Sozialgericht Stade
Urt. v. 11.01.2011, Az.: S 16 AL 122/09
Aus einer abgeschlossenen Eingliederungsvereinbarung nach § 37 SGB III resultieren sowohl Pflichten des Arbeitslosen als auch Pflichten der Bundesagentur für Arbeit
Bibliographie
- Gericht
- SG Stade
- Datum
- 11.01.2011
- Aktenzeichen
- S 16 AL 122/09
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2011, 15781
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:SGSTADE:2011:0111.S16AL122.09.0A
Rechtsgrundlagen
- § 37 Abs. 2 SGB III
- § 421j SGB III
Fundstellen
- NZS 2011, 789-790
- info also 2011, 182-184
Tenor:
Der Bescheid der Beklagten vom 19. August 2009 und der Widerspruchsbescheid vom 8. Oktober 2009 werden aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger Entgeltsicherung für ältere Arbeitnehmer ab 2. Juni 2009 in gesetzlicher Höhe zu gewähren. Die Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Gewährung von Leistungen der Entgeltsicherung für ältere Arbeitnehmer.
Der 1956 geborene Kläger war von 1983 bis Mai 2009 bei der G. beschäftigt bei einem monatlichen Bruttoarbeitsentgelt von ca 3.500,- EUR. Das Arbeitsverhältnis wurde durch Aufhebungsvertrag zum 31. Mai 2009 beendet, der Kläger erhielt eine Abfindung von etwa 198.000,- EUR brutto. Bereits im März 2009 meldete sich der Kläger bei der Beklagten arbeitsuchend, wobei zumindest am 31. März 2009 eine ausführlichere Beratung durch den Mitarbeiter der Beklagten H. erfolgte. In dieser Beratung wurde auch über die Möglichkeit der Unterstützung des Klägers durch Leistungen der Entgeltsicherung nach § 421j Sozialgesetzbuch Drittes Buch (SGB III) gesprochen, dem Kläger wurde das entsprechende Merkblatt 19 ausgehändigt. Darüber hinaus schlossen Kläger und Beklagte am 31. März 2009 eine Eingliederungsvereinbarung. In dieser ausdrücklich bis 29. September 2009 gültigen Eingliederungsvereinbarung wurde unter "1. Leistungen Agentur für Arbeit O." vereinbart:
- Einbeziehung in die Vermittlungsaktivitäten - Veröffentlichung des Bewerberprofils in der Jobbörse unter Arbeitsagentur.de - Unterstützung durch Entgeltsicherung (Egs), wenn eine geringer bezahlte Stelle angenommen wird (Merkblatt 19) - neuer Termin wird zugesandt.
Auf Vermittlung durch die Beklagte trat der Kläger unmittelbar nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses bei der G. am 2. Juni 2009 eine Tätigkeit als Elektriker bei Firma I. bei einem Stundenlohn von 10,- EUR brutto an. Am 28. Juli 2009 beantragte er für diese am 2. Juni 2009 aufgenommene Beschäftigung Leistungen der Entgeltsicherung für ältere Arbeitnehmer.
Mit ablehnendem Bescheid vom 19. August 2009 teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass die begehrten Leistungen der Entgeltsicherung für ältere Arbeitnehmer nicht gewährt werden könnten, da der Antrag verspätet gestellt worden sei. Grundsätzlich sei ein derartiger Antrag vor Aufnahme der Beschäftigung zu stellen, dies habe der Kläger versäumt. Er könne sich auch nicht darauf berufen, dass eine unbillige Härte vorliege, da er bereits im März 2009 hinreichend über die Pflichten informiert worden sei. Insbesondere sei ihm das Merkblatt 19 ausgehändigt worden, aus welchem die Pflicht zur rechtzeitigen Antragstellung hervorgehe. Mit Widerspruch vom 8. September 2009 machte der Kläger geltend, er habe den Mitarbeiter der Beklagten H. im Beratungsgespräch im März 2009 so verstanden, dass ein Antrag auf Entgeltsicherungsleistungen die Kenntnis der konkreten Höhe des neuen Einkommens voraussetzen würde. Erst ab 15. Juli 2009 habe er diese Kenntnis vom neuen Verdienst gehabt, so dass er erst danach den Antrag habe stellen können. Mit Widerspruchsbescheid vom 8. Oktober 2009 wies die Beklagte den Widerspruch zurück und führte erneut aus, dem Kläger sei bereits am 31. März 2009 das einschlägige Merkblatt ausgehändigt worden. Insoweit könne es sich allenfalls um ein Missverständnis gehandelt haben, jedoch hätte der Kläger bei Unklarheiten nachfragen können, um seine Pflichten in Erfahrung zu bringen.
Der Kläger hat am 23. Oktober 2009 Klage erhoben und trägt vor, er sei niemals hinsichtlich der Leistungen der Entgeltsicherung für ältere Arbeitnehmer wirklich beraten, sondern lediglich informiert worden. Es sei zutreffend, dass ihm das Merkblatt 19 ausgehändigt worden sei. Dennoch sei ihm nicht klar gewesen, dass eine Antragstellung vor Beschäftigungsaufnahme zwingend erforderlich sei.
Der Kläger beantragt,
- 1.
den Bescheid er Beklagten vom 19. August 2009 und den Widerspruchsbescheid vom 8. Oktober 2009 aufzuheben,
- 2.
die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger Entgeltsicherung für ältere Arbeitnehmer beginnend ab 2. Juni 2009 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hält den angefochtenen Bescheid für rechtmäßig und vertritt die Auffassung, dass sich auch aus der Eingliederungsvereinbarung kein Anspruch auf Leistungen ergeben könne. Zudem bleibt sie bei der Meinung, dass eine unbillige Härte iSv§ 324 Abs. 1 Satz 2 SGB III nicht vorliege.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte und die beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage begründet. Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat ab 2. Juni 2009 Anspruch auf Leistungen der Entgeltsicherung für ältere Arbeitnehmer nach § 421j SGB III.
Zwischen den Beteiligten ist unstreitig, dass dem Grunde nach die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Leistungen der Entgeltsicherung für ältere Arbeitnehmer nach § 421j SGB III erfüllt sind. Streitig ist zwischen den Beteiligten ausschließlich, ob der vom Kläger erst am 28. Juli 2009 und damit nach Aufnahme der Beschäftigung am 2. Juni 2009 gestellte Antrag auf die Leistungen verspätet war bzw. dazu führt, dass ein Anspruch auf die begehrten Leistungen nicht besteht.
Die Beklagte beruft sich zu Unrecht auf eine verspätete Antragstellung des Klägers. Es kann dahinstehen, ob der Kläger am 2. Juni 2009 aufgrund der Beratung bzw. aufgrund des ausgehändigten Merkblattes 19 Kenntnis von der Verpflichtung zur rechtzeitigen Antragstellung hatte bzw. hätte haben müssen. Denn die Beklagte ist aufgrund der mit dem Kläger am 31. März 2009 abgeschlossenen Eingliederungsvereinbarung verpflichtet, die beantragten Leistungen der Entgeltsicherung für ältere Arbeitnehmer zu gewähren.
Die von der Beklagten in der mündlichen Verhandlung geäußerte Auffassung, in einer Eingliederungsvereinbarung würden lediglich in Betracht kommende Leistungen dargestellt bzw. denkbare Unterstützungsmöglichkeiten, über die in der persönlichen Beratung gesprochen worden ist, protokollarisch wiedergegeben, wird Sinn und Zweck sowie der rechtlichen Bedeutung einer Eingliederungsvereinbarung nicht gerecht. Diese Auffassung der Beklagten würde dazu führen, dass zwar für den Arbeitslosen durch den Abschluss der Eingliederungsvereinbarung regelmäßig Pflichten erwachsen, bei deren Verletzung eine Sperrzeit oder Sanktion in Betracht kommt, hingegen wäre die Beklagte in keiner Weise an die Vereinbarung gebunden.
Die Rechtsnatur einer Eingliederungsvereinbarung iSv § 37 Abs. 2 SGB III ist zwar - ebenso wie die der Eingliederungsvereinbarung nach § 15 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) - bisher in der Rechtsprechung nicht endgültig geklärt, jedoch geht die ganz überwiegende Meinung zutreffend und mit guten Gründen davon aus, dass es sich um einen rechtlich bindenden, subordinationsrechtlichen öffentlich-rechtlichen Vertrag iSv§§ 53 ff Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) handelt (so etwa Rademacker, in: Hauck/Noftz, SGB III, § 35 Rdn 50; Fuchsloch, in: Gagel, SGB II/SGB III § 15 SGB II, Rdn 109; Lahne, in: Hohm, GK-SGB II, § 15 Rdn 12; Spellbrink, in: Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl, § 15 Rdn 8; Müller, in: Hauck/Noftz, SGB II, § 15 Rdn 11; Berlit, in: LPK-SGB II, 2. Aufl, § 15 Rdn 8; Löns, in: Löns/Herold-Tews, SGB II, § 25 Rdn 2; Zahn, in: Mergler/Zink, SGB II, § 15 Rdn 5; Knoblauch/Hübner NDV 2005, 277; Lehmann-Franßen, NZS 2005, 519; Lang NZS 2006, 176, 181; BAG, Urteil vom 19. November 2008 - 10 AZR 658/07; LSG Bayern, Urteil vom 17. März 2006 - L 7 AS 118/05; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 19. Juli 2007 - L 7 AS 689/07; Sächsisches LSG, Urteil vom 19. Juni 2008 - L 3 AS 39/07; ebenso die Dienstanweisungen der Bundesagentur für Arbeit zu § 15 SGB II 15.4; a.A. für den Bereich des SGB III wohl: Peters-Lange, in: Gagel, SGB II/SGB III § 37 SGB III, Rdn 7). Dies gilt für die Eingliederungsvereinbarung i.S.d. SGB III auch unter Berücksichtigung des wohl abweichenden Willens des Gesetzgebers, der sich aus der Gesetzesbegründung (BT-Drucks 14/6944 Seite 31) ergibt (ebenso ausdrücklich Rademacker, a.a.O., Rdn 50). Nachvollziehbare Gründe, die dafür sprechen, dass die Rechtsnatur der Eingliederungsvereinbarung nach § 15 SGB II von der der Eingliederungsvereinbarung nach § 37 SGB III abweichend könnte, sind im Übrigen nicht erkennbar.
Aus einer abgeschlossenen Eingliederungsvereinbarung nach § 37 SGB III resultieren demzufolge sowohl Pflichten des Arbeitslosen als auch Pflichten der Bundesagentur für Arbeit (vgl Rademacker, a.a.O., § 35 Rdn 53). Die Behörde hat bei Abschluss einer Eingliederungsvereinbarung insoweit zu berücksichtigen, dass durch die in der Eingliederungsvereinbarung vorgenommene schriftliche Zusage, einen bestimmten bewilligenden Verwaltungsakt später zu erlassen, eine bindende Zusicherung iSv § 34 SGB X abgegeben wird (Spellbrink in: Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl, § 15 Rdn 22). Die Eingliederungsvereinbarung erzeugt für die Leistungsträger bzw. die Bundesagentur für Arbeit Bindungswirkung an die vertraglichen Leistungs-"Zusagen" in dem Umfange, den sie in der Eingliederungsvereinbarung zugestanden haben. Je nach Konkretisierungsgrad der Vertragsregelungen sind nach Grund, Umfang oder Zeitpunkt bestimmte Leistungen der Eingliederung in Arbeit bereits unmittelbar durch Vertrag bewilligt, so dass der Hilfeempfänger einen direkten Vertragserfüllungsanspruch hat, oder es sind die getroffenen Abreden als vertragliche Zusicherung iSv § 34 SGB X zu werten, die näher bestimmten Leistungen zu erbringen. Die Leistungsträger bzw. die Bundesagentur für Arbeit haben die in der Eingliederungsvereinbarung zugesagte Leistung nach Maßgabe der getroffenen Abreden umzusetzen, soweit sich die Sach- oder Rechtslage nicht im Sinne des § 34 Abs. 3, § 59 SGB X wesentlich geändert hat oder es zu einer Anpassung der Eingliederungsvereinbarung kommt, die einvernehmlich jederzeit, daher auch vor Ablauf der Geltungsdauer möglich ist (Berlit, a.a.O., Rdn 13).
In der vorliegenden Eingliederungsvereinbarung vom 31. März 2009 hat die Beklagte unter "1. Leistungen Agentur für Arbeit Osterholz-Scharmbeck" u.a. vereinbart: "Unterstützung durch Entgeltsicherung (Egs), wenn eine geringer bezahlte Stelle angenommen wird (Merkblatt 19)." Mit dieser Aussage in der abgeschlossenen Eingliederungsvereinbarung hat die Beklagte für den Fall, dass die materiell-rechtlichen Voraussetzungen erfüllt sind, d.h. dass der Kläger eine geringer bezahlte Stelle iSv § 421j SGB III angenommen hat, diesem zugesagt, dass die gesetzlichen Leistungen der Entgeltsicherung für ältere Arbeitnehmer erbracht werden. Insoweit stellt die Vereinbarung eine Zusicherung iSv § 34 SGB X dar. Diese Zusage erfolgte insbesondere ohne jeden weiteren Vorbehalt, z.B. den Vorbehalt bestimmter formeller Voraussetzungen, etwa der Stellung eines Antrags. Die Beklagte hat mit der schriftlichen Zusage gerade nicht zum Ausdruck gebracht, dass neben der tatsächlichen Aufnahme einer geringer bezahlten Stelle i.S.d. SGB III weitere Voraussetzungen, z.B. eine zusätzliche rechtzeitige Antragstellung erforderlich sind. Daran vermag auch der Hinweis auf das Merkblatt 19 in der Eingliederungsvereinbarung nichts zu ändern. An dieser Zusicherung muss sich die Beklagte festhalten lassen, die Ablehnung der zugesagten Leistung unter Hinweis auf die verspätete Antragstellung ist rechtswidrig.
Lediglich ergänzend weist das Gericht darauf hin, dass nach § 324 Abs. 1 Satz 2 SGB III die Beklagte grundsätzlich die Möglichkeit hat, eine verspätete Antragstellung zuzulassen, wenn dies zur Vermeidung unbilliger Härten angebracht erscheint. Ein solcher Fall der unbilligen Härte liegt zum Beispiel dann vor, wenn es einen Verstoß gegen Treu und Glauben darstellen würde, wenn die Bundesagentur für Arbeit sich auf die verspätete Antragstellung beruft. Die Kammer hält es ohne jeden Zweifel für treuwidrig, wenn die Beklagte zunächst in einer abgeschlossenen Eingliederungsvereinbarung den Eindruck erweckt, dass ohne Vorbehalt Leistungen der Entgeltsicherung für ältere Arbeitnehmer erbracht werden, wenn eine geringer bezahlte Tätigkeit aufgenommen wird, sich dann aber trotz Vorliegens dieser Voraussetzungen auf eine verspätete Antragstellung beruft. Die Tatsache, dass dem Kläger unstreitig das Merkheft 19 ausgehändigt worden ist, vermag daran nichts zu ändern. Demzufolge hätte die Beklagte - da insoweit von einer Ermessensreduzierung auf Null auszugehen ist - auch zur Vermeidung unbilliger Härten iSv§ 324 Abs. 1 Satz 2 SGB III den als verspätet angesehenen Antrag des Klägers zulassen müssen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.