, die ebenfalls von dem Antragsgegner gefördert wurde, letztlich fortgeführt bzw. wiederholt.
Die Leistungserbringung vollzieht sich vorliegend auch innerhalb eines organisatorischen Rahmens, der die Bezeichnung als Maßnahme rechtfertigt. Der Vorbereitungskurs findet ab dem 23. März 2011 an 14 Unterrichtsterminen - jeweils mittwochs - in der Zeit von 9:30 Uhr bis 12:30 Uhr in E. statt. Der letzte Kurstermin ist der 31. August 2011. Es handelt sich insoweit um einen strukturierten Rahmen.
Allerdings werden die Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben bzw. die sonstigen Hilfen nur bis zum 31. August 2011 tatsächlich erbracht. An diesem Tag findet der letzte Kurs-termin statt, so dass die geförderte Maßnahme mit Ablauf des August 2011 endet. Inso-weit war hinsichtlich der Gewährung des Mehrbedarfs nach § 21 Abs. 4 Satz 1 SGB II eine Befristung bis zum 31. August 2011 angezeigt.
b) Die Antragstellerin hat auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Der Zuschlag beträgt gemäß § 21 Abs. 4 Satz 1 SGB II 35 vom Hundert der nach § 20 SGB II maßgeblichen Regelleistung, d.h. vorliegend 127,40 EUR. Insoweit geht die Kammer davon aus, dass der streitige Mehrbedarfszuschlag nach § 21 Abs. 4 SGB II zu den existenziellen Ansprüchen der Antragstellerin zählt und somit ohne Weiteres ein Anordnungsgrund gegeben ist (vgl. zu § 21 Abs. 3 SGB II: LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 13.05.2008 - L 9 AS 119/08 ER - zitiert nach [...]).
Die Gewährung eines Mehrbedarfszuschlages kommt allerdings erst ab Antragstellung bei Gericht am 29. April 2011 in Betracht. Soweit es um die Zeitspanne vor Antragstellung bei Gericht, also um den Zeitraum vom 01. April bis 28. April 2011 geht, fehlt es an der von der Antragstellerin für den Erlass einer einstweiligen Anordnung zu verlangenden Glaubhaftmachung eines Anordnungsgrundes, d.h. der Eilbedürftigkeit der Regelung. Im Eilverfahren ist es grundsätzlich nicht möglich, Leistungen für die Vergangenheit zu korrigieren. Denn die Befriedigung eines vergangenen Bedarfs kann zulässigerweise im einstweiligen Rechtsschutzverfahren in aller Regel nicht mit Erfolg durchgesetzt werden, weil das sozialgerichtliche Eilverfahren nur der Behebung einer aktuellen Notlage dienen soll.
Die Kostenentscheidung folgt aus dem entsprechend anzuwendenden § 193 SGG. Es entspricht der Billigkeit, dass der Antragsgegner der Antragstellerin lediglich 2/3 der notwendigen außergerichtlichen Kosten des Verfahrens erstattet, da die Antragstellerin teilweise unterlegen ist (Gewährung eines Mehrbedarfs erst ab dem 29. April 2011 und lediglich bis zum 31. August 2011).
2. Der Prozesskostenhilfeantrag hat Erfolg, weil der Antrag aus den vorstehenden Gründen (vgl. Ziffer 1.) hinreichende Erfolgsaussichten im Sinn der §§ 73a SGG und 114 Satz 1 ZPO hat.