Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Urt. v. 18.10.1995, Az.: 5 Sa 1247/95

Beendigung eines bestehenden Arbeitsverhältnisses durch Kündigung; Pflicht zur Ausübung einer Tätigkeit trotz bestehender gesundheitlicher Probleme; Zumutbarkeit der Organisation des Personaleinsatzes zur Schaffung einer vertragsgemäßen Arbeitsmöglichkeit für einen kranken Arbeitnehmer

Bibliographie

Gericht
LAG Niedersachsen
Datum
18.10.1995
Aktenzeichen
5 Sa 1247/95
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1995, 10882
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LAGNI:1995:1018.5SA1247.95.0A

Verfahrensgang

vorgehend
ArbG Hameln 20.04.1995 - 1 Ca 103/95
nachfolgend
LAG Hannover 18.10.1995 - 5 Sa 1247/95
BAG - 29.01.1997 - AZ: 2 AZR 9/96

Verfahrensgegenstand

Feststellung

Prozessführer

...

Prozessgegner

...

In dem Rechtsstreit
hat die 5. Kammer des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen
unter Mitwirkung des Vorsitzenden Richters am Landesarbeitsgericht sowie
der ehrenamtlichen Richter
aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 18. Oktober 1995
für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Hameln vom 20. April 1995 - 1 Ca 103/95 - wird auf Kosten der Beklagten zurückgewiesen.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

1

Die Parteien streiten darüber, ob ihr seit dem 16. September 1991 bestehendes Arbeitsverhältnis durch eine Kündigung der Beklagten vom 21. Dezember 1994 mit Ablauf des 31. Januar 1995 beendet worden ist.

2

Der Kläger war zunächst im Versand und sodann aufgrund eines den ursprünglichen Arbeitsvertrag ablösenden Arbeitsvertrages vom 23. Juli 1993 (Fotokopie Bl. 11 f. d. A.) ab 2. August 1993 als Mitarbeiter im Stahlbau tätig. In § 1 des Arbeitsvertrages heißt es, der Kläger sei nach näherer Anweisung verpflichtet, alle verkehrsüblichen Arbeiten im Stahlbau zu leisten. In dringenden Fällen könne auch eine Beschäftigung mit anderen Arbeiten bzw. Versetzung in eine andere Abteilung erfolgen.

3

Ab 28. Juni 1994 war der Kläger arbeitsunfähig krank. Sein Arzt empfahl wegen asthma bronchiale einen anderen Arbeitsplatz (Fotokopie Bl. 29 d. A.). Eine Überprüfung durch den betriebsärztlichen Dienst ergab, daß Personen mit Atmungsproblemen oder allergischen Reaktionen nicht mit Woeralit-Pulverlack W 808 arbeiten dürfen. In der Stellungnahme des betriebsärztlichen Dienstes vom 11. November 1994 (Fotokopie Bl. 31 d. A.) heißt es in bezug auf den Kläger: "Diese Aussage schließt eine Weiterbeschäftigung des Mitarbeiters an seinem bisherigen Arbeitsplatz aus, da von seinem behandelnden Lungenfacharzt eine bronchiale Hyperreagibilität als Grundvoraussetzung des asthma bronchiale eindeutig festgestellt wurde".

4

Nach Ende der Arbeitsunfähigkeit des Klägers am 21. November 1994 wurde er in der Stuhlendverpackung eingesetzt. Vom 30. November 1994 an war er erneut arbeitsunfähig krank. In dem Kündigungsschreiben vom 21. Dezember 1994 (Fotokopie Bl. 4 d. A.) heißt es:

"Die Kündigung erfolgt aus personenbedingten Gründen:

Aus gesundheitlichen Gründen dürfen Sie Ihre vertraglich geschuldete Leistung nicht mehr ausüben.

Nach gründlicher Prüfung sehen wir keine Möglichkeit. Ihnen einen leidensgerechten Arbeitsplatz zur Verfügung zu stellen."

5

Zur Darstellung des Vorbringens der Parteien im ersten Rechtszug sowie der tatsächlichen und rechtlichen Würdigung, die dieses Vorbringen dort erfahren hat, wird auf das Urteil des Arbeitsgerichts Hameln vom 20. April 1995 (Bl. 54 bis 58 d. A.) Bezug genommen.

6

Das Arbeitsgericht hat festgestellt, daß das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung im Schreiben vom 21. Dezember 1994 nicht aufgelöst worden ist, sondern über den 31. Januar 1995 hinaus fortbesteht. Es hat der Beklagten die Kosten des Rechtsstreits auferlegt und den Wert des Streitgegenstandes auf 10.470,00 DM festgesetzt.

7

Zur Begründung seiner Entscheidung hat das Arbeitsgericht ausgeführt, die Kündigung sei nicht durch Gründe in der Person des Klägers bedingt. Sein Gesundheitszustand, der den weiteren Einsatz des Klägers auf dem Arbeitsplatz im Stahlbau ausschließe, mache die Kündigung nicht erforderlich. Die Beklagte könne den Kläger auf einen anderen Arbeitsplatz versetzen. Dort wäre die Weiterarbeit nicht aus gesundheitlichen Gründen ausgeschlossen. Nach dem Ergebnis, das der Betriebsarzt bei seinen Ermittlungen erzielt habe, habe die Arbeitsunfähigkeit des Klägers auf dem Umgang mit Pulverlack beruht, mit dem der Kläger auf dem Arbeitsplatz im Stahlbau in Kontakt gekommen sei. Die Einschränkung der Arbeitsfähigkeit des Klägers sei also arbeitsplatzbezogen gewesen. Dafür, daß er auch auf einem anderen Arbeitsplatz aus gesundheitlichen Gründen nicht arbeiten könnte, gebe es keine Anhaltspunkte.

8

Entgegen der Ansicht der Beklagten komme es nicht darauf an, ob ein anderer Arbeitsplatz frei gewesen sei. Das sei anders, wenn aus dringenden betrieblichen Gründen, nämlich wegen Wegfalls eines Arbeitsplatzes, gekündigt werden solle. Dann stehe die Möglichkeit zur Weiterbeschäftigung auf einem anderen freien Arbeitsplatz der Rechtfertigung der Kündigung entgegen. Dieser Gedanke sei jedoch nicht übertragbar auf den Fall, daß ein Arbeitnehmer aus Gründen, die in seiner Person liegen, auf einem bestimmten Arbeitsplatz nicht weiter arbeiten könne. Dann komme nämlich - anders als beim Wegfall eines Arbeitsplatzes - ein Tausch in Betracht. Der Arbeitnehmer, der auf einem bestimmten Arbeitsplatz nicht mehr arbeiten könne, könne auf einen anderen Arbeitsplatz versetzt werden, und der bisherige Inhaber dieses Arbeitsplatz könne umgekehrt auf den anderen Arbeitsplatz, der ihm keine gesundheitlichen Probleme bereite, versetzt werden. Daß ein solcher Tausch nicht möglich sei, habe die Beklagte nicht dargelegt.

9

Es sei unerheblich, ob die Beklagte eine Versetzung des Klägers im Rahmen des Arbeitsvertrages der Parteien einseitig vornehmen könne oder ob es dazu einer Änderungsvereinbarung der Parteien bedürfe. Es spreche alles dafür, daß der Kläger zu einer Änderungsvereinbarung bereit sei. Erst wenn die Beklagte ein Änderungsangebot gemacht und der Kläger dies abgelehnt hätte, käme es auf die aufgeworfene Frage an.

10

Gegen dieses Urteil, das ihr am 1. Juni 1995 zugestellt worden ist, hat die Beklagte mit einem am 29. Juni 1995 beim Landesarbeitsgericht eingegangenen Schriftsatz ihrer Prozeßbevollmächtigten Berufung eingelegt, die sie mit einem am 26. Juli 1995 beim Landesarbeitsgericht eingegangenen Schriftsatz ihrer Prozeßbevollmächtigten begründet hat.

11

Die Beklagte rügt, das Arbeitsgericht habe verkannt, daß die Möglichkeit der Weiterbeschäftigung das Vorhandensein eines anderen freien Arbeitsplatzes voraussetze. Als frei seien nur solche Arbeitsplätze anzusehen, die zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung unbesetzt seien oder die mit hinreichender Sicherheit bis zum Ablauf der Kündigungsfrist frei würden. Die Beklagte habe unter Beweisantritt dargelegt, daß ein derartiger freier Arbeitsplatz für den Kläger nicht zur Verfügung gestanden habe und daher eine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit, die zur Sozialwidrigkeit der ausgesprochenen Kündigung führen könnte, nicht gegeben gewesen sei. Dabei habe sich die Beklagte auch substantiiert mit dem Vorbringen des Klägers, insbesondere mit dessen Vorschlägen hinsichtlich der Beschäftigung auf "gesundheitsverträglichen Arbeitsplätzen", auseinandergesetzt.

12

Soweit das Arbeitsgericht ohne Beweiserhebung zur Feststellung der Sozialwidrigkeit gelange, beruhe dies auf einer abwegigen Rechtskonstruktion, die den Arbeitgeber zu einem Arbeitsplatztausch verpflichte. Dabei lasse das Arbeitsgericht die Rahmenbedingungen dieses Arbeitsplatztausches offen. Solle der Arbeitgeber nach Auffassung des Arbeitsgerichts per Aushang unter Fristsetzung alle mit dem Kläger vergleichbaren Arbeitnehmer auffordern, ihren Arbeitsplatz für den Kläger freiwillig zur Verfügung zu stellen, oder schwebe dem Arbeitsgericht Hameln möglicherweise die Änderungskündigung des Arbeitsverhältnisses eines "gesunden" Arbeitnehmers vor? Wenn dies zu bejahen sei, sei möglicherweise bei der Auswahl nach sozialen Kriterien zu differenzieren, so daß der sozial weniger schutzbedürftige eher seinen Arbeitsplatz abgeben müsse als der sozial schützenswertere? Da die Beantwortung dieser Fragen nur die Unsinnigkeit der Argumentation des Arbeitsgerichts deutlich machen würde, werde hierzu in den Entscheidungsgründen nicht Stellung genommen, sondern lediglich ins Blaue hinein spekuliert; es spreche alles dafür, daß der Kläger zu einer Änderungsvereinbarung bereit wäre.

13

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Arbeitsgerichts Hameln vom 20. April 1995 zu ändern und die Klage abzuweisen.

14

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

15

Er verteidigt das angefochtene Urteil als der Rechtslage entsprechend und führt u.a. aus, die Beklagte habe im Hinblick auf die Dauer des Beschäftigungsverhältnisses und die Lebensverhältnisse des Klägers ihre Fürsorgepflicht verletzt, wenn sie ohne objektive Überprüfung der anderweitigen, gesundheitsverträglichen Verwendung des Klägers in ihrem Betrieb die Kündigung ausgesprochen habe. Zur Darstellung weiterer Einzelheiten seines Vorbringens wird auf die Berufungserwiderung vom 9. August 1995 (Bl. 71 f. d. A.) und auf den Schriftsatz vom 5. Oktober 1995 nebst Anlagen (Bl. 87 bis 95 d. A.) Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

16

Die aufgrund der Höhe des Wertes des Beschwerdegegenstandes statthafte Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Sie ist damit zulässig.

17

Die Berufung ist jedoch nicht begründet. Die Kammer tritt der Entscheidung des Arbeitsgerichts im Ergebnis bei. Die Meinung der Beklagten, das vom Arbeitsgericht gefundene Ergebnis sei mit der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts (AP Nr. 1 zu § 1 KSchG 1969 Umschulung) nicht vereinbar, trifft nicht zu. Zutreffend weist die Beklagte zwar darauf hin, daß eine Kündigung sozial gerechtfertigt sein könne, sofern der Arbeitnehmer auf Dauer die geschuldete Leistung nicht mehr erbringen könne. Bereits diese Voraussetzung liegt nicht vor. Nach § 1 des Vertrages vom 23. Juli 1993 ist der Kläger verpflichtet, alle verkehrsüblichen Arbeiten im Stahlbau zu leisten. In dringenden Fällen kann auch eine Beschäftigung mit anderen Arbeiten bzw. Versetzung in eine andere Abteilung erfolgen. Die Arbeitsverpflichtung des Klägers ist deswegen nicht auf eine Tätigkeit im Stahlbau beschränkt. In der Tat war der Kläger denn auch, als ihm die Kündigung zuging, in der Stuhlendverpackung eingesetzt, also mit einer Tätigkeit befaßt, die er ohne gesundheitliche Probleme ausüben konnte. Der Bestimmung des § 1 des Vertrages vom 23. Juli 1993 läßt sich nicht entnehmen, daß mit "dringenden Fällen" nur betriebliche Notwendigkeiten gemeint sein sollten. Ein dringender Fall kann auch dann vorliegen, wenn aus Gründen des Gesundheitsschutzes bestimmte Tätigkeiten nicht mehr ausgeübt werden dürfen, während die Beschäftigung mit anderen Tätigkeiten, auf deren Ausübung sich die vertragliche Verpflichtung ebenfalls erstreckt, weiterhin möglich ist.

18

In einem derartigen Fall geht es - anders als in der Entscheidung BAG AP Nr. 1 zu § 1 KSchG 1969 Umschulung - nicht darum, ob ein Arbeitnehmer, der die vertraglich geschuldete Tätigkeit aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr erbringen kann, nach Umschulungsmaßnahmen auf einem freien anderen Arbeitsplatz beschäftigt werden kann. Vielmehr geht es darum, ob es dem Arbeitgeber zuzumuten ist, den Personaleinsatz so zu organisieren, daß ein immer noch vertragsgemäßer Einsatz eines Arbeitnehmers, der mit bestimmten Arbeiten nicht beschäftigt werden kann, möglich bleibt. Die Kammer teilt die Auffassung des Arbeitsgerichts, daß der Arbeitgeber gegebenenfalls durch Versetzungen oder Umsetzungen die Erfüllung seiner vertraglichen Verpflichtungen sicherstellen kann. Dieser Auffassung sieht sich die Kammer bestätigt durch den Hinweis des Bundesarbeitsgerichts (a.a.O. unter B II 2 b), daß "Bildungsmaßnahmen zum Zwecke einer späteren anderweitigen Beschäftigung ... stärker in die Rechtsstellung des Arbeitgebers" eingreifen "als umgehend zu vollziehende Umsetzungen oder Versetzungen".

19

Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 ZPO. Der Streitwert ist unverändert.

20

Die Revision wird wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache gemäß § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG zugelassen.