Landgericht Osnabrück
Urt. v. 10.03.2003, Az.: 1 O 3211/02
Klage gegen eine Stadt wegen Verletzung einer Verkehrssicherungspflicht; Amtshaftungsanspruch wegen eines Unfalls auf einer Gemeindestraße infolge einer lückenhaften Pflasterung
Bibliographie
- Gericht
- LG Osnabrück
- Datum
- 10.03.2003
- Aktenzeichen
- 1 O 3211/02
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2003, 33944
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LGOSNAB:2003:0310.1O3211.02.0A
Rechtsgrundlagen
- Art. 34 GG
- § 9 NdsStrG
- § 10 NdsStrG
- § 47 NdsStrG
- § 48 NdsStrG
- § 49 NdsStrG
- § 839 BGB
- § 847 BGB
Fundstelle
- JWO-VerkehrsR 2003, 2
Tenor:
- 1.
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 1.000,-- EUR nebst Zinsen in Höhe von 5% über dem Basiszinssatz seit dem 19. November 2002 zu zahlen.
- 2.
Der Klägerin werden die durch die Anrufung des unzuständigen Gerichts entstandenen Mehrkosten auferlegt. Die übrigen Kosten des Rechtsstreites werden der Klägerin zu 2/3 und der Beklagten zu 1/3 auferlegt.
- 3.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung der Klägerin durch Sicherheitsleistung in Höhe von 1.400,-- EUR abwenden, wenn nicht die Klägerin zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet. Die Klägerin kann die Vollstreckung der Beklagten durch Sicherheitsleistung in Höhe von 500,-- EUR abwenden, wenn nicht die Beklagte zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
Die Klägerin nimmt die beklagte Stadt wegen Verletzung ihrer Verkehrssicherungspflicht in Anspruch.
Sie behauptet, am 26. 7. 2002 gegen 18.00 Uhr auf dem Marktplatz O. im Bereich der Einmündung der O. Straße mit dem Fuß in eine Unebenheit auf der Gehfläche geraten und hierdurch zu Fall gekommen zu sein. Bei dem angeblichen Unfallort handelt es sich - unstreitig - um einen Teil der belebten Fußgängerzone in O. Die Unebenheit habe sich an einer Stelle des Fußgängerzonenbereichs befunden, der nicht mit roten Klinkern gepflastert, sondern mit kleinen Kopfsteinpflastersteinen ausgelegt ist und sei dadurch entstanden, dass auf einer Fläche von 40 cm x 40 cm die Kopfsteinpflastersteine gefehlt hätten. Sie sei ca. 4 - 5 cm tief gewesen. Unstreitig befinden sich in der Nähe der behaupteten Unfallstelle Geschäfte mit Schaufensterauslagen, ein Briefkasten der Deutschen Post sowie mehrere Fahrradständer. Am Unfalltag fand - ebenfalls unstreitig - auf dem Gelände ein Wochenmarkt statt, den die Klägerin besucht haben will.
Die Klägerin ist der Auffassung, dass die Aufmerksamkeit der Passanten durch die Marktstände derartig in Anspruch genommen werde, dass eine unerwartet im Boden befindliche Vertiefung nicht bemerkt werden könne.
Der dahingehenden Behauptung der Klägerin, dass der Beklagten die in Rede stehende Schadensstelle bereits vor dem behaupteten Unfallgeschehen bekannt gewesen ist, ist die Beklagte nicht entgegengetreten.
Auf Grund des Sturzes habe die Klägerin einen Außenbänderriss am linken Sprunggelenk erlitten. Sie habe über 6 Wochen hinweg eine Schiene tragen müssen. Anschließend sei die Schiene für einen Zeitraum von 5 Wochen durch eine Bandage ersetzt gewesen. Noch heute schwelle das Gelenk unter Belastung an. Aktuell werde sie zweimal wöchentlich mit Ultraschall behandelt, um die Schwellneigung zu bekämpfen und die Schmerzzustände zu lindern. Ein schmerzfreier Zustand sei noch nicht hergestellt. Auf Grund dessen hält die Klägerin ein Schmerzensgeld in Höhe von 3.000,-- EUR für angemessen.
Die Klägerin beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin ein angemessenes Schmerzensgeld, mindestens jedoch 3.000,-- EUR zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie ist der Auffassung, dass es der Klägerin unter Beachtung normaler Sorgfalt ein Leichtes gewesen wäre, den behaupteten Unfall zu vermeiden. Schon auf Grund dessen scheide eine Haftung der Beklagten aus.
Im übrigen sei die Beklagte ihrer Kontrollpflicht nachgekommen. Sie überprüfe die Beschaffenheit der Verkehrswege in monatlichem Abstand. So habe am 8. 7. 2002 eine Kontrolle der hier in Rede stehenden Stelle stattgefunden, wobei Mängel nicht festgestellt worden seien.
Nachdem die Klägerin zunächst Klage vor dem Amtsgericht Bad Iburg erhoben hatte, hat dieses den Rechtsstreit auf Antrag der Klägerin mit Beschluss vom 27. 11. 2002 an das Landgericht Osnabrück verwiesen.
Das Landgericht hat Beweis erhoben gem. Beweisbeschluss vom 30. Januar 2003 ( Bl. 49, 50 d.A. ) durch Einholung einer schriftlichen Zeugenaussage des Arztes ... , durch Vernehmung des Zeugen ... sowie durch Inaugenscheinnahme der Lichtbilder Bl. 11 bis 14 d.A.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist zum Teil begründet.
Der Klägerin steht gegen die Beklagte ein Schmerzensgeldanspruch gem. §§ 847, 839 BGB in Verbindung mit Art. 34 GG, §§ 9, 10, 47, 48, 49 NdsStrG zu, da sich der in Rede stehende Unfall auf einer Gemeindestraße ereignet hat, für deren Verkehrssicherheit die beklagte Stadt als Straßenbaulastträgerin nach Amtshaftungsgrundsätzen einstehen muss. Die Beklagte ist den ihr obliegenden Sicherungspflichten nicht gehörig nachgekommen:
Nach § 10 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 2 Nr. 1 des NdsStrG obliegen der Bau und die Unterhaltung der öffentlichen Straßen einschließlich der Gehwege sowie die Überwachung ihrer Verkehrssicherheit den Organen und Bediensteten der damit befassten Körperschaften als Amtspflicht in Ausübung hoheitlicher Tätigkeit. Diese öffentlich-rechtlich gestaltete Amtspflicht zur Sorge für die Verkehrssicherheit entspricht inhaltlich der allgemeinen Verkehrssicherungspflicht (vgl. BGHZ 60, 54). Ihr Umfang wird dabei von der Art und der Häufigkeit der Benutzung des Verkehrsweges und seiner Bedeutung maßgebend bestimmt. Sie umfasst die notwendigen Maßnahmen zur Herbeiführung und Erhaltung eines für den Straßenbenutzer hinreichend sicheren Straßenzustandes. Grundsätzlich muss sich der Straßenbenutzer allerdings den gegebenen Straßenverhältnissen anpassen und die Straße so hinnehmen, wie sie sich ihm erkennbar darbietet. Ein Tätigwerden des Verkehrssicherungspflichtigen ist allerdings dann geboten, wenn Gefahren bestehen, die auch für einen sorgfältigen Benutzer nicht oder nicht rechtzeitig erkennbar sind, und auf die er sich nicht oder nicht rechtzeitig einzurichten vermag (vgl. BGH NJW 1980, 2193 (2194) [BGH 26.06.1980 - VII ZR 210/79]; BGH NJW 1979, 2043 (2044)).
Diese Voraussetzungen waren hier erfüllt. Auf Grund der vom Gericht durchgeführten Beweisaufnahme steht fest, dass die Pflasterung an der durch die Klägerin bezeichneten Stelle eine große Lücke aufwies. Der Zeuge ... hat ausgesagt, dass in dem in Rede stehenden Bereich einige der Natursteine fehlten, wodurch die Pflasterung ein Loch aufwies. Er hat bestätigt, dass die Lichtbilder Blatt 12 d.A. die Schadensstelle zutreffend abbilden.
Nach der Anhörung der Klägerin und der Vernehmung des Zeugen ... ist das Gericht davon überzeugt, dass die Klägerin auf Grund des schadhaften Pflasters zu Fall kam. Zwar hat der Zeuge den behaupteten Sturz der Klägerin nicht beobachtet. Er hat jedoch mitgeteilt, die Klägerin mit schmerzverzerrtem Gesicht auf einer Mauerumrandung sitzen gesehen zu haben. Insoweit übereinstimmend hatte die Klägerin angegeben, sich nach dem Sturz zu einer Umrandung am Blumenbeet geschleppt und sich aufs Selbige gesetzt zu haben. Darüber hinaus konnte sich der Zeuge ... ebenfalls daran erinnern, dass der Knöchel der Klägerin stark angeschwollen war und sie das linke Bein von sich streckte. Schließlich hat die Klägerin ihm das in Rede stehende Loch nach seinen Angaben sofort als Schadensursache gezeigt. Dies sowie die dargestellten Übereinstimmungen zwischen der Schilderung der Klägerin und der Aussage des Zeugen ... verschafft dem Gericht die erforderliche Gewissheit davon, dass die Klägerin an der betreffenden Stelle gestürzt ist.
Die in Augenschein genommenen Lichtbilder lassen eine Stufenbildung infolge des Fehlens einzelner Natursteine und eine daran anschließende muldenförmige Vertiefung von ca. 5 cm erkennen. Mithin lag ein verkehrsunsicherer Zustand vor, der von der beklagen Stadt hätte beseitigt oder entschärft werden müssen.
Dabei mag dahinstehen, ob ein Einschreiten auch geboten gewesen wäre, wenn sich diese Schadensstelle im Bereich eines Bürgersteiges befunden hätte. Auch dort darf der Niveauunterschied nicht isoliert anhand abstrakter Zahlen beurteilt werden; vielmehr bemisst sich die Verkehrrssicherungspflicht nach den konkreten Umständen der jeweiligen Örtlichkeit, die einer Gefährdung erst ihr Gepräge geben. Geringe Höhenunterschiede im Plattenbelag eines Bürgersteigs in der Größenordnung bis 2 cm mögen zwar im allgemeinen nicht verkehrsgefährdend sein. Sie können jedoch durch das Hinzutreten besonderer Umstände, wie Art und Beschaffenheit der Vertiefung oder Erhöhung, Lage in einer Hauptgeschäftsstraße mit starker Verkehrsdichte und Ablenkung der Straßenbenutzer durch Schaufenster oder andere besondere Gegebenheiten zu einem Gefahrenzustand führen, der nicht mehr hinzunehmen ist (vgl. BGH BB 1976, 229 (230); OLG Düsseldorf VersR 1996, 603).
Ein derart tiefes Loch stellt jedenfalls in einer Fußgängerzone eine "gefährliche Stelle" dar. Diese innerstädtischen Bereiche sind nach Anlage und Zweckbestimmung ganz auf die Bedürfnisse von Fußgängern zugeschnitten. Die Gemeinden sind daran interessiert, dass sie angenommen werden, da dies nicht nur eine wünschenswerte Belebung der Ortskerne bewirkt, sondern auch den dort angesiedelten Gewerbebetrieben zugute kommt. Dementsprechend fördern sie die Attraktivität dieser Bereiche durch eine dem Fußgängerverkehr entgegenkommende bauliche Gestaltung, die Sperrung für den allgemeinen Verkehr und spezielle Werbemaßnahmen. Dies alles vermittelt dem Benutzer zugleich das Gefühl, in dieser eigens für ihn geschaffenen Zone besonders "sicher" zu sein, was die Anforderungen, die an die eigene Sorgfalt zu stellen sind, verringert und im Gegenzug erhöhte Sicherheitspflichten des Straßenbaulastträgers begründet. Wer gerade auf Ablenkungen achten soll, wie es in einer Fußgängerzone allgemein und in der vorliegenden Situation insbesondere dadurch der Fall ist, dass ein Wochenmarkt die Aufmerksamkeit der Fußgänger auf sich lenken sollte, darf in weit größerem Ausmaß als bei der Benutzung von Bürgersteigen oder Straßen darauf vertrauen, dies gefahrlos tun zu dürfen.
Dieses Vertrauen erstreckt sich auch und gerade auf den ordnungsgemäßen Zustand des Bodenbelags, der bei starker Belebung des Fußgängerbereiches der Sicht weitgehend entzogen sein kann. Der Benutzer ist nicht gehalten, bei jedem Schritt gezielt darauf zu achten, nicht infolge einer Vertiefung oder Kante der Pflasterung zu Fall zu kommen. Anders als bei Bürgersteigen braucht er auf derartige Gefahren nicht jederzeit gefasst zu sein. Zwar muss er mit Gefahren wie Straßenlaternen, Papierkörben, Bänken, Brunnen und Bäumen rechnen. Das sind in Fußgängerbereichen typische Hindernisse, die aus dem Erdboden herausragen und schon mit einem beiläufigen Blick zu erfassen sind. Sie verursachen zudem keine derartig große Sturzgefahr, wie sie bei nicht unerheblichen Vertiefungen entsteht, in die man unvermutet hineintritt. Solche Gefahrenstellen zu beseitigen, ist zuvörderst Sache der verkehrssicherungspflichten Gemeinde. Die Beklagte ist dieser Pflicht in vorwerfbarer Weise nicht nachgekommen. Unbestritten hatte sie vor dem in Rede stehenden Sturz Kenntnis von dem schadhaften Zustand der Pflasterung. Die Beklagte musste sich darüber im Klaren sein, dass auf Grund der besonderen örtlichen Verhältnisse die Gefahr von Unfällen bestand.
Da - wie dargestellt - davon auszugehen ist, dass die streitbefangene Schadensstelle den Unfall der Klägerin verusacht hat, haftet die Beklagte für deren Schaden. Der Klägerin steht mithin ein Schmerzensgeldanspruch gegen die Beklagte zu.
Die Klägerin muss sich allerdings ein mitwirkendes Verschulden (§ 254 BGB) anrechnen lassen. Ausweislich der in Augenschein genommenen Lichtbilder war die Schadensstelle durch eine von der Umgebung abweichende Farbgebung erkennbar. Darüber hinaus befand sie sich nahe an der eigentlichen Straße und damit in einem Bereich, in dem die verkehrsbezogene Aufmerksamkeit eines Fußgängers höher sein muss und ist als im zentralen Bereich einer Fußgängerzone. Die Kantenbildung konnte hier demzufolge eher ins Auge fallen als in der lediglich den Fußgängern gewidmeten Platzmitte. In Anbetracht dieser Umstände begründete es ein Mitverschulden in Höhe von 1/3, wenn die Klägerin die Gefahrenstelle nicht rechtzeitig bemerkt hat.
Hinsichtlich der Höhe des der Klägerin gem. § 847 BGB zustehenden Schmerzensgeldes gilt das Folgende:
Das Schmerzensgeld soll den Verletzten in die Lage versetzen, sich Erleichterungen und andere Annehmlichkeiten anstelle derer zu verschaffen, deren Genuss ihm durch die Verletzung unmöglich gemacht wurde. Bemessungsgrundlagen sind Ausmaß und Schwere der psychischen und physischen Störungen, also das Maß der Lebensbeeinträchtigung, die Größe, Dauer und Heftigkeit der Schmerzen, Leiden und etwaigen Entstellungen, die Dauer der stationären Behandlung und der Arbeitsunfähigkeit sowie die etwaige Fraglichkeit der endgültigen Heilung. Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze erscheint ein Schmerzensgeld in Höhe von 1.500,-- EUR ausreichend, das sich auf Grund des Mitverschuldens der Klägerin auf 1.000,-- EUR reduziert.
Die Klägerin hat ausweislich der schriftlichen Aussage des Arztes für Allgemeinmedizin ... einen Außenbandriss am linken Sprunggelenk erlitten. Sie musste für 6 Wochen eine Schiene tragen; das Bein war bis zur Wade geschient. Anschließend wurde die Schiene über einen Zeitraum von 5 Wochen zeitweise durch eine Bandage ersetzt. Im November 2002 wurde sie zweimal wöchentlich mit Ultraschall behandelt. Diesen Beeinträchtigungen ist unter Berücksichtigung des Mitverschuldens der Klägerin mit einem Schmerzensgeld in Höhe von 1.000,-- EUR hinreichend Rechnung getragen.