Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 13.05.2008, Az.: L 9 AS 119/08 ER
Tatbestandliche Voraussetzungen für die Gewährung eines Mehrbedarfszuschlags für einen Alleinerziehenden; Vorliegen einer Verantwortungsgemeinschaft und Kriterien für die Auslegung des Tatbestandsmerkmals "alleinerziehend"
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 13.05.2008
- Aktenzeichen
- L 9 AS 119/08 ER
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2008, 19135
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2008:0513.L9AS119.08ER.0A
Verfahrensgang
Rechtsgrundlage
- § 21 Abs. 3 Nr. 1 SGB II
Tenor:
Der Beschluss des Sozialgerichtes Lüneburg vom 05. Februar 2008 in der Gestalt des Abhilfebeschlusses vom 20. Februar 2008 wird geändert.
Die Beschwerdegegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Beschwerdeführerin für die Monate Dezember bis März 2008 einen Mehrbedarfszuschlag für Personen, die mit einem minderjährigen Kind zusammenleben und allein für deren Pflege und Erziehung sorgen, in gesetzlicher Höhe zu gewähren.
Die Beschwerdegegnerin hat die außergerichtlichen Kosten der Beschwerdeführerin zu tragen.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten im Beschwerdeverfahren noch darum, ob die 1976 geborene Beschwerdeführerin wegen der Alleinerziehung ihres im September 2007 geborenen Sohnes einen Anspruch auf einen Mehrbedarfszuschlag wegen Alleinerziehung nach den Vorschriften des Sozialgesetzbuches Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) hat.
Die Beschwerdeführerin studierte in A. im Fachbereich Sozialwesen. Dort erhielt sie Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (Bafög). Da die Förderungshöchstdauer überschritten war, lief die Förderung aus.
Nachdem sie schwanger wurde, ließ sie sich von der Universität beurlauben und beantragte, bei der Beschwerdegegnerin, ihr laufende Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zu gewähren.
Seit April 2007 steht sie im laufenden Bezug existenzsichernder Leistungen. Mit hier streitigem Bescheid vom 26. September 2007 regelte die Beschwerdegegnerin den Hilfefall für den Zeitraum vom Oktober 2007 bis März 2008. Hiergegen legte die Beschwerdeführerin Widerspruch ein, zu dessen Begründung sie darauf hinwies, ihr sei nach der Geburt ihres Sohnes Mehrbedarf für Alleinerziehende zuzuerkennen. Die Beschwerdegegnerin führte am 27. September 2007 einen Hausbesuch durch und teilte dem Prozessbevollmächtigten der Beschwerdeführerin unter dem 29. November 2007 mit, die Gewährung eines Mehrbedarfs komme nicht in Betracht, da sich bei dem Hausbesuch ergeben habe, dass der leibliche Vater (Herr B.) des Neugeborenen mit der Beschwerdeführerin zusammen wohne.
Mit Änderungsbescheid vom 14. Dezember 2007 änderte die Beschwerdegegnerin die Leistungsbewilligung mit Wirkung von Januar bis März 2008. Zur Begründung führte sie aus, Herr B. werde von Januar 2008 an im Rahmen einer ehelichen Gemeinschaft in die Berechnung der Bedarfsgemeinschaft aufgenommen. Da er indessen Auszubildender sei, könne er keine Leistungen nach dem SGB II beanspruchen.
Am 10. Dezember 2007 hat die Beschwerdeführerin bei dem Sozialgericht (SG) Lüneburg die Gewährung vorläufigen Rechtschutzes beantragt.
Das SG hat am 01. Februar 2008 einen Termin zur Erörterung des Sachverhalts durchgeführt und hierbei sowohl die Beschwerdeführerin als auch Herrn B. ausführlich vernommen. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Sitzungsprotokoll (Blatt 59 ff. der Gerichtsakte) Bezug genommen. Daraufhin hat das SG den Antrag der Beschwerdeführerin,
eine einstweilige Anordnung des Inhalts zu erlassen, dass ihr vorläufig ein Mehrbedarfszuschlag für Alleinerziehende zustehe,
abgelehnt. Auf die Beschwerde der Beschwerdeführerin hat das SG mit teilweise abhelfendem Beschluss vom 20. Februar 2008 die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Änderungsbescheid vom 14. Dezember 2007 angeordnet, soweit darin bei der Regelung des Hilfefalls davon ausgegangen worden ist, die Beschwerdeführerin bilde mit Herrn B. eine Bedarfsgemeinschaft, weswegen ihr nicht der Regelsatz für eine alleinstehende Person zustehe. Zur Begründung hat das SG ausgeführt, nach dem Ergebnis der von ihm durchgeführten Beweisaufnahme könne nicht davon ausgegangen werden, dass die Beschwerdeführerin alleinerziehend im Sinne des Gesetzes sei. Andererseits könne aber auch nicht davon ausgegangen werden, dass im streitigen Zeitraum zwischen der Beschwerdeführerin und Herrn B. eine eheähnliche Gemeinschaft im Sinne des Gesetzes vorgelegen habe.
Im Hinblick auf den noch anhängigen Teil der Beschwerde hat das SG beschlossen, dieser nicht abzuhelfen und sie am 25. Februar 2008 dem Landessozialgericht zur Entscheidung vorgelegt.
Im Verlauf des Beschwerdeverfahrens hat die Beschwerdegegnerin den Widerspruchsbescheid vom 04.März 2008 hinsichtlich des hier streitbefangenen Bescheides vom 26. September 2007 durch den Bescheid vom 14. Dezember 2007 geändert und mit Änderungsbescheid vom 31. März 2008 der Beschwerdeführerin in Umsetzung des sozialgerichtlichen Beschlusses für die Zeit von Januar bis März 2008 wiederum den vollen Regelsatz zugesprochen.
II.
Die Beschwerde ist zulässig. Sie ist bereits vor dem 01. April 2008 eingelegt worden, sodass nach der ständigen Rechtssprechung des Senats (vgl. Beschluss vom 21. April 2008, L 9 AS 227/08 ER) die zwischenzeitlich durch das Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes mit Wirkung vom 1. April 2008 eingeführte Beschwerdesumme in §§ 172 Abs. 3, 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hier noch keine Anwendung finden kann.
Soweit das SG die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Beschwerdeführerin gegen den Änderungsbescheid vom 14. Dezember 2007 in Anwendung von § 86 b Abs. 1 Nr. 2 SGG angeordnet hat, ist nach Auffassung des Senats durch die Beschwerdegegnerin keine Beschwerde eingelegt worden, so dass der Beschluss des SG insoweit rechtskräftig geworden ist. Soweit die Beschwerdegegnerin einwendet, sie habe sich in einem ihrer Schriftsätze argumentativ mit der Auffassung des SG auseinandergesetzt, kann dies nicht zu einem anderen Ergebnis führen. Die Beschwerdegegnerin bezieht sich insoweit auf ihren Schriftsatz vom 05. März 2008, in dem sie in der Tat erneut ihre Rechtsauffassung betont hat, es liege eine Verantwortungsgemeinschaft der Beschwerdeführerin mit Herrn B. im Sinne von § 7 Abs. 3 Nr. 3 c) SGB II vor. In diesem Schriftsatz hat sie indessen weder ausgeführt, sie lege gegen den Abhilfebeschluss des SG vom 20. Februar 2008 selbstständig Beschwerde ein, noch hat sie insoweit einen Antrag gestellt. Dies wäre aber von einer öffentlichen Verwaltung im gerichtlichen Verfahren zu erwarten. Der Senat vermag den Schriftsatz daher keine selbstständige Beschwerde zu entnehmen. Auch der Schriftsatz der Beschwerdegegnerin vom 21. April 2008 enthält derartige Ausführungen nicht. Mit ihm wäre eine zu erhebende Beschwerde indessen auch verfristet gewesen.
Streitgegenstand der vom Senat zu entscheidenden Beschwerde ist mithin nur der Anspruch der Beschwerdeführerin auf Gewährung eines Mehrbedarfszuschlags für die Monate Dezember 2007 (Eingang des Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung) bis März 2008 (Ende der regelnden Wirkung des angefochtenen Bescheides vom 26. September 2007 in der Gestalt des Änderungsbescheides vom 14. Dezember 2007 und des Widerspruchsbescheides vom 04. März 2008).
Insoweit hat das SG zu Unrecht den Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt. Nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Dies setzt - wie das SG zutreffend ausführt - voraus, dass das Vorliegen eines Anordnungsgrundes (Eilbedürftigkeit) und eines Anordnungsanspruchs (materieller Anspruch in der Sache) glaubhaft gemacht ist.
Insoweit geht der Senat davon aus, dass der streitige Mehrbedarfszuschlag nach § 21 Abs. 3 Nr. 1 SGB II zu den existenziellen Ansprüchen der Beschwerdeführerin zählt und somit ohne Weiteres ein Anordnungsgrund gegeben ist.
Der Senat geht nach der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nur möglichen summarischen Prüfung auch davon aus, dass der Beschwerdeführerin der geltend gemachte Anspruch auch zusteht. Nach § 21 Abs. 3 Nr. 1 SGB II ist für Personen, die mit einem minderjährigen Kind unter 7 Jahren zusammenleben und allein für dessen Pflege und Erziehung sorgen, ein Mehrbedarf anzuerkennen in Höhe von 36 vom Hundert der nach § 20 Abs. 2 SGB II maßgebenden Regelleistung. Die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Gewährung dieses Mehrbedarfszuschlags sind nach der im vorläufigen Rechtsschutzverfahren nur möglichen summarischen Prüfung und insbesondere nach den Sachverhaltsermittlungen des erstinstanzlichen Gerichts nach Auffassung des Senats gegeben. Allein streitig zwischen den Beteiligten ist, ob die Beschwerdeführerin "alleinerziehend" im Sinne des Gesetzes ist. Alleinige Sorge im Sinne von § 21 Abs. 3 SGB II liegt vor, wenn bei der Pflege und Erziehung kein anderer gleichberechtigt und unentgeltlich im erheblichen Umfang mitwirkt bzw. wenn der hilfebedürftige Elternteil nicht von dem anderen Elternteil oder Partner nachhaltig unterstützt wird (Lang/Knickrehm in Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl. § 21 Rdnr. 29 ; Behrend, [...] PK - SGB II, 2. Aufl., Stand 19. Juli 2007, § 21 Rdnr. 24 f; Münder in LPK - SGB II, 2. Aufl., § 21 Rdnr. 8; differenzierender wohl Grube in Grube/Wahrendorff, SGB XII, 2. Aufl., § 30 Rdnr. 32, 34).
Für die Frage, ob ein Anspruch auf den Mehrbedarfszuschlag für Alleinerziehende besteht, kommt es allein auf die konkrete, tatsächliche Situation an, wie sie hier auch im einstweiligen Rechtsschutzverfahren vom SG zutreffend ermittelt worden ist (vergleiche hierzu erneut Behrend am a.a.O. Rdnr. 25; Lang/Knickrehm a.a.O. Rdnr. 30).
Die Frage, wann die Mitwirkung eines Dritten an der Pflege und Erziehung von Kindern wesentlich oder unwesentlich ist, bestimmt sich auch nach dem Zweck des Mehrbedarfszuschlags, der vom Gesetz selbst nicht näher beschrieben wird, wohl aber im Gesetzgebungsverfahren Ausdruck gefunden hat. Da nach dem Willen des SGB II-Gesetzgebers die Vorschrift in § 21 SGB II an die entsprechenden Vorschriften im BSHG inhaltlich anknüpfen sollte (vgl. BT-Drucksache 15/1516, Seite 57 zitiert nach LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 27. Juli 2007, L13 AS 50/07 ER auch zum Folgenden), kann insoweit auf die Motive zum 4. Änderungsgesetz des BSHG vom 21. Juni 1985 (vgl. BT-Drucksache 10/3079) zurückgegriffen werden. Danach war es tragende Erwägung, den Mehrbedarfszuschlag für Alleinerziehende einzuführen, dass bei Personen, die auf sich allein gestellt sind und für die Pflege und Erziehung ihres Kindes auf Hilfe nicht zurückgreifen können, ein höherer Bedarf für den im Regelsatz erfassten notwendigen Lebensunterhalt entsteht. Denn aufgrund des Umstandes, dass dieser Personenkreis zeitlich durch die alleinige Erziehung und Pflege des Kindes stärker beansprucht ist als Personen, die eine entsprechende Unterstützung erfahren, führt dies erfahrungsgemäß dazu, dass für die Ernährung ein höherer Bedarf anfällt, da sie aufgrund der höheren zeitlichen Beanspruchung durch die Beaufsichtigung des Kindes nicht die Zeit haben, preisbewusst einzukaufen, und stattdessen die nächstgelegene, nicht unbedingt preisgünstigste Einkaufsmöglichkeit nutzen müssen. Ferner ging der Gesetzgeber davon aus, dass höhere Aufwendungen zur Kontaktpflege und zur Unterrichtung in Erziehungsfragen entstehen, weil es eine mitbetreuende Person nicht gibt und deshalb häufiger externer Rat in Betreuungs-, Gesundheits- und Erziehungsfragen benötigt wird.
Hier ergibt sich für den Senat - und insoweit erscheint der Sachverhalt nicht umstritten - folgendes Bild: Der Vater des Kindes - Herr B. - lebt in C. und geht dort - jedenfalls im streitbefangenen Zeitraum - seiner Ausbildung nach. C. ist 160 km von A., wo die Beschwerdeführerin mit ihrem Kind lebt, entfernt. Herr B. begibt sich am Wochenende freitags nach Beendung seiner Arbeit nach D., wo er am Samstag und Sonntag bis zu seiner erneuten Abreise nach E. die Beschwerdeführerin auch bei Pflege und Erziehung des gemeinsamen Kindes unterstützt. In dieser Unterstützung an zwei von sieben Tagen der Woche vermag der Senat keine Mitwirkung in erheblichem Umfang zu erkennen, wie sie Voraussetzung für das Entfallen des Anspruchs auf den Mehrbedarfszuschlag für Alleinerziehende wäre. Der wesentliche Schwerpunkt der Pflege und Erziehung des Kindes liegt in einer derartigen Fallgestaltung weiterhin bei der den Mehrbedarf beantragenden Person, da diese den Alltag überwiegend allein bewältigen muss und der andere Elternteil die Betreuung nur in einem geringeren Umfang leisten kann. Die den Mehrbedarf rechtfertigenden Einschränkungen der Lebensführung bestehen fort, weil der den Mehrbedarfszuschlag in Anspruch nehmende Elternteil in den wesentlichen Zeiten der Woche - an allen Werktagen - anderen Verpflichtungen nicht (z.B. Behördengänge, Arztbesuche) oder nur eingeschränkt (Einkäufe) nachgehen kann (vergleiche hierzu erneut Behrend a.a.O. Rdnr. 25; vergleiche auch Münder a.a.O. Rdnr. 10). Insoweit ist die vorliegende Konstellation vergleichbar mit Fällen, in denen bei geschiedenen Elternteilen der nicht mit dem Kind zusammenlebende Elternteil ein zivilrechtliches Umgangsrecht wahrnimmt. In diesen Fällen ist auch unter Geltung des vormaligen Sozialhilferechts stets davon ausgegangen worden, dem Elternteil, bei dem das Kind seinen Hauptaufenthaltsort habe, stehe nach wie vor der Anspruch auf den Mehrbedarfszuschlag als Alleinerziehender zu.
Die Beschwerdegegnerin kann sich für ihre Rechtsauffassung auch nicht auf die von ihr zitierte Entscheidung des 13. Senats des erkennenden Gerichts beziehen (Beschluss vom 27. Juli 2007 - L 13 AS 50/07 ER). Der 13. Senat hat vielmehr ähnliche Kriterien für die Auslegung des Tatbestandsmerkmals "alleinerziehend" in § 21 Abs. 3 SGB II formuliert, wie sie vom erkennenden Senat oben formuliert worden sind. Er ist lediglich deswegen zu einer anderen Entscheidung gelangt, weil in der vom 13. Senat zu entscheidenden Fallkonstellation die Großmutter vollständig im Haushalt ihrer Tochter und Enkeltochter lebte (so etwa auch in der vom 6. Senat des LSG Niedersachsen-Bremen in seinem Beschluss vom 15. November 2006, L 6 AS 530/06 ER zu entscheidenden Konstellation; zu den Anforderungen, die der 13. Senat im Übrigen stellt, vgl. auch dessen Beschluss vom 28. März 2008, L 13 AS 260/07). Ein echtes Zusammenleben in einem Haushalt - wie es nach Auffassung des 13. Senates dazu führt, den Anspruch auf Gewährung eines Mehrbedarfszuschlages zu verneinen - liegt aber in der hiesigen Konstellation - wie gezeigt - gerade nicht vor. Die Beschwerdeführerin ist vielmehr im Wesentlichen darauf verwiesen, die Woche über die vom Gesetzgeber als Kosten verursachend angesehenen Umstände allein zu bewältigen, und kann hierin von Herrn F. nicht wesentlich unterstützt werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf der Anwendung von § 193 SGG.
Der Beschluss ist in Anwendung von § 177 SGG unanfechtbar.