Sozialgericht Stade
Beschl. v. 27.05.2011, Az.: S 8 AS 292/11 ER
Zumutbarkeit des Abwartens einer evtl. Entscheidung über die Gewährung von Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II im Hauptsacheverfahren als Gegengrund für eine Entscheidung im einstweiligen Rechtsschutz
Bibliographie
- Gericht
- SG Stade
- Datum
- 27.05.2011
- Aktenzeichen
- S 8 AS 292/11 ER
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2011, 37536
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:SGSTADE:2011:0527.S8AS292.11ER.0A
Rechtsgrundlage
- § 86b Abs. 2 S. 2 SGG
Tenor:
Der Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes wird abgelehnt. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe zur Durchführung des Eilverfahrens wird abgelehnt.
Gründe
I.
Die Antragstellerin, geb. 1969, begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Gewährung von Kosten der Unterkunft nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - SGB II.
Ausweislich eigener Angaben und einer im Juni 2010 bei dem Antragsgegner vorgelegten Mietbescheinigung lebt sie seit 1. Juni 2010 im Haus ihrer Eltern in D. in einem 35qm großen Zimmer im Dachgeschoss zur Untermiete. Als Gesamtmiete hat die Antragstellerin an den Vermieter - ihren Vater - einen Betrag in Höhe von 250 EUR zu zahlen. Am 15. Juni 2010 stellte die Antragstellerin einen Antrag auf Gewährung von Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II, dem der Antragsgegner mit Bescheid vom 6. Dezember 2010 in der Fassung des Änderungsbescheids vom 27. Januar 2011 unter vorläufiger Leistungsbewilligung von September bis November 2010 stattgab, ohne dabei die Kosten der Unterkunft zu übernehmen. Am 30. Dezember 2010 stellte die Antragstellerin erneut einen weiteren Antrag auf Bewilligung von Grundsicherungsleistungen, den der Antrags-gegner mit Bescheid vom 27. Januar 2011 unter Hinweis auf das im Januar 2011 von der Antragstellerin bei der Fa. E. Gebäudereinigung erzielte Einkommen in Höhe von 499,54 EUR ablehnte.
Nachdem dieses Arbeitsverhältnis zum 25. Februar 2011 vom damaligen Arbeitgeber gekündigt und der Antragstellerin von der Agentur für Arbeit Verden mit Bescheid vom 4. März 2011 Arbeitslosengeld I in Höhe von 330 EUR monatlich für die Zeit vom 26. Februar bis 6. August 2011 gewährt worden war, stellte sie am 27. April 2011 einen Antrag auf Bewilligung von Grundsicherungsleistungen. Am selben Termin hat sich die Antragsstellerin im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes an das Sozialgericht Stade gewandt.
Sie wendet sich (nur noch) im wesentlichen dagegen, dass der Antragsgegner mit Bescheid vom 18. Mai 2011 - gegen den sie am 20. Mai 2011 Widerspruch eingelegt hat - zwar Grundsicherungsleistungen in Höhe von 64 EUR (April 2011), 364 EUR (Mai 2011) und 115,15 EUR (Juni 2011) gewährt, jedoch darüber hinaus keine Kosten der Unterkunft trägt. Das Verhalten des Antragsgegners sei menschenunwürdig; sie baue fortlaufend wegen nicht bezahlter Mieten Schulden auf.
Die Antragstellerin beantragt nach ihrem schriftlichen Vorbringen sinngemäß,
den Antragsgegner im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes zu verurteilen, die Kosten der Unterkunft in Höhe von 250 EUR ab Antragstellung (27. April 2011) nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen vorläufig und unter dem Vorbehalt der Rückforderung zu übernehmen.
Der Antragsgegner beantragt sinngemäß,
den Antrag abzulehnen.
Er weist darauf hin, dass der Antragstellerin keine Nachteile entstehen, würde sie ein Hauptsacheverfahren abwarten.
Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie die beigezogene Verwaltungsakte des Antragsgegners verwiesen. Sie sind Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen.
II.
Der Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes ist - jedenfalls nach Einlegung des Widerspruchs gegen den Bescheid vom 18. Mai 2011 - zulässig. Er ist jedoch unbegründet. Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand u.a. dann treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Zwar ist grundsätzlich im Rahmen eines einstweiligen Anordnungsverfahrens eine Vorwegnahme der Hauptsache nicht möglich, sie kann jedoch ausnahmsweise unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Effektivität des Rechtsschutzes (Artikel 19 Abs. 4 Grundgesetz - GG -) geboten sein, wenn anders wesentliche Nachteile für die Antragstellerin nicht zu vermeiden sind. Eine solche Vorwegnahme der Hauptsache kommt aber nur in Betracht, wenn nach der im einstweiligen Anordnungsverfahren möglichen Überprüfung der Sach- und Rechtslage die Voraussetzungen für den geltend gemachten Anspruch vorliegen (Anordnungsanspruch) und eine Entscheidung gerade im einstweiligen Anordnungsverfahren erforderlich ist (Anordnungsgrund). Die maßgebenden Tatsachen haben die Antragsteller nach § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) glaubhaft zu machen. Die Antragstellerin hat jedoch einen Anordnungsgrund nicht hinreichend glaubhaft gemacht. Das Gericht vermag nicht zu erkennen, dass ohne die begehrte einstweilige Regelung ihr aktuell und unmittelbar spürbare wesentliche Nachteile drohen, weswegen ein Abwarten einer evtl. Entscheidung im Hauptsacheverfahren unzumutbar ist.
Ob ein Anordnungsgrund vorliegt oder nicht, hat das erkennende Gericht zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Eilantrag zu beurteilen. Danach ist der Antrag nicht eilbedürftig. Obwohl das Gericht nach summarischer Prüfung keine Zweifel daran hat, dass der Antragsgegner die Kosten der Unterkunft der Antragstellerin wird gewähren müssen, ist es der Antragstellerin zumutbar, die Rechtsfrage der Gewährung von Unterkunfts- und Heizkosten gem. § 22 Abs. 1 SGB II im Zuge des Widerspruchs- und Hauptsacheverfahrens abklären zu lassen. Zum einen ist im Rahmen dieses Eilverfahrens nur der Zeitpunkt ab Antragstellung (27. April 2011) maßgebend. Denn hier wie in der Regel ist ein Anordnungsgrund nicht gegeben, soweit die Antragstellerin Leistungen bei Antragstellung für bereits zurückliegende Zeiträume begehrt (vgl. nur Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Auflage, § 86b Rdnr. 35; Berlit, info-also 2005, 3, 10 ff.). Im einstweiligen Rechtsschutzverfahren sollen nur diejenigen Mittel zur Verfügung gestellt werden, die zur Behebung einer aktuellen, d.h. gegenwärtig noch bestehenden Notlage erforderlich sind. Nur ausnahmsweise, wenn die Nichtgewährung der begehrten Leistung in der Vergangenheit noch in die Gegenwart fortwirkt und infolgedessen eine aktuelle Notlage besteht, kann von diesem Grundsatz eine Ausnahme gemacht werden. Derartige Folgewirkungen hat die Antragstellerin nicht dargelegt und sie ergeben sich auch nicht nach Aktenlage.
Für den hier in Rede stehenden zeitlichen Korridor ab Antragstellung sind schwere und unerträgliche Nachteile, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage sein könnte, nicht erkennbar. Zwar trägt die Antragstellerin vor, durch die rückständige Miete Mietschulden aufgebaut zu haben. Eine unmittelbare Folge - drohender Wohnungsverlust oder gar Obdachlosigkeit - ist dadurch je-doch nicht entstanden. Der Vermieter - zugleich ihr Vater - hat weder mit Kündigung noch mit Räumungsklage gedroht oder noch andere erkennbare rechtliche oder tatsächliche Schritte eingeleitet, um sie als Mieterin aus dem gemeinsam bewohnten Haus zu entfernen. Ein solches Vorgehen gegen die eigene Tochter dürfte auch nicht im Interesse des Vaters und Vermieters liegen. Nach dem Vorbringen der Antragstellerin ist ihr Vater zum einen kaum zu Haus, zum anderen als Ehemann seiner pflegebedürftigen Ehefrau sehr daran interessiert, dass die eigene Tochter in seinem Haus wohnend die Pflege ihrer Mutter und seiner Ehefrau übernommen hat. Es sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass der Vater seine Tochter auf die Straße setzen würde, würde die Miete nicht durch Transferleistungen drittfinanziert. Nach der hier gebotenen summarischen Prüfung ist vielmehr davon auszugehen, dass eine Kündigung des Mietverhältnisses oder gar eine Zwangsräumung bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens nicht erfolgen wird. Das verbietet sich schon aus der sittlichen Verpflichtung des Vaters als Vermieter gegen-über seiner Tochter als Mieterin im eigenen Hause.
Darüber hinaus dürfte das Zimmer im Dachgeschoss des Hauses der Eltern nicht ohne Weiteres an Dritte vermietet werden können, ohne dass der Raum im Dachgeschoss einen eigenen abgeschlossenen Zugang erhält. Derzeit ist das Zimmer der Antragstellerin ist nur durch das Haus der Eltern und über eine Bodentreppe zu erreichen.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer analogen Anwendung des § 193 SGG.
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe zur Durchführung des Eilverfahrens ist aus oben genannten Gründen wegen mangelnder Erfolgsaussichten abzulehnen (§ 73a SGG i.V.m. § 114 Zivilprozessordnung).