Sozialgericht Stade
Urt. v. 09.06.2011, Az.: S 5 R 132/06
Merkmale einer versicherungspflichtigen Beschäftigung
Bibliographie
- Gericht
- SG Stade
- Datum
- 09.06.2011
- Aktenzeichen
- S 5 R 132/06
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2011, 37535
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:SGSTADE:2011:0609.S5R132.06.0A
Rechtsgrundlage
- § 7 Abs. 1 SGB IV
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen. Die Kosten des Verfahrens trägt der Kläger.
Tatbestand
Die Beteiligten sind im Streit um die Versicherungspflicht des Beigeladenen im Zeitraum vom 8. November 2004 bis 2. März 2006.
Der Kläger ist ein in der Rechtsform eines Vereins organisierter Zusammenschluss von ca. 450 Obsterzeugern. Nach § 7 der Satzung des Klägers vom 20. Juni 2001 übt der Verein eine auf Gewinn gerichtete Tätigkeit aus. Zweck des Vereins ist nach § 2 Abs. 1 Nr. 2 der Satzung u.a. die Sicherung bestmöglicher Preise und Verkaufsmöglichkeiten für die Erzeugnisse der Vereinsmitglieder. Ausweislich des § 13 Abs. 1 der Satzung setzt sich der Gesamtvorstand des Vereins aus dem geschäftsführenden Vorstand sowie weiteren - mindestens fünf, maximal 14 - Vorstandsmitgliedern zusammen.
Im hier streitbefangenen Zeitraum war der Beigeladene - neben seiner Tätigkeit als selbständiger Obsterzeuger - gem. § 14 I Abs. 3 der Satzung als 3. Vorsitzender des geschäftsführenden Vorstands für die laufende Geschäftsführung beauftragt worden. Aufgabe des geschäftsführenden Vorstands ist nach § 14 II der Satzung u.a. die Geschäftsführung einschließlich der Einstellung und Entlassung von Vereinsangestellten sowie die Vertretung des Vereins und die Zeichnung für den Verein, die dem 4-Augen-Prinzip folgt (vgl. § 14 II Abs. 2 der Satzung). Unbeschadet der allgemeinen Leitungs-, Weisungs- und Überwachungsfunktion kann der geschäftsführende Vorstand ausweislich der Geschäftsordnung für den geschäftsführenden Vorstand vom 18. Dezember 1978 Prokura und Handlungsvollmacht sowie für bestimmte Geschäfte Einzelvollmacht erteilen. Für seine Tätigkeit als Mitglied des geschäftsführenden Vorstands hat der Beigeladene eine monatliche Aufwandsentschädigung in Höhe von 1022,58 EUR brutto erhalten.
Mit Schreiben vom 1. März 2004 übersandte der 1. Vorsitzende des Klägers der Beklagten einen Antrag auf Feststellung des sozialversicherungsrechtlichen Status u.a. für den Beigeladenen. Hierin wurde u.a. ausgeführt, der Beigeladene sei in seiner allgemeinen Tätigkeit für den Verein dessen gesetzlicher Vertreter, habe eine allgemeine Leitungs-, Weisungs- und Überwachungsfunktion, Verantwortung für eine geordnete Finanzwirtschaft, könne Prokura und Handlungsvollmacht erteilen sowie über Einstellung und Entlassung von Vereinsangestellten entscheiden. Bestimmte Arbeitszeiten seien nicht vorgegeben; weitere Verträge, Dienstvereinbarungen oder Einzelaufträge im Zusammenhang mit der Vorstandstätigkeit des Beigeladenen bestünden nicht.
Nach erfolgter Anhörung vom 7. Juli 2004 stellte die Beklagte mit Bescheid vom 5. November 2004 fest, dass der Beigeladene bei dem Kläger seit dem 26. März 2002 in einem abhängigen und damit sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis i.S.d. § 7 Abs. 1 SGB IV stehe. Zur Begründung verwies sie darauf, der Beigeladene sei in die Arbeitsorganisation des Klägers eingebunden. Ihm könnten einseitig im Wege des Direktionsrechts vom Kläger Anweisungen erteilt werden, die Zeit, Dauer, Ort und Art und Weise der Tätigkeit betreffen würden. Der Beigeladene sei an die Satzung des Klägers gebunden; er sei letztlich fremdbestimmt. Auch habe er eigenes Kapital nicht in den Verein mit eingebracht.
Hiergegen wehrte sich der Kläger mit seinem Widerspruch, mit dem er ausführen ließ, der Beigeladene habe keine allgemeinen Verwaltungsgeschäfte wie ein angestellter Geschäftsführer verrichtet; diese habe ein besonders bestimmtes Mitglied der Geschäftsführung, jedoch nicht der Beigeladene, ausgeführt. In den Betrieb des Klägers sei er nicht eingebunden gewesen, was daraus folge, dass er gar keine Arbeitszeiten habe einhalten müssen, wie es sonst für regelmäßig Tätige der Fall sei. Lediglich einmal in der Woche nachmittags für etwa drei Stunden nehme der Beigeladene mit den weiteren Mitgliedern des geschäftsführenden Vorstands an einer Sitzung teil. Hierbei würden fachlich übergeordnete Entscheidungen für den Gesamtvorstand vorbereitet. Daneben erstrecke sich die Tätigkeit des Beigeladenen auf die Repräsentation des Klägers, z.B. bei der Saisoneröffnung verschiedener Obstsorten, bei Verbandssitzungen und Presseterminen. Bei Bedarf suche der Beigeladene seine Einsatzorte selbständig und ohne weitere Vorgabe auf. Er unterliege jedoch bei der Ausübung seiner ehrenamtlichen Tätigkeit nicht den Weisungen des Gesamtvorstands und der Mitgliederversammlung. Letztlich wäre es unzumutbar, wäre der Beigeladene, der selbst durch seine selbständige Tätigkeit als Obsterzeuger pflichtversichert sei, zusätzlich und damit auch der Kläger mit sozialversicherungsrechtlichen Pflichtabgaben belastet. Mit Widerspruchsbescheid vom 23. Februar 2006 wies die Beklagte den Widerspruch unter Vertiefung der bisherigen Ausführungen zurück.
Hiergegen wendet sich der Kläger mit der am 15. März 2006 vor dem Sozialgericht Stade erhobenen Klage, mit der dessen Prozessbevollmächtigter das Klagebegehren unter Bezugnahme auf das bisherige Vorbringen weiter verfolgt. Aus den gleichen Gründen halte er auch den im Zuge des gerichtlichen Verfahrens von der Beklagten erlassenen Bescheid vom 22. März 2011, gem. § 96 SGG zum Gegenstand dieses Verfahrens geworden, für rechtsfehlerhaft. Mit diesem Bescheid habe die Beklagte zu.U.nrecht eine Versicherungspflicht ab 8. November 2004, dem Zeitpunkt der Antragstellung, bejaht.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid vom 5. November 2004 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 23. Februar 2006 sowie den Bescheid vom 22. März 2011 aufzuheben und festzustellen, dass der Beigeladene im Rahmen seiner Tätigkeit bei dem Kläger vom 26. März 2002 bis 2. März 2006 seit dem 8. November 2004 (Zeitpunkt der Antragstellung) nicht der Versicherungspflicht zur Rentenversicherung, in der sozialen Pflegeversicherung sowie nach dem Recht der Arbeitsförderung unterlag.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung bezieht sie sich auf die Ausführungen im Verwaltungs- und im Widerspruchsverfahren.
Mit Beschluss vom 13. April 2006 ist Herr C. dem Verfahren beigeladen.
Das Gericht hat im Rahmen der mündlichen Verhandlung den 1. Geschäftsführer des Klägers sowie den Beigeladenen angehört. Auf die Sitzungsniederschrift vom 9. Juni 2011 sowie den weiteren Inhalt der Prozess- und Verwaltungsakte wird Bezug genommen. Sie waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Entscheidungsfindung.
Entscheidungsgründe
Die gemäß § 54 Abs. 1 und § 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG als kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage statthafte und zulässige Klage ist unbegründet. Die Beklagte hat mit zutreffenden Gründen festgestellt, dass der Beigeladene im Rahmen seiner Tätigkeit als 3. Vorsitzender des geschäftsführenden Vorstands abhängig beschäftigt gewesen und damit der Sozialversicherungspflicht in den im Bescheid vom 22. März 2011 genannten Bereichen der Sozialversicherungspflicht unterliegt.
Die angefochtenen Bescheide sind rechtlich nicht zu beanstanden. Im hier streitgegenständlichen Zeitraum war der Beigeladene im Rahmen seiner Tätigkeit bei dem Kläger abhängig und damit sozialversicherungspflichtig beschäftigt.
Personen, die gegen Arbeitsentgelt beschäftigt sind, unterliegen der Beitrags- und Versicherungspflicht in der Kranken-, Pflege-, Renten- und Arbeitslosenversicherung (vgl. § 5 Abs. 1 Nr. 1 SGB V, § 20 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XI; § 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI, § 25 Abs. 1 SGB III). Beurteilungsmaßstab für das Vorliegen einer abhängigen Beschäftigung ist § 7 Abs. 1 SGB IV. Danach ist Beschäftigung die nichtselbstständige Arbeit, insbesondere in einem Arbeitsverhältnis. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG, vgl. Urteil vom 24. Januar 2007, B 12 KR 31/06 R in: SozR 4 - 2400 § 7 Nr. 7; Urteil vom 4. Juli 2007, B 11a AL 5/06 R in: SozR 4-2400 § 7 Nr. 8) setzt eine Beschäftigung voraus, dass der Arbeitnehmer vom Arbeitgeber persönlich abhängig ist. Bei einer Beschäftigung in einem fremden Betrieb ist dies der Fall, wenn der Beschäftigte in den Betrieb eingegliedert ist und dabei einem Zeit, Dauer, Ort und Art der Ausführung umfassenden Weisungsrecht des Arbeitgebers unterliegt. Demgegenüber ist eine selbständige Tätigkeit vornehmlich durch das eigene Unternehmerrisiko, das Vorhandensein einer eigenen Betriebsstätte, die Verfügungsmöglichkeit über die eigene Arbeitskraft und die im Wesentlichen frei gestaltete Tätigkeit und Arbeitszeit gekennzeichnet. Ob jemand abhängig beschäftigt oder selbständig tätig ist, hängt davon ab, welche Merkmale überwiegen. Maßgebend ist stets das Gesamtbild der Arbeitsleistung, das sich nach den tatsächlichen Verhältnissen bestimmt (vgl. BSG, Urteil vom 24. Januar 2007, B 12 KR 31/06 R in: SozR 4 - 2400 § 7 Nr. 7). Tatsächliche Verhältnisse in diesem Sinne sind die rechtlich relevanten Umstände, die im Einzelfall eine wertende Zuordnung zum Typus der abhängigen Beschäftigung erlauben. Ob eine "Beschäftigung" vorliegt, ergibt sich aus dem Vertragsverhältnis der Beteiligten, so wie es im Rahmen des rechtlich Zulässigen tatsächlich vollzogen worden ist. Ausgangspunkt ist daher zunächst das Vertragsverhältnis der Beteiligten, so wie es sich aus den von ihnen getroffenen Vereinbarungen ergibt oder sich aus ihrer gelebten Beziehung erschließen lässt. Eine im Widerspruch zu ursprünglich getroffenen Vereinbarungen stehende tatsächliche Beziehung und die sich hieraus ergebende Schlussfolgerung auf die tatsächlich gewollte Natur der Rechtsbeziehung geht der nur formellen Vereinbarung vor, soweit eine - formlose - Abbedingung rechtlich möglich ist. Umgekehrt gilt, dass die Nichtausübung eines Rechts unbeachtlich ist, solange diese Rechtsposition nicht wirksam abbedungen ist. Zu den tatsächlichen Verhältnissen in diesem Sinne gehört daher unabhängig von ihrer Ausübung auch die einem Beteiligten zustehende Rechtsmacht. Maßgeblich ist die Rechtsbeziehung, so wie sie praktiziert wird, und die praktizierte Beziehung, so wie sie rechtlich zulässig ist.
Nach diesen Grundsätzen hat sich auch die Frage zu entscheiden, ob die Tätigkeit des Beigeladenen als 3. Geschäftsführer des Klägers eine abhängige und deshalb versicherungspflichtige Beschäftigung oder eine selbständige Tätigkeit gewesen ist. Ist der Beigeladene wie hier als Geschäftsführer zwar nicht unmittelbar, aber als selbständiger Obsterzeuger und Vereinsmitglied direkt am Gewinn des Vereins beteiligt, ist für das Gericht ausschlaggebend, welches Ausmaß der dem Beigeladenen gegebene Einfluss auf den Verein hatte. Denn ist ein Geschäftsführer kraft seiner ihm übertragenen rechtlichen Möglichkeiten im Rahmen des Arbeitsverhältnisses in der Lage, eine typische Abhängigkeit von seinem Arbeitgeber zu vermeiden, dann kann er nicht (weisungs-)abhängiger Arbeitnehmer des Klägers gewesen sein.
Unter Berücksichtigung dessen ist der Beigeladene in einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis im Sinne des § 7 Abs. 1 SGB IV tätig gewesen.
Der Beigeladene konnte zu keinem Zeitpunkt seines Wirkens alleinverantwortlich Entscheidungen fällen. Zum einen deshalb, weil bestimmte Maßnahmen nach § 14 I Abs. 3 a-h von vorn herein nur dem Gesamtvorstand zur Entscheidung übertragen sind, zum anderen deshalb, weil jede Entscheidung für oder gegen den Verein durch (mindestens) zwei Personen und damit (mindestens) im 4-Augen-Prinzip zu treffen ist. Damit hat der Kläger im Innenverhältnis unmissverständlich klar gestellt, dass ein alleiniges "Schalten und Walten" eines Geschäftsführers nicht gewollt ist. Darüber hinaus ist jede Entscheidung, auch wenn im Vier-Augen-Prinzip getroffen, gem. § 14 I Abs. 1 der Satzung vom Gesamtvorstand des Klägers überwacht worden. Fehlt aber die Alleinvertretungsberechtigung, sieht das Gericht damit ein beeindruckendes Indiz für das Bestehen einer weisungsabhängigen Beschäftigung.
Nichts anderes ergibt sich aus dem Vorbringen des Klägers, der Beigeladene habe keine Verwaltungstätigkeit in engeren Sinne, sondern überwiegend repräsentative Aufgaben übernommen. Dabei zweifelt das Gericht mit guten Gründen an, dass der Beigeladene aus dem operativen Geschäft des Klägers weitgehend herausgehalten worden ist. Denn die Angaben bei der Antragstellung im Jahr 2004 sind eindeutig. Zeitgleich sind alle drei Geschäftsführer des geschäftsführenden Vorstands zur Statusfeststellung angemeldet worden, was dafür spricht, dass alle drei mit weitgehend ähnlichen Kompetenzen und Aufgabenstellungen ausgestattet gewesen sind. Die Aufgaben finden sich unter Punkt 2.2. des Vordrucks V027: die Personen hatten die sich aus der Satzung und der Geschäftsordnung ergebenden Aufgaben auszuführen.
Doch selbst wenn sich der Beigeladene sich, wie er vorbringt, aus der Kernaufgabe eines Geschäftsführers verabschiedet und überwiegend "nur noch" repräsentative Aufgaben wahrgenommen haben sollte, ändert dies nichts an der Einstufung einer abhängigen Beschäftigung. Dies gilt für das Gericht selbst dann, wenn er die Freiheit hatte, zu Sitzungen des Gesamtvorstands zu erscheinen bzw. vor Ort zu repräsentieren oder eben nicht. Diese Freiheit sich zu nehmen, ist keine unternehmerische Entscheidung. Diese Freiheit steht dem Grunde nach jedem Beschäftigten zu. Beide müssen auch dafür die Konsequenzen in Kauf nehmen. Dass der Beigeladene überwiegend "nur" für Repräsentationen eingesetzt worden ist, ist im Rahmen einer mehrköpfigen Geschäftsführung, die sich in der Regel die Aufgaben untereinander aufgeteilt, nicht unüblich. Darüber hinaus ist die Weisungsfreiheit bei der Ausübung der Tätigkeit im Hinblick auf Zeit, Ort und Dauer der Tätigkeit durchaus stilprägend und typisch für einen leitenden Angestellten.
Die von der Beklagten in ihrem Widerspruchsbescheid vom 23. Februar 2006 dargelegten Erwägungen trägt das Gericht umfassend mit und macht sich diese gem. § 136 Abs. 3 SGG zur Vermeidung von Wiederholungen zu Eigen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.