Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Urt. v. 11.01.1995, Az.: 5 Sa 1471/94
Anspruch auf erhöhte Ausbildungsvergütung bei verkürzter Ausbildungszeit; Vergangenheitsbezogene Bemessung der Vergütung
Bibliographie
- Gericht
- LAG Niedersachsen
- Datum
- 11.01.1995
- Aktenzeichen
- 5 Sa 1471/94
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1995, 17390
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LAGNI:1995:0111.5SA1471.94.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- ArbG Lüneburg - 22.06.1994 - AZ: 1 Ca 480/94
Rechtsgrundlagen
- § 11 Nr. 2 MTV Banken
- § 29 Abs. 2 BBiG
Fundstellen
- ArbuR 1995, 193
- AuR 1995, 193-194 (amtl. Leitsatz)
Amtlicher Leitsatz
Wird gemäß § 29 Abs 2 BBiG die Ausbildungszeit im Laufe der Ausbildung auf weniger als 3 Jahre verkürzt, so kann der aus § 11 Nr 2 des Manteltarifvertrages für die Volksbanken und Raiffeisenbanken sowie die genossenschaftlichen Zentralbanken folgenden Anspruch auf Zahlung der für das 2 oder 3 Ausbildungsjahr zu gewährenden Ausbildungsvergütung auch rückwirkend entstehen.
In dem Rechtsstreit
hat die 5. Kammer des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen
unter Mitwirkung des Vorsitzenden Richters am Landesarbeitsgericht ... sowie
der ehrenamtlichen Richter ...
aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 11. Januar 1995
fürRecht erkannt:
Tenor:
Auf die Berufung wird das Urteil des Arbeitsgerichts Lüneburg vom 22. Juni 1994 - 1 Ca 480/94 - geändert.
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 570,00 DM brutto nebst 4 % Zinsen auf den sich daraus ergebenden Nettobetrag seit dem 6. April 1994 zu zahlen.
Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten darüber, ob bei einer Verkürzung der Ausbildungszeit auch für einen bereits vergangenen Zeitraum ein tarifvertraglicher Anspruch auf eine erhöhte Ausbildungsvergütung besteht.
Der Kläger war bei der Beklagten vom 1. August 1991 bis zum 31. Januar 1994 als Auszubildender zum Bankkaufmann beschäftigt. Der Berufsausbildungsvertrag vom 25. Juni 1991 (Fotokopie Bl. 5 d. A.) sah eine dreijährige Ausbildungszeit vor. Dem Kläger wurde jedoch auf seinen Antrag hin am 16. Juli 1992 eine Verkürzung der Ausbildungszeit auf zweieinhalb Jahre bewilligt.
Der Kläger erhielt bis zum 31. Juli 1992 die Vergütung für das erste Ausbildungsjahr, von August 1992 bis einschließlich Januar 1993 die Vergütung für das zweite Ausbildungsjahr und ab Februar 1993 bis zum Ende der Ausbildungszeit die Vergütung für das dritte Ausbildungsjahr.
Auf das Ausbildungsverhältnis findet der Manteltarifvertrag für die Volksbanken und Raiffeisenbanken sowie die genossenschaftlichen Zentralbanken (MTV) in der jeweils gültigen Fassung Anwendung. § 11 Nr. 2 dieses Manteltarifvertrages lautet:
"Wird die Ausbildungszeit auf weniger als 3 Jahre verkürzt, so gilt für die Höhe der Vergütungen der Zeitraum, um den die Ausbildungszeit verkürzt wird, als abgeleistete Ausbildungszeit."
Der Kläger meint, ihm stehe aufgrund dieser Vorschrift die Vergütung für das zweite Ausbildungsjahr schon nach Ablauf des ersten Ausbildungsjahres zu, und verlangt die Nachzahlung des Differenzbetrages zwischen den Vergütungen für das erste und zweite Ausbildungsjahr für die Zeit vom 1. Februar bis zum 31. Juli 1992 in der unstreitigen Höhe von 570,00 DM.
Die Beklagte ist der Ansicht, daß aus § 11 Nr. 2 MTV kein Anspruch auf eine höhere Vergütung für bereits vergangene Monate folge. Der Kläger sei bereits nach eineinhalb Jahren in den Genuß der tarifvertraglichen Vergünstigung gekommen, da er ab diesem Zeitpunkt schon die Vergütung für das dritte Ausbildungsjahr bekommen habe.
Ohne diese Vergünstigung hätte er nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, das im Rahmen des § 29 Abs. 2 BBiG bei einer Ausbildungsverkürzung eine automatische Vorverlegung des höheren Vergütungsanspruchs verneine, nur in den letzten sechs Monaten die Vergütung für das dritte Ausbildungsjahr bekommen.
Zur Darstellung des Vorbringens der Parteien im ersten Rechtszug, sowie der tatsächlichen und rechtlichen Würdigung, die dieses Vorbringen dort erfahren hat, wird auf das Urteil des Arbeitsgerichts Lüneburg vom 22. Juni 1994 (Bl. 20 bis 23 d. A.) Bezug genommen.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen, dem Kläger die Kosten des Rechtsstreits auferlegt und den Streitwert auf 570,00 DM festgesetzt.
Zur Begründung seiner Entscheidung hat das Arbeitsgericht u. a. ausgeführt, § 11 Nr. 2 MTV wirke sich nicht rückwirkend auf die Vergütung des Auszubildenden aus. Die vom Kläger gewollte Auslegungsalternative finde im Wortlaut des Tarifvertrages nicht einmal ansatzweise ihre Stütze. Eine rückwirkende Anhebung der Vergütung sei eine Ausnahme, für deren Vorhandensein besondere Anhaltspunkte vorliegen müßten. Auch ein Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz sei bei einer solchen Regelung nicht zu erkennen.
Gegen dieses Urteil, das ihm am 20. Juli 1994 zugestellt worden ist, hat der Kläger mit einem am 22. August 1994 beim Landesarbeitsgericht eingegangenen Schriftsatz seines Prozeßbevollmächtigten Berufung eingelegt. Nach gewährter Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis zum 24. Oktober 1994 hat der Kläger die Berufung mit einem am 21. Oktober 1994 beim Landesarbeitsgericht eingegangenen Schriftsatz seines Prozeßbevollmächtigten begründet.
Der Kläger meint, daß die Bemessung der Vergütung vergangenheitsbezogen zu erfolgen habe, da die verkürzte Ausbildungszeit als bereits abgeleistet gelten solle. Bei einer Vergütung ab Rechtsverbindlichkeit der beantragten Verkürzung würde entgegen dem Wortlaut des § 11 Nr. 2 MTV lediglich der gegenwärtige Zustand berücksichtigt.
Außerdem hätte bei dieser Auslegung der Arbeitgeber durch die Abgabe einer Stellungnahme zum Verkürzungsantrag des Auszubildenden die Möglichkeit, die Rechtsverbindlichkeit der Ausbildungsverkürzung und somit eine entsprechende Höhervergütung zu verzögern. Im Einzelfall könne das dazu führen, daß die Verkürzung erst sechs Monate vor Ende der Ausbildung bewilligt und die Vergütung für das dritte Ausbildungsjahr lediglich ein halbes Jahr gezahlt werden würde. Die Verkürzung der Ausbildung habe in diesem Fall keine finanziellen Auswirkungen zur Folge.
Der Kläger ist weiterhin der Ansicht, daß der Sinn der Ausbildungsverkürzung eine Honorierung von bereits vor der Ausbildung erworbenen Kenntnissen und Fähigkeiten sei. Ob sich das Vorhandensein solcher Kenntnisse erst im Laufe der Ausbildung herausstelle oder schon bei deren Beginn bekannt sei, dürfe bei gleichlangen Ausbildungsverhältnissen keine unterschiedlichen finanziellen Auswirkungen haben.
Er meint, daß eine Ungleichbehandlung und der Einfluß willkürlicher Faktoren bezüglich der Höhe der Ausbildungsvergütung nur vermieden werden könnten, wenn der Zeitraum, um den die Ausbildung verkürzt werde, der tatsächlich abgeleisteten Ausbildungszeit zur Berechnung der nachzufordernden und zukünftigen Vergütung vorangestellt werde.
Zur Darstellung aller Einzelheiten seines Vorbringens wird auf die Berufungsbegründung des Klägers vom 21. Oktober 1994 (Bl. 34 ff. d. A.) Bezug genommen.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Arbeitsgerichts Lüneburg vom 22. Juni 1994 zu ändern und die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 570,00 DM brutto nebst 4 % Zinsen auf den sich daraus ergebenden Nettobetrag seit dem 6. April 1994 zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigt das angefochtene Urteil als der Rechtslage entsprechend.
Nur bei einer Erhöhung der Vergütung ab dem Zeitpunkt der rechtswirksamen Verkürzung sei der Gedanke des Vertrauensschutzes gewahrt, da sich der Arbeitgeber erst von diesem Zeitpunkt an auf die Zahlung einer höheren Vergütung einstellen müsse.
Die Beklagte meint außerdem, es sei ein Unterschied, ob von vornherein eine kürzere Ausbildungsdauer vereinbart worden sei oder sich die Voraussetzungen für eine Verkürzung der Ausbildung erst während dieser ergäben, so daß eine Gleichbehandlung auch bei gleicher Länge der Ausbildung nicht geboten sei.
Zur Darstellung er Einzelheiten ihres Vorbringens wird auf die Berufungserwiderung vom 23. November 1994 (Bl. 43 f. d. A.) Bezug genommen.
Gründe
Die vom Arbeitsgericht zugelassene Berufung ist frist- und formgerecht eingelegt und begründet worden. Sie ist damit zulässig.
Die Berufung ist auch begründet. Der Kläger hat bereits ab 1. Februar 1992 Anspruch auf die von der Beklagten im zweiten Ausbildungsjahr geschuldete Vergütung, so daß die Beklagte verpflichtet ist, für sechs Monate die Vergütungsdifferenz in Höhe von monatlich 95,00 DM, insgesamt also 570,00 DM, an den Kläger zu zahlen. Der Anspruch ergibt sich aus § 11 Nr. 2 MTV. In dieser Bestimmung haben die Tarifvertragsparteien festgelegt, daß dann, wenn die Ausbildungszeit auf weniger als drei Jahre verkürzt wird, für die Höhe der Vergütungen der Zeitraum, um den die Ausbildungszeit verkürzt wird, als abgeleistete Ausbildungszeit gilt. Das bedeutet im Falle des Klägers, daß für die Ermittlung der ihm zustehenden Ausbildungsvergütung von einem fiktiven Ausbildungsbeginn am 1. Februar 1991 ausgegangen werden muß. Der Zeitraum, für den die Ausbildungsvergütung für das erste Ausbildungsjahr gezahlt werden muß, endet deswegen bereits am 31. Januar 1992. "Für die Höhe der Vergütungen" hat das zweite Ausbildungsjahr am 1. Februar 1992, das dritte Ausbildungsjahr am 1. Februar 1993 begonnen.
Die Meinung der Beklagten, sie schulde die Vergütung für das zweite Ausbildungsjahr erst ab 1. August 1992 für sechs Monate und sodann ab 1. Februar 1993 die Ausbildungsvergütung für das dritte Ausbildungsjahr, ist unzutreffend. Hätten die Tarifvertragsparteien ein solches Ergebnis gewollt, so hätten sie in§ 11 Nr. 2 MTV bestimmen müssen, daß für die Höhe der nach der Entscheidung über die Abkürzung der Ausbildungszeit zu zahlenden Vergütungen der Zeitraum, um den die Ausbildungszeit verkürzt wird, als abgeleistete Ausbildungszeit gilt.
Wäre die Auffassung der Beklagten richtig, würde§ 11 Nr. 2 MTV leerlaufen, wenn die Entscheidung über die Verkürzung der Ausbildung erst nach oder bei Ablauf des zweiten Ausbildungsjahres getroffen wird. Das kann nicht als von den Tarifvertragsparteien gewollt angesehen werden, denn ersichtlich wollten sie mit der Bestimmung des § 11 Nr. 2 MTV den Auszubildenden, deren Ausbildungszeit verkürzt wird, eine höhere Vergütung gewährleisten, als sie sich ohne die tarifvertragliche Regelung ergeben würde. Dieses Ziel - und eine Gleichbehandlung der Auszubildenden - wird nur erreicht, wenn der Anspruch auf die erhöhte Ausbildungsvergütung nicht auf die Zeit nach der Entscheidung über die Abkürzung der Ausbildungszeit beschränkt wird. Insofern unterscheidet sich die hier geltende tarifvertragliche Regelung signifikant von einer Bestimmung, wie sie sich etwa in § 3 Nr. 2 Abs. 2 des Tarifvertrages für das private Versicherungsgewerbe findet ("wird bei Ausbildungsbeginn die Ausbildungszeit verkürzt, so gilt bei der Berechnung der Ausbildungsvergütung der Zeitraum, um den die Ausbildungszeit verkürzt wird, als abgeleistete Ausbildungszeit.").
Irgendwelche Bedenken gegen die Wirksamkeit von § 11 Nr. 2 MTV sind nicht ersichtlich. Insbesondere widerspricht die Bestimmung nicht "dem Grundgedanken des Vertrauensschutzes". Der Ausbilder kann sich von vornherein auf die Möglichkeit der Abkürzung der Ausbildungszeit und die sich daraus ergebenden Konsequenzen für die Ausbildungsvergütung einstellen. Schließlich hat das Bundesarbeitsgericht in seinem Urteil vom 8. Dezember 1982 (AP Nr. 1 zu § 29 BBiG) die Möglichkeit des Bestehens einer tarifvertraglichen Regelung als selbstverständlich angesehen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 46 Abs. 2 ArbGG i. V. m. § 91 Abs. 1 ZPO.
Die Revision ist gemäß § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG zugelassen worden.
Streitwertbeschluss:
Der Streitwert beträgt unverändert 570,00 DM.