Sozialgericht Stade
Beschl. v. 22.06.2011, Az.: S 19 SO 60/11 ER
Center-Park; Eingliederungshilfe; Gemenschaftsreise; gesellschaftliche Kontakte; Gruppenreise; Kostenübernahme; Tagesstättengruppe
Bibliographie
- Gericht
- SG Stade
- Datum
- 22.06.2011
- Aktenzeichen
- S 19 SO 60/11 ER
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2011, 45123
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 54 SGB 12
- § 53 SGB 12
- § 58 SGB 9
- § 55 SGB 9
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Bei der Gemeinschaftsreise einer Tagesstättengruppe von behinderten Menschen in einen Center-Park handelt es sich um eine Maßnahme, die zur Förderung von Begegnungen und des Umgangs mit nicht behinderten Menschen geeignet ist. Die Kosten der Teilnahme sind als Eingliederungshilfe zu übernehmen.
Tenor:
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, die dem Antragsteller bei Teilnahme an einer Gruppenfahrt in den Center-Park F. in der Zeit vom 11. Juli 2011 bis 15. Juli 2011 entstehenden Kosten in Höhe von 511,00 EUR zu übernehmen.
Der Antragsgegner hat dem Antragsteller seine notwendigen Kosten zu erstatten.
Dem Antragsteller wird Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung unter Beiordnung von Rechtsanwalt D. bewilligt.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten über die Verpflichtung des Antragsgegners, die Kosten für eine mehrtägige Gruppenfahrt aus Mitteln der Eingliederungshilfe zu übernehmen.
Der am 24. April 1986 geborene Antragsteller leidet an einer geistigen Behinderung mit Hydrocephalus und autistischen Zügen. Er lebt im Bereich des Antragsgegners bei seinem Patenonkel und wird in der Tagesstätte der Lebenshilfe G. teilstationär betreut. Die Kosten der teilstationären Betreuung werden aus Mitteln der Eingliederungshilfe vom Antragsgegner getragen.
Mit Schreiben vom 19. Januar 2011 beantragte der Antragsteller die Kostenübernahme für eine geplante Gruppenfahrt seiner Tagesstättengruppe in den Center-Park F., die in der Zeit vom 11. Juli bis zum 15. Juli 2011 stattfinden soll. Vorgesehen sind dort für die aus sechs Mitglieder bestehende und von sechs Betreuungspersonen begleitete Reisegruppe ua ein Besuch des Freizeitparks, gemeinsames Kochen und Essen, Restaurantbesuche, Schwimmen, Spiel- und Spaßscheune, Tretbootfahren. Die Gesamtkosten pro Teilnehmer belaufen sich auf 668,33 EUR; der vom Antragsgegner zu übernehmende Betrag beläuft sich unter Berücksichtigung eines Eigenbetrages iHv 157,33 EUR auf 511,00 EUR.
Mit Bescheid vom 18. Februar 2011 lehnte der Antragsgegner die beantragte Kostenübernahme ab. Zur Begründung führte er aus, die Teilnahme an einer Gruppenreise sei zur Eingliederung und zur Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft im Falle des Antragstellers nicht erforderlich, da er in keiner stationären Einrichtung, sondern im häuslichen Umfeld bei seinen Pateneltern lebe. Eine Integration in die Gesellschaft sei bereits dadurch gewährleistet. Zudem sei die Tagesstätte selbst darauf ausgerichtet, dass die behinderten Menschen zuverlässige und tragfähige Beziehungen zur Umwelt aufbauten.
Den hiergegen, mit Schreiben vom 22. Februar 2011 eingelegten Widerspruch wies der Antragsgegner mit Widerspruchsbescheid vom 19. April 2011 zurück.
Am 17. Mai 2011 hat der Antragsteller beim Sozialgericht Stade Klage erhoben und zugleich den Erlass einer einstweiligen Verfügung beantragt. Nach seiner Auffassung handelt es sich beim Center-Park um eine Einrichtung, die der Geselligkeit, der Unterhaltung oder kulturellen Zwecken dient. Es komme nicht darauf an, ob und in welchem Umfang er bereits jetzt Umgang mit nicht behinderten Menschen habe. Unabhängig von den täglichen Möglichkeiten sei der Besuch eines Center-Parks von den Hilfen zur Teilnahme am gemeinschaftlichen Leben umfasst. Er sei nicht in der Lage, die weiteren Kosten der Reise zu übernehmen. Nehme er hieran nicht teil, bestehe die große Gefahr gesundheitlicher Einschränkungen. Als Autist würde er die in der Leistungsablehnung begründete Zurücksetzung als extrem kränkend erleben und wäre in seiner derzeitigen stabilen Situation zurückgeworfen. Voraussichtlich würde auch das bestehende Vertrauen zur Tagesstätte und den Bezugsbetreuern verloren gehen.
Der Antragsgegner tritt dem Antrag entgegen und beantragt dessen Ablehnung. Nach seiner Auffassung führt bereits die Haushaltsgemeinschaft mit seiner nicht behinderten Patenfamilie dazu, dass der Antragsteller Kontakt zu nicht behinderten Menschen in erheblichem Umfange habe, der sich auch auf Besucher der Familie erstrecke. Darüber hinaus sei er bereits dadurch in die Gesellschaft eingegliedert, dass er die Leistungen der Eingliederungshilfe in Form des Besuchs der Tagesstätte erhalte. Aus der Konzeption der Gruppenreise sei auch nicht ersichtlich, dass durch diese die Begegnung mit nicht behinderten Menschen erkennbar gefördert werden würde.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zur Akte gereichten Schriftsätze der Beteiligten sowie auf die Verwaltungsakten des Antragsgegners (Leistungsakte, Widerspruchsakte), welche das Gericht beigezogen hat und die Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen sind, verwiesen.
II.
Der zulässige Antrag ist begründet. Nach § 86b Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Dies ist der Fall, wenn ohne den vorläufigen Rechtsschutz dem Betroffenen eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung in seinen Rechten droht, die durch die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann (Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 12.05.2005 – 1 BvR 569/05 mwN). Die tatsächlichen Voraussetzungen des Anordnungsanspruchs – die Rechtsposition, deren Durchsetzung im Hauptsacheverfahren beabsichtigt ist – sowie des Anordnungsgrundes – die Eilbedürftigkeit für eine Entscheidung durch einstweiligen Rechtsschutz – sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs 2 Satz 4 SGG iVm § 920 Zivilprozessordnung).
Der Antragsteller hat sowohl einen Anordnungsanspruch als auch einen Anordnungsgrund glaubhaft dargelegt.
Der Anordnungsanspruch ergibt sich aus § 53 Abs 1 12. Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII). Unzweifelhaft gehört der Antragsteller zum Kreis der Leistungsberechtigten, die durch eine Behinderung iSd § 2 Abs 1 Satz 1 9. Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt sind und denen Eingliederungshilfe zu gewähren ist, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalles, vor allem nach Art oder Schwere der Behinderung, Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann. Gem § 53 Abs 3 SGB XII ist es ua Aufgabe der Eingliederungshilfe, die Folgen einer Behinderung zu beseitigen oder zu mildern und die behinderten Menschen in die Gesellschaft einzugliedern. Hierzu gehört insbesondere, den behinderten Menschen die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern. Zu den Leistungen der Eingliederungshilfe gehören gem § 54 Abs 1 Satz 1 SGB XII auch die Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft nach § 55 SGB IX. Nach dieser Vorschrift werden Leistungen erbracht, die den behinderten Menschen die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft ermöglichen oder sichern. Dazu gehören im Rahmen von Hilfen zur Teilhabe am gemeinschaftlichen und kulturellen Leben vor allem Hilfen zur Förderung der Begegnung und des Umgangs mit nicht behinderten Menschen sowie Hilfen zum Besuch von Veranstaltungen oder Einrichtungen, die der Geselligkeit, der Unterhaltung oder kulturellen Zwecken dienen, §§ 55 Abs 2 Nr 7 iVm 58 Nrn 1 und 2 SGB IX).
Bei der geplanten Gemeinschaftsreise handelt es sich um eine solche Maßnahme, die zur Förderung von Begegnungen und des Umgangs mit nicht behinderten Menschen geeignet ist und bei welcher die Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann. Abgesehen davon, dass die Leistungskataloge der Eingliederungshilfe nur beispielhaften Charakter haben und nicht abschließend sind, reicht es bereits aus, dass durch die Reise seiner Tagesstättengruppe die Begegnung mit nicht behinderten Menschen gefördert wird. Auch wenn nach den laut Planung beabsichtigten Aktivitäten der Umgang und der Kontakt zu nicht behinderten Menschen nicht im Vordergrund steht, wird durch die Gemeinschaftsreise eine solche Kontaktaufnahme zumindest gefördert. Erforderlich sind keine zielgerichteten und geplanten Kontakte mit nicht behinderten Menschen; vielmehr ist § 58 SGB IX als zentrale Anspruchsgrundlage für alle Hilfen zu verstehen, die erforderlich und geeignet sind, den gesellschaftlichen Kontakt des nicht behinderten Menschen im Rahmen des ihm Möglichen in dem Maße zu fördern, wie er auch unter Nichtbehinderten üblich ist (vgl. Schütze in Hauck/Noftz, SGB IX § 55 Rz 3). Einzubeziehen und ausreichend ist daher auch die Förderung der Binnenbeziehung einer Gruppe, dh die Förderung von persönlichen Kontakten untereinander und des Gemeinschaftsgefühls. Nicht nur bei behinderten Menschen sind nach allgemeiner Erfahrung gemeinschaftliche Reisen in einer Gruppe besonders geeignet, persönliche Beziehungen, Kontakte und die Kompetenz im Umgang mit anderen Teilnehmern aufzubauen bzw zu verstärken und diese in einem veränderten Umfeld zu erproben. Für behinderte Menschen, deren möglichst weitgehende Gleichstellung die Vorschrift zum Ziel hat, gilt dies erst recht; für sie sind zudem die hierdurch vermittelten Erfahrungen für den Umgang auch mit nicht behinderten Menschen und damit für eine Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft von besonders großer Bedeutung. Hinzu kommt, dass gerade in fremder Umgebung sich Kontakte mit nicht behinderten Personen, beispielsweise beim Kochen, bei Restaurantbesuchen oder anderen Aktivitäten sich immer wieder ergeben können. Die Gemeinschaftsreise ist damit durchaus geeignet, die Folgen der Behinderung zu mildern und die behinderten Menschen in die Gesellschaft einzugliedern iSv § 53 Abs 3 Satz 1 SGB XII.
Der Kostenübernahme durch den Antragsgegner steht auch nicht entgegen, dass der Antragsteller bereits Eingliederungshilfe in Form des Besuchs einer Tagesstätte erhält. Auch wenn er hierdurch bereits gefördert wird, ist der Bedarf an weiteren Eingliederungshilfen dadurch nicht ausgeschlossen. Insbesondere schließt weder die teilstationäre Betreuung noch der Umstand, dass er bei seiner Patenfamilie lebt, die Teilnahme an einer Gemeinschaftsreise aus, da diese auf ganz andere Weise als im Alltag die Persönlichkeitsentwicklung und damit die Teilhabe in der Gemeinschaft fördern kann. Zwar können Außenkontakte im familiären Bereich die Eigenständigkeit des behinderten Menschen und seine Möglichkeiten zur Kontaktaufnahme zu anderen Menschen fördern, doch sind sie - ebenso wie eine teilstationäre Betreuung - in der Regel nicht hinreichend geeignet, andere Außenkontakte zu sonstigen nicht behinderten Personen zu ersetzen; sie stehen weiteren Hilfen iSv § 58 SGB IX daher nicht entgegen. Der Ausschluss eines einzelnen behinderten Menschen von der Teilnahme an einer gemeinschaftlichen Reise seiner Tagesstättengruppe kann daher allenfalls gerechtfertigt sein, wenn unter Berücksichtigung des konkreten Behinderungsbildes für ihn die reale Möglichkeit bereits besteht, selbstständig oder unter Anleitung Kontakte nach Art und Umfang zu knüpfen, wie es auch bei Gemeinschaftsreisen geschieht, also Begegnungen, Gespräche und vielleicht körperliche Kontakte mit anderen zu haben (vgl hierzu: VG Potsdam, Urteil vom 28. März 2008, Az: 11 K 2698/04, zitiert nach juris). Anhaltspunkte hierfür sind vorliegend jedoch nicht erkennbar, sodass eine andere Ermessensentscheidung als die Kostenübernahme der geplanten Gruppenreise ausscheidet.
Der Kostenübernahme durch den Antragsgegner steht im Übrigen auch nicht entgegen, dass es sich um keine unmittelbar von der Tageseinrichtung durchgeführte Reise handelt. Abgesehen davon, dass die Hilfe gem § 58 Zif 3 SGB IX nicht zur Voraussetzung hat, dass die Maßnahme zur Teilhabe durch eine Betreuungseinrichtung organisiert und durchgeführt wird, wird die geplante Gruppenreise vorliegend durch Bereitstellung des erforderlichen Betreuungspersonals von der Einrichtung aktiv unterstützt. Der Eignung der Maßnahme als Leistung der Eingliederungshilfe steht dies daher nicht im Wege.
Schließlich ist nicht erkennbar, dass der Antragsteller, der Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung vom Antragsgegner erhält, über den Eigenanteil hinaus die Kosten der geplanten Gemeinschaftsreise selbst aufbringen kann.
Dem Antragsteller steht auch ein Anordnungsgrund zur Seite, da eine Entscheidung im Hauptsacheverfahren vor Durchführung der geplanten Reise nicht mehr möglich ist. Eine vorläufige Entscheidung durch Erlass einer einstweiligen Anordnung ist daher geboten.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.
Dem Antragsteller ist Prozesskostenhilfe unter Beiordnung seines Rechtsanwaltes zu gewähren, da die Rechtsverfolgung aus vorstehenden Gründen hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und er aufgrund seiner persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nicht in der Lage ist, die Kosten der Rechtsverfolgung selbst aufzubringen, § 73a SGG iVm §§ 114ff ZPO.