Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Urt. v. 08.09.1995, Az.: 12 Sa 1160/93
Wirksamkeit einer erklärten fristlosen Kündigung und diesbzgl. Umfang der Mitteilungspflicht des Arbeitgebers bei einer Betriebsratsanhörung
Bibliographie
- Gericht
- LAG Niedersachsen
- Datum
- 08.09.1995
- Aktenzeichen
- 12 Sa 1160/93
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1995, 10871
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LAGNI:1995:0908.12SA1160.93.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- ArbG Emden - AZ: 2 Ca 1078/92
- nachfolgend
- BAG - 27.02.1997 - AZ: 2 AZR 37/96
Rechtsgrundlage
- § 102 BetrVG
Prozessführer
...
Prozessgegner
...
Amtlicher Leitsatz
Zum Umfang der Mitteilungspflicht des Arbeitgebers bei der Betriebsratsanhörung nach § 102 BetrVG.
In dem Rechtsstreit
hat die 12. Kammer des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen
auf die mündliche Verhandlung vom 8. September 1995
durch
den Vorsitzenden Richter am Landesarbeitsgericht und
die ehrenamtlichen Richter
für Recht erkannt:
Tenor:
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Emden vom 1. Juni 1993 - 2 Ca 1078/92 - wird kostenpflichtig zurückgewiesen.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Der verheiratete und einem Kind unterhaltspflichtige Kläger steht seit dem 17. Juli 1972 als kaufmännischer Angestellter in den Diensten der Beklagten, welche ein Bauunternehmen betreibt. Er ist gemäß § 2 Abs. 1 Schwerbehindertengesetz den Schwerbehinderten gleichgestellt und wurde zuletzt im Bereich Verwaltung/Werkstatt als Einkäufer beschäftigt mit einem monatlichen Durchschnittseinkommen, welches nach seinen Angaben 5.416,67 DM beträgt, während es sich nach Angaben der Beklagten lediglich auf 4.890,00 DM beläuft.
Die Parteien streiten im vorliegenden Verfahren um die Wirksamkeit einer gegenüber dem Kläger erklärten fristlosen Kündigung der Beklagten vom 22. Dezember 1992 - zugegangen am 23. Dezember 1992 - sowie über die Weiterbeschäftigung des Klägers und einen Vergütungsanspruch.
Der Kläger hat sich gegen die Kündigung mit seiner am 29. Dezember 1992 beim Arbeitsgericht Emden eingegangenen Klage gewehrt und die Auffassung vertreten, die außerordentliche Kündigung sei unwirksam. Es fehle insbesondere am wichtigen Grund. Auch sei der Betriebsrat nicht ordnungsgemäß gehört worden.
Die Beklagte habe im übrigen unberechtigterweise von seinen Dezemberbezügen 1.305,30 DM abgezogen.
Der Kläger hat beantragt,
- 1.
festzustellen, daß das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 22.12.1992 - zugestellt am 23.12.1992 - nicht aufgelöst worden ist;
- 2.
die Beklagte zu verurteilen, ihn zu unveränderten Bedingungen als kaufmännischen Angestellten weiter zu beschäftigen:
- 3.
die Beklagte zu verurteilen, an ihn 1.305,30 DM netto zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hat geltend gemacht, die außerordentliche Kündigung sei gerechtfertigt, weil der Kläger sich auf ihre Kosten und ohne ihr Wissen unberechtigt mehrere Kubikmeter Kaminholz verschafft habe. Der Betriebsrat sei zu der beabsichtigten Kündigung unter Schilderung des gesamten Kündigungssachverhaltes angehört worden.
Wegen der näheren Einzelheiten des erstinstanzlichen Sach- und Streitstandes wird gemäß § 543 Abs. 2 ZPO auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils (Bl. 85 bis 91 d.A.) sowie die vor dem Arbeitsgericht gewechselten Schriftsätze der Parteien nebst deren Anlagen verwiesen.
Das Arbeitsgericht Emden hat nach Beweisaufnahme (vgl. insoweit die erstinstanzliche Sitzungsniederschrift vom 1. Juni 1993 - Bl. 75 bis 81 d.A. -) durch das am 1. Juni 1993 verkündete, hiermit in Bezug genommene Urteil (Bl. 85 bis 99 d.A.) der Klage stattgegeben.
Gegen das ihr am 25. Juni 1993 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 16. Juli 1993 Berufung eingelegt und diese am 12. August 1993 begründet.
Die Beklagte macht geltend, das Arbeitsgericht habe das Verhalten des Klägers im Rahmen einer unzutreffenden Beweiswürdigung für gerechtfertigt gehalten. Sie habe vielmehr zu Recht den Kläger fristlos entlassen, weil dieser unter Mißbrauch seiner Stellung als Einkäufer und unter Umgehung ihrer Kontrollmechanismen und Täuschung der Angestellten ... Kaminholz für sich bestellt, fehlfaktoriert und nicht bezahlt habe.
Schließlich habe das Arbeitsgericht auch übersehen, daß im hochsensiblen Bereich des Einkaufs schon der naheliegende Verdacht der Untreue oder des Betruges den Arbeitgeber zur Kündigung berechtige.
Die Beklagte beantragt,
unter Aufhebung des arbeitsgerichtlichen Urteils 2 Ca 1078/92 - Arbeitsgericht Emden - den Kläger mit der Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung kostenpflichtig zurückzuweisen.
Er verteidigt das angefochtene Urteil und meint im übrigen weiterhin, der Betriebsrat sei nicht ordnungsgemäß angehört worden.
Wegen der Einzelheiten des zweitinstanzlichen Vorbringens der Parteien wird auf die zwischen ihnen vor dem Berufungsgericht gewechselten Schriftsätze nebst deren Anlagen Bezug genommen.
Die Kammer hat hinsichtlich der Anhörung des Betriebsrats zur umstrittenen Kündigung Beweis erhoben gemäß Beschluß vom 4. September 1995 (Bl. 304 bis 306 d.A.) durch Vernehmung der Zeugen ... Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Sitzungsniederschrift vom 8. September 1995 (Bl. 313 bis 321 d.A.) verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, mithin zulässig. In der Sache hat sie keinen Erfolg. Das Arbeitsgericht hat den Rechtsstreit im Ergebnis zutreffend entschieden.
Ob die Kündigung vom 22. Dezember 1992 den Anforderungen des § 626 Abs. 1 BGB nicht genügt, wie das Arbeitsgericht angenommen hat, kann dahinstehen, denn sie ist bereits wegen unterlassener ordnungsgemäßer Anhörung des Betriebsrats vor ihrem Ausspruch unwirksam, § 102 BetrVG. Die Kammer geht nach dem Ergebnis der in der Berufungsverhandlung durchgeführten Beweisaufnahme davon aus, daß der bei der Beklagten bestehende Betriebsrat fehlerhaft vor Ausspruch der Kündigung angehört worden ist.
Eine Kündigung ist nach § 102 Abs. 1 Satz 3 BetrVG nicht nur dann unwirksam, wenn der Arbeitgeber gekündigt hat, ohne den Betriebsrat zuvor überhaupt beteiligt zu haben, sondern auch dann, wenn er seiner Unterrichtungspflicht nach § 102 Abs. 1 BetrVG nicht richtig, insbesondere nicht ausführlich genug nachkommt (vgl. etwa BAG NZA 95, 672 ff. [BAG 26.01.1995 - 2 AZR 386/94] sowie NZA 95, 363 ff.; Feichtinger, Die Betriebsratsanhörung bei Kündigung, 1994, Randnr. 80; Stahlhacke/Preis, Kündigung und Kündigungsschutz im Arbeitsverhältnis, 5. Aufl. 1991, Randnrn. 267, 268). Der Arbeitgeber ist verpflichtet, die Gründe für seine Kündigungsabsicht derart mitzuteilen, daß er dem Betriebsrat eine nähere Umschreibung des für die Kündigung maßgeblichen Sachverhalts gibt. Diese Kennzeichnung des Sachverhalts muß so genau und umfassend sein, daß der Betriebsrat ohne zusätzliche eigene Nachforschungen in der Lage ist, selbst die Stichhaltigkeit der Kündigungsgründe zu prüfen und sich ein Bild zu machen. Da die Betriebsratsanhörung nach § 102 BetrVG jedoch nicht darauf abzielt, die Wirksamkeit der beabsichtigten Kündigung zuüberprüfen, sondern sich darauf beschränkt, im Vorfeld der Kündigung auf die Willensbildung des Arbeitgebers Einfluß zu nehmen, sind an die Mitteilungspflicht des Arbeitgebers bei der Anhörung nicht dieselben Anforderungen zu stellen, wie an die Darlegungslast im Kündigungsschutzprozeß. Das Bundesarbeitsgericht (vgl. NZA 95, 363 ff. [BAG 22.09.1994 - 2 AZR 31/94] m.w.N.) leitet daher aus § 102 BetrVG den Grundsatz der sogenannten "subjektiven Determinierung" ab, demzufolge der Betriebsrat immer dann ordnungsgemäß angehört worden ist, wenn der Arbeitgeber ihm die aus seiner Sicht tragenden Umstände unterbreitet hat. Teilt der Arbeitgeber dem Betriebsrat objektiv kündigungsrechtlich erhebliche Tatsachen nicht mit, weil er die Kündigung darauf nicht stützen will oder weil er sie bei seinem Kündigungsentschluß für unerheblich oder entbehrlich hält, dann ist die Anhörung selbst ordnungsgemäß. Um keine Frage der subjektiven Determinierung handelt es sich jedoch, wenn der Arbeitgeber dem Betriebsrat den Sachverhalt bewußt irreführend schildert, damit sich die Kündigungsgründe als möglichst überzeugend darstellen. Eine bewußt und gewollt unrichtige oder unvollständige Mitteilung der für den Kündigungsentschluß des Arbeitgebers maßgebenden Kündigungsgründe ist wie eine Nichtinformation des Betriebsrats zu behandeln. Der Arbeitgeber verletzt durch eine derartige Darstellung nicht nur die im Anhörungsverfahren geltende Pflicht zur vertrauensvollen Zusammenarbeit nach § 2 Abs. 1, 74 BetrVG, sondern er setzt den Betriebsrat auch außerstande, sich ein zutreffendes Bild von den Gründen für die Kündigung zu machen. Der Arbeitgeber muß dem Betriebsrat auch die den Arbeitnehmer entlastenden Tatsachen mitteilen, insbesondere soweit sie Gegenstand einer Stellungnahme des Arbeitnehmers zu den ihm zur Last gelegten Vorwürfen sind. Eine Darstellung, durch die der Arbeitgeber einseitig die Verdachtsmomente darstellt und ihm bekannte entlastende Tatsachen unterdrückt, vereitelt eine sachgemäße Beurteilung seitens des Betriebsrats. Der Arbeitgeber trägt schließlich die Darlegungs- und Beweislast für die nicht bewußte Irreführung, wenn die objektiven Daten mit der Information des Betriebsrats nicht übereinstimmen. Bestreitet der Arbeitnehmer die ordnungsgemäße Betriebsratsanhörung, so ist es Sache des Arbeitgebers, deren Richtigkeit und Vollständigkeit darzulegen (vgl. BAG NZA 95, 363 ff. [BAG 22.09.1994 - 2 AZR 31/94]; Feichtinger. a.a.O., Randnr. 105).
Nach vorstehenden Grundsätzen ist die Anhörung des Betriebsrats im Streitfall fehlerhaft, weil dem Betriebsrat Tatsachen vorenthalten worden sind, die für eine Würdigung des Sachverhalts und eine Stellungnahme zur Kündigung unerläßlich sind.
Wie die Beweisaufnahme ergeben hat, ist der Betriebsrat durch den Zeugen ... über den Kündigungssachverhalt (Unregelmäßigkeiten im Zusammenhang mit einer Kaminholzlieferung) informiert worden. Das Schreiben des Zeugen Janssen vom 11. Dezember 1992 (Fotokopie Bl. 29 d.A.) in dieser Angelegenheit ist dem Betriebsrat jedoch nicht bekanntgegeben worden. Dies war aber nach Auffassung der Kammer unerläßlich, denn das Schreiben stand in unmittelbarem Zusammenhang mit den Kündigungsgründen und war geeignet, den Kläger zu entlasten. Damit hat die Beklagte bei der Anhörung des Betriebsrats einen wesentlichen für die Beschlußfassung des Betriebsrats maßgeblichen Umstand verschwiegen. Die Beklagte hätte - da dem Betriebsrat auch Umstände mitzuteilen sind, die gegen den Ausspruch einer Kündigung sprechen können (vgl. BAG AP Nr. 29 zu§ 102 BetrVG 1972, NZA 95, 363 ff. [BAG 22.09.1994 - 2 AZR 31/94]) - um eine unvollständige und irreführende Darstellung des Kündigungssachverhalts zu vermeiden, den Brief des Zeugen ... dem Betriebsrat gegenüber auf jeden Fall erwähnen müssen. Indem sie diese entlastende Information verschwieg, ließ sie beim Betriebsrat ein falsches Bild entstehen, was entsprechend § 102 Abs. 1 Satz 3 BetrVG zur Unwirksamkeit der Kündigung führt. Daß nach der Bekundung des Zeugen ... das Schreiben des Herrn ... erst am 16. Dezember 1992 einging, während die Anhörung des Betriebsrats bereits am 7. Dezember 1992 erfolgte, führt zu keiner anderen Beurteilung. Die Beklagte hat - wegen der Einholung der Zustimmung der Hauptfürsorgestelle - die Kündigung erst mit Schreiben vom 22. Dezember 1992 erklärt. Angesichts der schwerwiegenden Vorwürfe gegen den Kläger hätte sie nach Auffassung der Kammer das den Kläger entlastende Schreiben dem Betriebsrat noch zur Kenntnis geben müssen, bevor sie die Kündigung aussprach, denn der Betriebsrat muß in einem derartigen Ausnahmefall einen aktuellen Kenntnisstand haben, um sich vor Erklärung der Kündigung ein umfassendes Bild über die Kündigungsgründe machen und ggf. noch Bedenken geltend machen zu können.
Soweit das Arbeitsgericht die Beklagte zur Weiterbeschäftigung und Zahlung verurteilt hat, folgt die Kammer den Ausführungen im angefochtenen Urteil und nimmt auf sie zwecks Vermeidung von Wiederholungen Bezug, zumal die Berufung keine neuen Angriffe enthält, sondern sich darauf beschränkt, den Vortrag erster Instanz in Bezug zu nehmen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.
Die Revision war gemäß § 72 II Nr. 1 ArbGG zuzulassen.